SV Verlag

SV Verlag mit Handy oder Tablet entdecken!
Die neue Generation der platzsparenden Bücher - klein, stark, leicht und fast unsichtbar! E-Books bei viereggtext! Wollen Sie Anspruchsvolles veröffentlichen oder suchen Sie Lesegenuss für zu Hause oder unterwegs? Verfolgen Sie mein Programm im SV Verlag, Sie werden immer etwas Passendes entdecken ... Weitere Informationen

.

.
Dichterhain, Bände 1 bis 4

.

.
Dichterhain, Bände 5 bis 8

Übersetze/Translate/Traduis/Tradurre/Traducir/переводить/çevirmek

Posts mit dem Label Wie war's bei werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Wie war's bei werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Donnerstag, 3. November 2016

Wie war's bei FAKEAR in der Alten Feuerwache Mannheim? (Enjoy Jazz 2016)

(c) Stefan Vieregg
Wenn man Fakir hört denkt man unweigerlich an die netten Nageluntergünde, die einem die vielgepriesene Nervenstimulation und Kreislaufzirkulation verschaffen sollen. Die Anwender kontemplativ auf absolute Körper- und Selbstbeherrschung ausgerichtet. FAKEAR ist doch etwas anderes, die Wortschöpfung erinnert noch am meisten an Fake und hear, denn alle Sounds werden gefaked, verändert und imitiert. Die elektronische Musik des Franzosen Théo Le Vigoureux, besagter Fakear, ist dennoch konzentriert und stimulierend für Nerven und Muskeln zugleich, weil jeder mitmachen und seinen Body bewegen will. Am 29. November 1991 in Caen (Normandie) geboren, ist der junge Komponist, Songwriter und Musiker ein konsequenter Anwender der elektronischen Musik für gute Stimmung. Es gibt ja viele "Elektroniker", die recht unhörbare Musikexperimente anbieten, Théo LV macht ein unterhaltsames Tanzvergnügen mit teils anspruchsvoller, teils simpler Ohrwurm-Musik draus.

Mit geschickter Beherrschung der Tasten und Sinn für dynamische Rhythmen entlockt er seiner MPC = Music Production Center, ehemals MIDI Production Center, so heißen die Kompositions- und Mischmaschinen vom Originalhersteller Akai, überzeugende Titel mit reichlich Effekten, umrahmt von passenden Lichtspielen. Extreme Bässe und tosendes Aufschäumen von Klangwelten werden mit leicht zu merkenden Melodien und Texten (Bababadubaba) gemischt - und schon dopst der/die Zuhörer/in als unermüdlicher Gummiball vor der Bühne. Letzten Samstag in der Mannheimer Feuerwache ein schönes Vergnügen für vielleicht 100 Leute, die einfach gerne in elektronischen Gewässern mit Esprit baden. Ein Ausflug ins jazztypische Experimentieren, ohne noch große Bezüge zum Jazz zu haben.

FAKEAR hat tatsächlich einen akademischen Musikhintergrund: Beide Eltern sind Professoren der Musik, die ihn ermunterten mehrere Instrumente zu lernen, darunter Saxophon, Gitarre, Violine, Klavier. Im Gymnasium gründete er eine Ska-Punk-Band mit fünf Freunden einschließlich Gabriel, der heute solo als SUPERPOZE unterwegs ist. Théo LV verließ die Gruppe 2013, um danach solo sieben EP und 2016 das erste Album "Animal" zu produzieren.

Für alle Interessenten: Er komponiert mit der Software REASON vom Entwickler Propellerhead Software für Windows und OS X, kompatibel mit der MIDI-Software. Die Einreihung in die multiplen Strömungen der EBM (Electronic Body Music), die schon in den 1970ern mit Can und Klaus Schulze, Kraftwerk und DAF, Jean Michel Jarre und anderen begann und recht bunt diversifizierte, fällt schwer. Elemente aus Synth-Pop, Indie, Rock, Electro, Wave, Beat, Techno, Trance paaren sich zu einer bemerkenswerten Mischung.

Sonntag, 30. Oktober 2016

Wie war's bei Nils Petter Molvær in Mannheim? (Enjoy Jazz 2016)

(c) Stefan Vieregg

Nils Petter Molvær ist ein sehr kreativer und ausdrucksstarker Jazzmusiker aus Norwegen, der immer wieder in der Musikszene prämiert wurde für seine seit fast 30 Jahren große musikalische Farbenvielfalt, die er vor den Zuhörern ausbreitet. Am 18. September 1960 auf der Insel Sula, Møre og Romsdal, geboren und aufgewachsen besuchte er nach seinem neunzehnten Lebensjahr das Jazz-Programm im Trondheim Musikkonservatorium (1980-82). Er trat in die Bands Jazzpunkensemblet mit Jon Eberson und Masqualero, neben Arild Andersen, Jon Christensen und Tore Brunborg. Mit Masqualero (benannt nach einer Wayne Shorter Komposition ursprünglich von Miles Davis aufgenommen) und anderen Künstlern bespielte er mehrere Alben für ECM Records. Sein Debüt-Solo-Album war 1997 'Khmer' (ECM). Später findet man ihn bei Universal, Sony. Zu seinem Debut lieferte er eine Jazz-, Rock-Fusion mit elektronischen Klanglandschaften und Hip-Hop Beats ab. Molværs gedämpfte Trompete hat ihre Wurzeln bei Miles Davis, entwickelt aber völlig eigene Sounds. Der außergewöhnliche Musiker hat auch Film- und Theatermusik komponiert, u.a. für eine Inszenierung von Ibsens “Gespenster” und Filme wie “Frozen Heart”, “Stratosphere Girl”, “The Invention of Love”, “Shameless”. Auch eine Fernsehserie (“Harry and Charles”) lebt mit seinem Sound.

Bei Enjoy Jazz 2016 trat er mit seinem neuen Album "Buoyancy" auf (September 2016 bei Sony), das eine geheimnisvolle Mission und Geschichte erzählt. Obwohl deren Form, Ausgestaltung und Inhalt ein zutiefst individuelles und offenes Projekt bleibt, bei dem je nach Zuhörer ganz andere Plots entstehen, lässt sich dennoch deutlich erkennen, dass das ozeanische Leben ihn fasziniert. Titel wie "Moute Cave", "Jackson Reef", "Lamna Reef" und "Kingfish Castle" sprechen für sich. Im nachfolgenden Interview kam denn auch durch die Jazzautorin Adriana Carcu (All about Jazz) im Gespräch mit Molvær und Drummer Erland Dahlen das Thema "Tauchen" zur Sprache. 

(c) Stefan Vieregg
In der Tat beginnt alles im Dunkeln, in einer Urzeit vielleicht, in der Tiefe, in einer Höhle mit eindringlichen Rufen und Signalen. Alle Töne haben Gegenspieler, die Auflösung von Eindeutigkeit. Die Trompete gleitet und schrammt sich immer wieder am Ursound klagend in die Höhe, gewinnt Dominanz und Souveränität, dann klar und stark in der Aktion und im Leid. Melancholie ist ein unerbittlicher Begleiter. Sie sucht den Dialog mit elektr. Piano/Keyboard (Morten Qvenild), Guitar (Geir Sundstøl), Bass Guitar (Jo Berger Myhre mit dem Streichbogen punktuell tatsächlich in verfremdete Oud-Klänge übergehend) und den knallharten Beats wie Peitschenhieben der Drums (Erland Dahle). Molvær hat schon immer ein Faible für orientalische Einflüsse. Früher schon wurden Muezzinrufe verarbeitet oder Musikzitate implantiert, auch bei diesem Album Titel wie "Ras Mohammed" und "Ahmed", die aber nur sehr, sehr dezent orientalisch klingen, wohl aber Assoziationen zum Pulverfass Orient zulassen. Die Geschichte einer Genesis, eines Entschlusses, einer Aktion, einer Liebe und das Verlieren von Liebgewonnem, Scheitern, Loslassen und Weiterziehen? Ein Synonym für die Weltkrieg-Zustände in einem Orient, der nur im Märchen und in der Erinnerung ein Traum bleibt? Der Höhepunkt im Ausagieren, Kontakt mit der Oberfläche, der Welt oberhalb des Meeresspiegels, mit grellem Licht und Donner, nachfolgender starker leidender Trauer, wie nach Verlust, Aufgeben. Das Weiterschreiten mit gewonnener Stabilität, Harmonie, Melancholie. Eine Reise durch ein Universum mit prosaischer Dichte und einem starken Erzähler.

Freitag, 21. Oktober 2016

Wie war's bei Malakoff Kowalski in Heidelberg? (EnjoyJazz 2016)


Malakoff Kowalski                                      (c) Stefan Vieregg


Malakoff Kowalski ist gewöhnungsbedürftig. Eine Herausforderung für die Zuhörer, denn manchmal kann er einfach schwierig sein. Der schlaksige multinationale Musiker hat sich am Samstag, den 15.10. aufgerappelt, endlich nach längerer Zeit seine Wohnung wieder zu verlassen, um ein Konzert zu geben. Dabei hat es ihn nach Heidelberg in die Providenzkirche zu EnjoyJazz und dem "Heidelberger Frühling" verschlagen.

Irgendwie noch in der Einsamkeit seiner Bude verhangen, wollte keine richtige Fahrt zu Beginn des Konzerts aufkommen. Es schien, als ob Kowalski sich noch an die Zuschauer gewöhnen müsste. Merkwürdig, war doch eine locker-leichte Musik angekündigt, die zum Flirten anregen könnte - und ereignet hat sich eine Reihe von extrem kurzen Stücken, ganz schön verträumt, interessant, allerdings mit hohem Wiedererkennungswert auf Strecke, weit weg von einem Flirtversprechen. Grundstimmung war eine gedämpfte, wie im Zeitlupentempo, zumindest mal halbe Geschwindigkeit, eine melancholisch-depressive Schwere, paradoxe Euphorie, wenig Leichtigkeit des Seins, irrealer Geschmack und kräftig dimensionenverzerrt.

Der Musiker, Komponist, Filmproduzent, Theaterregisseur und mehr, aktuell seit 2007 Berlin, wurde 1979 in Boston/USA als Aram Pirmoradi, Kind exiliranischer Eltern geboren, wuchs in Hamburg auf, bis ihn - wie er selbst es nannte - "verschiedene Katastrophen, die das Leben bietet", nach Berlin trieben. Er produzierte 2006 mit Jansen & Kowalski sein erstes Album, 2009 sein erstes Soloalbum NEUE DEUTSCHE REISELIEDER und hatte mit der Single und dem Musikvideo ANDERE LEUTE starken Erfolg. Kowalski veröffentlichte zuletzt das Solo-Album KILL YOUR BABIES – FILMSCORE FOR AN UNKNOWN PICTURE mit Filmmusik zu einem nicht existierenden Film in Zusammenarbeit mit dem Maler Daniel Richter, dem Schriftsteller Maxim Biller und dem Regisseur Klaus Lemke. Auch in Heidelberg gab es einen Happen davon zu hören. Am Schauspiel Köln hat er als Komponist und Musiker in Angela Richters Inszenierungen BRAIN AND BEAUTY und SUPERNERDS mitgewirkt. Darüber hinaus komponierte und produzierte Kowalski die Musik für Stefan Bachmanns Inszenierung von PARZIVAL. Neben der neuesten Albumveröffentlichung I LOVE YOU ist aktuell die Produktion WIR WOLLEN PLANKTON SEIN in Vorbereitung. Mit dem deutschen Elektro-Pop-Duo 2raumwohnung tourte er 2010 einige Wochen lang durch Deutschland, Schweiz und Österreich. Er tritt auf als sozusagen ein Pole in Russland oder umgekehrt.

Was der Besucher allem bis 21 Uhr abgewinnen konnte war eine Stimmung wie bei Regen, die Ausgestaltung einer Kunstidee, die mit unvollendeten, quasi verkürzten Liedern auf somnambuler Basis mit Irrlichtern hantierte. Etliche ratlose Zuschauer entschlossen sich den Abend mit ihm zu verkürzen, andere blieben begeistert. Am Piano, Keyboard und zwei Gitarren verwirklichte Malakoff Kowalski ein Antikonzept, er stellte sich eine Stunde in einer künstlerischen Attitüde im Gewand eines unvollendeten Genies gegen die Erwartungen. Seine Erläuterungen nach seinem großen Hit HOW I THINK OF YOU, der die Erwartungen an den Abend erst richtig erfüllte, zeigten ihn als Regisseur seines Auftritts und wohl Liebhaber von Samuel Beckett.

Der Musiker erklärte, er hätte Gefallen daran, dass die Stücke kürzer würden, wie alles einfach kürzer werden sollte, wahrscheinlich auch das Leben. Warum? Sie sollen einfacher werden, die Mittel immer weniger, am Ende steht hier wohl die bereinigte 1.30-Minuten-Performance als minimalistischer Spitzenakt. Ein Jim Jarmusch der Musik oder ein Schnellkonsumierer?

Und so gab es noch ein wunderschönes BE MY BABY als Zugabe und der nur (allerdings gut) gesungene Titel CHRYSTAL SHIP von den Doors. Ein merkwürdiger, ganz anderer Abend. Und weil jetzt etwas gefehlt hat, will man noch einmal reinhören später, ob noch und was noch passieren wird. Der Gute hat sein Ziel erreicht ...

Dienstag, 18. Oktober 2016

Wie war's bei Ferenc Snétberger in Heidelberg? (EnjoyJazz 2016)

Ferenc Snétberger                       (c) Stefan Vieregg





Ferenc Snétberger ist ein Feinvirtuose der Gitarre, Stimmungen und Atmosphären. Eingeladen zu EnjoyJazz 2016 in die Friedenskirche nach Heidelberg bot er einen Abend gestaltet mit exzellenter Musik zur Kontemplation und Rekreation der Sinne. Er präsentierte im Wesentlichen seine CD In Concerts mit der Suite "Budapest, Part I-VIII" und einige klang- und humorvolle Ausflüge in seine Musikwelt mit Interpretationen bekannter Melodien. Wie es sich für einen Meister gehört, fesselte er von Beginn an sein aufmerksames und hochkonzentriertes Publikum, das versuchte jeden Ton, der seiner Gitarre entstieg, zu verinnerlichen.

Musikalisch reich erzogen in seinem Roma-Elternhaus in Salgótarján, ca. 120 km nördlich von Budapest, ging der Musiker, dem das Gefühl der emotionalen und sprechenden Töne in die Wiege gelegt wurde, später den Weg der hohen Musikkunst und -fertigkeit weiter. Mit seinem Vater und seinen zwei Brüdern spielte er früh Gitarre, hörte die Platten von John Coltrane, Charlie Parker, Jim Hall und vor allem dem Zigeunerjazz-König Django Reinhardt. Die Bewohner der Kurpfalz und Pfalz werden sich an die legendären Auftritte der Roma-Familien, z.B. die Wintersteins, u.a. aus Landau / Pfalz, erinnern, die bei etlichen Liedermacher- oder Burgfesten als Supportgruppe oder alleine auftraten. Nur wenige von ihnen waren allerdings so geschult oder exakt wie F. Snétberger. "Ich begann mit Jazz, und dann wurde der Einfluss der klassischen Musik sehr stark für mich." Er besuchte u.a. die Franz-Liszt-Musikakademie und das Bèla Bartók Institut in Budapest. Die klassische Musik begeisterte ihn, Johann S. Bach war ein Schlüsselerlebnis für ihn: "Ich hörte Bach und veränderte mein Leben."
Ferenc Snétberger                       (c) Stefan Vieregg

Seine Musik ist eine Mischung aus ernster und Jazzmusik, die er selbstredend ebenfalls weiterkulivierte. Er beschäftigte sich mit nationalen Gitarrenmusiken, wie der südamerikanischen, speziell der brasilianischen, und der europäisch-spanischen Schule des Flamenco. Der Italiener Egberto Gismonti im Duo mit Nana Vasconcelos war ein weiteres großes Schlüsselerlebnis für ihn. All diese hochentwickelten Musikströmungen und -stile fließen in Snétbergers subtiles Netz der Variationsvielfalt im Nenner der sinnlichen Dichte ein. Freie wirbelnde Improvisationen zu ernsthaft festgelegten Strukturen beschreiben eine sehr angenehme Heterogenität jenseits der Kategorien.

Weitere Veröffentlichungen mit Ferenc Snétberger sind bei ECM in Planung.


Dienstag, 27. September 2016

Wie war's bei FALSTAFF, Commedia lirica von Guiseppe Verdi, in Frankfurt a.M.?


Dr. Cajus platzt ins Wirtshaus herein zu Falstaff
(c) Monika Rittershaus
Falstaff, seit Shakespeare der Inbegriff einer speziellen Kunstfigur, ist ein dicker Ritter, Saufbold und raufsüchtig, angeberisch und philosophisch, unmoralisch und kriminell. Eine runde lustige Figur auf der Bühne, dem immer einfach das Geld fehlt für sein opulentes Leben und der sich was einfallen lassen muss, um an die lieben Silberlinge zu kommen. Das Thema wurde mindestens 15-mal prominent vertont, einmal auch bei Orson Welles filmisch verarbeitet. Namen wie Adolphe Adam (1856), Michael William Balfe (1838), Ludwig van Beethoven (1823), Antonio Salieri (1799) und eben Giuseppe Verdi tauchen auf. Für Verdi war es seine letzte Oper (1893 in der Mailänder Scala uraufgeführt), die dafür aber auch einmal auf Anhieb positiv angenommen wurde.

Der Komponist hat Falstaff zum Philosophen und geistreichen Narr ausstaffiert. In der Frankfurter Oper wurde die Commedia lirica in drei Akten am 23.09.2016 zum zweiten Mal wiederaufgenommen und begeistert von den Zuschauern begrüßt und gefeiert. 

Die Geschichte um den einerseits bacchantischen, andererseits eher abschreckenden geldgierigen Galan bereitet doch viel Spaß und wird in Frankfurt mit einem aufwändigen Bühnenbild, fahrbaren haushohen Kulissen, Special Effects und wunderbaren Kostümen versehen. Die Musik vom Frankfurter Opern- und Museumsorchester unter der Leitung von Julia Jones lange Strecken heiter und kurzweilig, die Stimmen herrlich voluminös bei Sir John Falstaff (Željko Lucic), und Mister Ford, Alices Gatte (James Rutherford) und kraftvoll feminin bei Nannetta, Alices Tochter (Kateryna Kasper), Mrs. Alice Ford (Jessica Strong), Mrs. Meg Page (Paula Murrihy) und Mrs. Quickly (Anna Larsson). 

Zum Schießen der Münchhausenauftritt von Dr. Cajus (Hans-Jürgen Schöpflin), der auf einer riesigen Kanonenkugel ins Wirtshaus „hereinplatzt“, die Figur des versoffenen, rotnasigen Bardolfo (Ralf Simon), in Falstaffs Diensten, der nicht nur überzeugend klauen kann, sondern auch als falsche Braut an Cajus Seite am Ende ganz irritierte Neigungen bei beiden andeutet. Ein Glück mit einem solchen Diener, dessen Nase auch nachts noch leuchtet, gesegnet zu sein. Eifersüchtig auf den neuen Freund seines Alter Egos ist Pistola, der zweite Bedienstete (Barnaby Rea, wie Rutherford, Kasper, Strong, Murrihy, Larsson und Simon Rollendebütanten, Larsson zudem das erste Mal an der Frankfurter Oper).

Sir John Falstaff ist halt trotz Geist ein Schlawiner, deswegen verabredet er sich mit zwei Frauen auf einmal und schreibt er beiden denselben Liebesbrief. Was ihn eigentlich interessiert, das ist das Geld der beiden und der Spaß, es zu bekommen. Sowohl Alice als auch Meg verwalten das Ehevermögen. Die zwei Gefoppten beschließen ihm ordentlich den Kopf zu waschen und stellen ihm geschickt eine Falle. Der Mann von Alice hat mittlerweile durch die beiden „ehrenhaften“, kriminellen und versoffenen Faktoten Bardolfo und Pistola, die den Liebesbriefbetrug nicht mitmachen wollten, von dem Plan Falstaffs erfahren und stellt ihm ebenfalls eine Falle, um ihn in flagranti zu erwischen. 

In schöner witziger Eile auf der Bühne lässt Verdi alles zusammenfließen im Haus der Alice. Da muss sich Falstaff in der Truhe für Schmutzwäsche verstecken, poltert der „General“ Ford mit seinen Mannen durch die Stube, um aufgrund eines deutlichen Kussgeräusches einen Paravent umzureißen, hinter dem sich seine Tochter Nannetta mit Fenton aufhält, den er gar nicht zum Schwiegersohn haben will. Während die Soldaten weitersuchen, landet Falstaff im „Stadtgraben“ (Themse). Nach diesen beiden Akten scheint schon alles in einem witzigen Höhepunkt erledigt, aber im dritten Akt treiben die hochgenommenen Frauen ihr Spiel weiter. 

Falstaff, wie er leibt und lebt
(c) Monika Rittershaus
Als Schwarzer Jäger mit Hirschgeweih soll er um Mitternacht ein weiteres Rendez-vous mit Alice haben, dem der Geläuterte nicht traut. Er sitzt klitschnass am Ufer, nachdem er sich aus der Truhe befreien konnte und an Land schwomm – übrigens hervorragend von Keith Warner und den Bühnenbildern/Lichttechnikern gelöst mit einem Glaskasten, der es erlaubt mit raffinierten Lichtspielen Falstaff unter Wasser zu zeigen -, und philosophiert über das Leben. Er beschließt die zweite Chance wahrzunehmen und kommt in ein arges Treiben mit Alice, Nannetta und den Bürgerinnen von Windsor, verkleidet als Feen, mit General Ford , der im unglaubwürdigen, aber lustigen Ende der Oper Dr. Cajus mit Nanetta und ein anonymes Paar gleich mit verheiratet, und Bürgern der Stadt, die den "gehörnten" Sir peinigen und piesacken, bedrohen und erschrecken, damit er für immer und ewig seinen Unsinn ablege. Der Spuk fliegt auf, die falsche Nannetta ist Bardolfo, der gerade zum Entsetzen von Pistola Cajus geheiratet hat, und die Anonymen sind Nanetta und ihr Geliebter Fenton. So sind alle Fopper und Gefoppte, denn „Alles in der Welt ist Posse, der Mensch ist als Possenreißer geboren“, wie Falstaff sagt, und er selbst ist der eigentliche Motor dieser Posse: „Ich bin es, der euch gewitzt macht. Mein Witz erschafft den Witz der anderen.“

Falstaff bereichert die Welt, er sorgt für Spaß und Humor. Er soll es nach Verdi auch weiterhin tun: „Geh, geh, alter John. Lauf dahin auf deinem Weg, so lange du kannst … Lustiges Original eines Schurken; ewig wahr, hinter jeglicher Maske, zu jeder Zeit, an jedem Ort!! Geh … Geh … Lauf Lauf … Addio!!!“

Die Schlussfuge, in die alle einstimmen, hebt die Spielchen in gemeinsamer Übereinkunft auf: Tutto nel mondo è burla, l’uom è nato burlone. (Alles ist Spaß auf Erden, der Mensch als Narr geboren.)




Mittwoch, 21. September 2016

Wie war's bei DER SANDMANN, Oper von Andrea Lorenzo Scartazzini nach E.T.A. Hoffmann

Clara und Nathanael   (c) Monika Rittershaus

Letzten Sonntag konnte der Opernbesucher eine eigenwillige Premiere und deutsche Erstaufführung der erfolgreich in Basel 2012 uraufgeführten Opernfassung von E.T.A. Hoffmanns DER SANDMANN in Frankfurt a.M. erleben. Der Komponist ist Andrea Lorenzo Scartazzini (*1971), der Text stammt von Thomas Jonigk und Regie führte der sehr bekannte und vielfach ausgezeichnete Christof Loy.

Hoffmanns schwarz-romantische Schauererzählung ist in wesentlichen Zügen verarbeitet, akzentuiert und verändert. Seine Holzpuppe Oli(!)mpia, deren herausgefallene Glasaugen im Blut ihres Erbauers Spalanzani liegend Nathanael verrückt machen und ihn kurz vor seinem Sturz vom Turm zu den intensiv, gerade psychoanalytisch oft diskutierten Ausrufen: „Ha! Sköne Oke – Sköne Oke“ veranlassen, wird bei Scartazzini zu einer ganz anders gearteten Clarissa, wie überhaupt zum Prototyp aller Frauen. Es ist wie verhext, plötzlich sind sie am Ende alle Clarissa. Wohin das Auge blickt, Clarissas in roten Kleidern mit schwarzen Haaren, roten Lippen, interessanten Augen, teils dick, teils dünn, teils sehr schön, teils normal, alle wie Puppen vom Band mit kleinen Individualitäten, inklusive interner Verkabelung. Warum das? Warum diese Barbiepuppe mit schwarzem Haar, dem Hirn in Linsengröße und immer Jasagerin? So liebt es mancher Mann, auch Nathanael, aber schnell ist es ihm auch nicht mehr geheuer, er lehnt es ab, es dominiert ihn ... Wer will das schon auf Dauer …

Was einen in der Oper ganz sicher auch überrascht und die ganze Zeit nicht mehr loslässt, das ist eine extreme Akzentuierung des Wahnsinns. Alles was geschieht ist ein Traum, und zwar ein sehr böser. Verzweifelt negiert das Nathanael: „Ich bin wach!“ - „Zumindest glaubst du das“, belehrt ihn sein Widersacher im Traum, versucht Clara ihm die Vorgänge in seinem Kopf zu erklären. Dieser außerordentlich bedrückende, bedrohliche Tagtraum des unbekannten, vor Wahnvorstellungen kaum in die Gänge kommenden psychiatrisch kranken Schriftstellers ist der potenzielle Inhalt eines Romanes, den Nathanael versucht zu schreiben. Nichts als eine Verarbeitung seiner Kindheit, seines Traumas, seiner Gestraftheit durch den Vater, seiner Bedrohung durch Coppelius, dem väterlichen Bruder-Kompagnion, Assistent im Bestattungsunternehmen, bei Hoffmann ein Alchemist, und Verarbeitung von Nathanaels Vorliebe fürs Tote, Regungslose.


Nathanael und Clarissa   (c) Monika Rittershaus
Wo Hofmanns Nathanael lange gar nicht merkt, dass seine Olimpia eine Puppe ist, merkt unserer sofort, dass diese ewige Wiederholungsleier „Ja, ich will, ich mache alles, wie du es willst“ eine Bedrohung, Verarmung und frühzeitige Beerdigung seines kreativen Geistes ist. Logische Konsequenz: Er stellt sie ab, er zerstört sie durch Eingriffe in die „Elektronik“. Was überdeutlich witzelnd mit allen szenischen Mitteln zelebriert wird ist sein starker Hang zum Nekrophilen und damit auch zur Destruktion. Die reglos erwartende Frau, am besten stumm wie eine Tote oder gleich tot verschafft ihm die höchsten Lüste. Schändung inklusive und nicht ausgeschlossen. Was so jemand in freier Wildbahn anrichten könnte, wollen wir gar nicht imaginieren. Logischerweise ist es die Multiplikation des Toten, der rot gekleideten Jasagerinnen, die Nathanaels Ende akzentuieren.

Clarissa gegenüber steht Clara, die er liebt und (auch) begehrt, die allerdings seinen Regungen aufgrund der Ungestümheit, der Ausbrüche, der Reaktionen auf ihren Widerspruch nicht traut. Sie, die ein eigenständiges, kritisches Geistesleben führt, verwandelt er zu ihrem Entsetzen bereits auf Seite 1 in eine Unfalltote, mit der er wunschgemäß im Bestattungsraum Sex hat. Diese Figur ist tot, er kann machen mit ihr, was er will. Mit der echten Clara ist das nicht möglich, sie sagt nein, sie gibt sich nicht hin, sie kann von ihm nicht „zerstört“ werden, das hemmt sein Lustkonzept, ermöglicht aber auch die schriftstellerische Planung des Plots. Sie ist seine Muse, zwingt ihn die andere Welt zu beschreiben. Dieses Buch wird nicht fertig, wahrscheinlich bleibt es auch viel zu kurz. Es ist nicht gedruckt, wie es im Traumgeschehen gezeigt wird – es existiert nur in seinem Kopf und auf wenigen Entwurfseiten. Er darf es auch gar nicht fertigstellen, Clara ist dagegen, so verwendet zu werden. Nathanael  wird nie als großer Schriftsteller verehrt, geliebt und begehrt werden, alle werden sie ihn verlassen, wenn sie merken, was mit ihm los ist.


Nathanael   (c) Monika Rittershaus
Das gesamte Geschehen ist passend zur destruktiv-nekrophilen Welt in einen schwarzen Rahmen, ganz nach Bestattungsmanier, gebettet, ein klassischer Illusionsraum, unwirklich, von der Außenwelt durch gleißendes Neonlicht rundherum abgegrenzt. Ein Guckkasten prädestiniert für Demonstrationszwecke. Vorgeführt wird uns mit vielen Klischees der Casus der paranoiden Schizophrenie, eine entsetzliche Behandlung durch den Vater, immerzu Schläge auf den Hinterkopf, sogar mit einer Kohlenschaufel, keine Anerkennung. Das Berufsleben des Vaters und Coppelius vertuscht, verheimlicht, daher von enormem Anziehungswert. Die vielen verzweifelten Versuche, die Wirklichkeit umzudeuten, etwas anderes erkennen zu können als das Vorhandene und ein zunehmendes Abtauchen in die Faszination des Nekrophilen. Verfolgungen, Bedrohungen durch Wiedergänger, erschossen werden vom Sandmann, dem Fürchterlichen, der kurzen Prozess macht, wenn man nicht an ihn glaubt und schläft, wann die Eltern es wollen - der tötet! Erlebtes, Stimmen, die zu ihm sprechen, ihn zwingen wollen, etwas zu tun, Wahn- und Trugbilder. Ein Chor klassisch als Kommentator und Träger der Stimmen- und Traumwelt.

„Der Sandmann ist da“, rituell wiederholt während der ganzen Oper, ironisch, sarkastisch und provokativ für die Vergangenheit, „Clara, Clarissa, Clarissima“ als libidinöser Schlachtruf - verehrt als tote Statue aus Marmor, sprachlos, zeitlos, nicht einmal fähig, das gewünschte „Ja, ja, ja!“ zu rufen, was dem Nekrophilen die Zerstörung erlaubt, weil sie nicht gibt, was er will. Man muss nur an die symbolische Zerstörung des unbelebten Ästhetischen durch nekrophile Terrorgruppen denken, wie es uns in Syrien, Palmyras Tempel zum Beispiel, 2015 begegnete. Die Zelebrierung des täglichen Todes im Lebendigen in Form von abscheulichen religiös-rituellen Bestrafungen nicht ausgenommen. Am Ende die Entschuldigung für den Traum, das Chaos, das Perverse und Abgrundtiefe: „Er war eben kein Schriftsteller.“ Claras Lilien ins Grab!

Die Rollen wunderbar getragen von Daniel Schmutzhard, Bariton, Austria (Nathanael),  Agneta Eichenholz, Sopran, Schweden (Doppelrolle Clara / Clarissa), Thomas Piffka, Tenor, Deutschland (Vater) und Hans-Jürgen Schöpflin, Tenor (Coppelius), Daniel Miroslaw, Bass, Polen (Lothar). Dazu Scartazzinis moderne, sich steigernde, perfekt deskriptiv im Detail und bedrohlich abgrundtief, verzerrt unstimmig, schockierend und in großen Bögen auffangende orchestrale Musik, die appellativ das Entsetzliche demonstriert, den Zuhörer in einen 80-minütigen Bann zieht.


Trailer der Frankfurter Oper 2016





Mittwoch, 10. August 2016

Wie war's beim European Guitar and Mandolin Youth Orchestra (EGMYO) im Europaeum Otzenhausen?

(c) Stefan Vieregg

Sehr erbaulich, herrlich zeitgenössisch, aber nicht atonal präsentierte sich das European Guitar and Mandolin Youth Orchestra (EGMYO) im Europaeum Otzenhausen letzten Sonntag.

Neben Marcel Wenglers (*1946) heiterem WEDDING DANCE Norbert Spongls (1892-1983) Tanz Suite op.103 mit klassisch strengem Duktus. Mein erstes persönliches Highlight des Abends war Hiromitsu Kagajo (*1961) mit BLACK-OUT, einem völlig unjapanischen, sehr interessanten Stück, das die Thematik des Chaos im Kopf eines Individuums, das Umherlaufen des Suchens, Irrens herrlich umsetzte, ohne jemals in ein aufdringliches Charivari umzukippen. Also ein ziemlich geordneter Black-Out ... Mit Spaß konnte man auch das nächste kurze Stück DANZA CUBANA op.67 genießen, heiter verspielt, aber immer noch zurückhaltend.

Nach der Pause Bernard van Beurdens (1933-2016) heiter-disziplinierte 4 MOUVEMENTS und ein nächstes Highlight des Abends von Luigi Salamon (*1968): LATIN BRIDGE. Anspruchsvoll, dynamisch und unkonventionell. Marcel Wenglers KONSTELLATIONEN mehr für den Intellekt und ein Top-Highlight von Kenji Suehiro (*1975), METEORSHOWER, wieder unjapanisch, Weltenbürgermusik zum Ende der Musikdarbietung.
(c) Stefan Vieregg

Schluss- und Dankesworte an die Musiker von Arno Krause (* 2. Mai 1930 in Saarbrücken), Gründer und Vorstandsvorsitzender der Europäischen Akademie Otzenhausen, auch an die Organisatoren und an den Dirigenten Dominik Hackner, entließen zum stilvollen Abendessen.

Dienstag, 2. August 2016

Wie war's bei den Nibelungenfestspielen in Worms 2016? Eine bunte Provokation

"Ein Käfig voller Narren" - vor dem Einzug  (c) Stefan Vieregg

Die Nibelungenfestspiele Worms im Jahr 2016 waren eine echte Überraschung. Nicht nur für die Besucher, die Historiendrama erwarteten, sondern auch für die, die schon wussten, dass es etwas Neues, etwas Anderes werden würde. Dreharbeiten zu einem Film über die Nibelungen, das Gold der Nibelungen, und das in Worms. Voller Ehrgeiz die Pläne, DEN Nibelungenfilm daraus zu machen, ein Filmepos ohnegleichen anzubieten, dem Nationalepos noch einen "Nationalfilm" hinzuzufügen. Das Drehbuch schrieb wie letztes Jahr der Münchner Albert Ostermaier.


Das Blut der Geschichte
(c) Stefan Vieregg
Was sich dann an diesem herrlich kurzweiligen Abend bis Mitternacht vor dem Dom in einem sehr ansprechenden Parkambiente mit 40-minütiger Pause, begleitet von Barmusik, entfaltete, war das gesamte Spektrum der klischeereichen TV-Welten, Backstagewahrheiten und -enthüllungen, Psychostudien, modernen Schauspiele, aktuelle Migrationsprobleme zitiert und per Bombenalarm integriert, fern, fern der hehren alten Gesänge, der scheinbar unbesiegbaren Mammutrecken und den Überfrauen Kriemhild und Brünhild, die - wie sich in einer Besprechungsrunde zeigte - von keiner der Hauptfiguren auf Mittelhochdeutsch rezitiert werden konnten. Die gesammelten Eitelkeiten aller beteiligten Künstler, Drehbuch- und Regie-, Kamera-, Licht- und Ton-Mitarbeiter, ihr aufgewühltes Innenleben inmitten dieses grausamen Stoffes gibt sie der tragischen Lächerlichkeit preis, dem menschlichen Dasein - eine absurde ins Groteske gesteigerte Tragödie zwischen Bühne, Kamera und Privatleben.
Wormser Dom
(c) Stefan Vieregg

Die charmante Regieassistentin Carmen (duchsetzungsfähig und flink, voller Anziehung Alexandra Kamp) am liebsten in den Armen von Kubik, aber wie alle anderen will sie gesehen, verstanden werden, sich erzählen. Gewollt vom Regisseur Kubik (Vladimir Burlakov), ein größenwahnsinniger Fan von Kubrick, der Clockwerk Orange mit Kettenhorror und Blutbad kombiniert, Fantasyaction mit schmerzhaftem Kitsch, die absolute Verschmelzung der Schauspieler mit ihren Rollen verlangt, was ihm auch zunehmend gelingt.
Was die vier Frauen, ja vier, denn es waren zwei Kriemhilden und zwei Brünhilden, jeweils alt und jung, wirklich zu verbinden scheint, war die Identifikation mit den historischen Vorbildern und deren Erlebnissen. So bei Kriemhilds Darstellerin Karina (Katja Weitzenböck) die gescheiterte Beziehung, das Wegnehmen des Kindes, weil die Mutter als Pornodarstellerin mit regelmäßigem Drogenkick wegen ihrer Lebensführung nicht in der Lage war es aufzuziehen. Die Brücke zur Sage der unendliche Schmerz, die Depression aufgrund der herzlosen Trennung. Das qualifiziert sie zur "besten Kriemhild", "ich bin Gold wert" schwärmt sie über sich. Und hat Angst, dass irgendjemand ihre Vergangenheit aufdeckt, weil er sie aus den Filmen kennt. Bei Brünhild (Michaela Staiger mit extremen emotionalen Szenen) im Mittelpunkt die Problematik des Alterns und das tiefe, tiefe Waten in Wodka, der die üppige Blondine noch mehr aufgehen lassen wird. Die unendliche Verletzung von dieser Recken-Männerwelt so erniedrigt worden zu sein, dieser Hass auf alles am Ende, was die Spur zu Etzels Burg und dem Ende legt.

Festspielgelände in der Pause
(c) Stefan Vieregg

Und dennoch trotz aller dieser tiefenpsychologischen Mitfühlangebote, der Schwere der Persönlichkeiten, Witz, Klamauk und Komödie in der Tragödie. Dass es turbulent wird, ist von Anfang an klar, wenn die bunte Commedia dell'arte-Meute auf die Bühne stürmt, mit lautem Treiben wie im Karneval mit einem ganz starken Chaosorchester, das in grün-oszillierenden Kosacken-Orient-Fantasie-Uniformen schräge und dynamisch-lärmende Guggenmusik an Balkan- und Weltmusik dazu spielt. Das Chaos und der dauernde Streit nehmen ihren Lauf, es vergeht keine Szene ohne Trouble. Ob Hagen (Sascha Göpel) mit Siegfried (Ismail Deniz), weil Siegfried völlig undeutsch von einem Türken aus Anatolien gespielt wird, dem es zuwider ist mit Brünhild, einer Frau, Sex haben zu müssen - Und dann noch eine Vergewaltigung! - aber für Kubik macht er alles. Am Ende ist er bereit: "Ich breche Brünhild ... ich muss mich opfern."
Kriemhild und Brünhild streiten (vierfach) am laufenden Band, der krebskranke Regisseur (Uwe Ochsenknecht), der sich in einer Pressekonferenz als todkrank outet, wohl um noch einen PR-Schub über Mitleid auszulösen, mit dem Regisseur oder dem heroinsüchtigen, sich häßlich findenden und asthmakranken Drehbuchautor bei "den geilen Recken" (Josef Ostendorf), der wiederum mit dem Reporter und eigentlichen Drehbuchautor (Dominic Raacke) undundund.
Restaurant im Festspielgelände
(c) Stefan Vieregg

Den Film zu Ende zu bringen wird immer schwerer, der Druck der Organisatoren und Geldgeber nimmt zu, sie wollen etwas sehen. Heiner Lauterbach spielt den Bürgermeister von Worms, der über Videokonferenz nach dem Rechten sieht. Er droht mit einem Abbruch der Dreharbeiten, wenn der Produzent es nicht fertigbrächte, den Regisseur in den Griff zu bekommen. Ein Bombenalarm sprengt dann direkt alles, die Theaterillusion ist dann wie das Team fast ganz aufgelöst, aber der Produzent holt seine Leute zurück und es geht zielstrebig zum Untergang. Die Bühne versinkt in Wasser, das Geschehen in Blut. Die Grenzen zwischen Spiel, Streit, Wirklichkeit, Personen, Rollen jetzt gänzlich aufgelöst, jeder ist alles, und das intensiv! Der Reporter beteiligt am Massaker als rasender Amokläufer, alles geht den Orkus hinab. Nur weniger als eine Handvoll Überlebende - wie in der Sage - bleiben übrig.
Pausenatmosphäre
(c) Stefan Vieregg

Dem Regisseur Nuran David Calis gelingt in „GOLD. Der Film der Nibelungen“ nicht nur ein sehr unterhaltendes Treiben und Erarbeiten der Sage in ihren elementaren Zügen, indem er filmische und Theatersprache meisterhaft kombiniert, sondern auch ein Psychodrama. Eine Leinwand am rechten Bühnenrand zoomt Einzelszenen oder Personen in den Fokus, vergrößert bestimmte Stellen des Geschehens, lässt Individuen zu Wort kommen, während das Gesamt auf der Bühne weiterläuft. In einer anspruchsvollen Vielschichtigkeit aus Historie, Gegenwart, lokalem und überregionalem Zeitgeschehen, Psychologischem, Individuellem, Allzumenschlichem, Komischem und Tragischem stellt er uns die Sagenprotagonisten, verdoppelt durch Schauspielergeschicke, skizzenweise vor. "Wir schreiben hier Geschichte", tönt der Produzent.

Das Zimmer von Brünhild rechts.
Daneben zelebriert Siegfried aus Anatolien Gewaltspiele.
(c) Stefan Vieregg

Der Glaspavillon, in dem sich die Schauspieler in Einzelzimmern tummeln, aalen, wo sie essen, lieben, saufen, sterben, schlafen, ist ein Panoptikum von Durchgeknallten, gesammelt in Glaskäfigen, einzeln vor der Kamera präsentiert in Großaufnahme. Botho-Strauß-Theaterräume stehen neben Kubrik-, Fellini-, Bunuel- und Coppola-Zitaten, moderne Tattoos, Muskelkraft, Glatzen- oder Extremfrisuren, Gewalt- und Drogenkriminalität verweisen von der Hass- und Blut-Schiene der aktuellen Rap-, Hiphop- und sonstigen Criminal-Music-Videos auf die Vergangenheit. "Diese Macht hat uns ohnmächtig gemacht." Straßentheater mit verrückter Musik und Reality-TV dürfen nicht fehlen. Festspiele total, TV total, Narreteien total. Mainz ist halt nebenan. Auch in der Sprache tabuloses Enthüllen, Provozieren, geöffnete Obszönitäten für alle. Manchen Besuchern verschlug es die Sprache, mit was sie da konfrontiert wurden. Ein Spiegel der Vielfalt, nur im Sterben sind wir gleich: "Wir müssen alle den gleichen Weg" (Produzent).






Sonntag, 10. Juli 2016

Wie war's bei Schönbergs "Pierrot lunaire" und Langemanns "Anna Toll" im Bockenheimer Depot?

(c) Monika Rittershaus
 "Dreimal sieben Gedichte aus Albert Girauds Pierrot lunaire, op. 21" eröffneten die Premiere des Frankfurter Doppelevents zusammen mit Michael Langemanns "Anna Toll". Schönbergs konsequent atonales Werk mit symbolistisch überfrachteten Gedichten zur Dichtkunst und über einen Dichter, der sich zumindest für einen hält, des Belgiers Albert Giraud (1884) ist auch heute noch eine Herausforderung. 1912 hatte der Komponist so gewaltiger Werke wie "Moses und Aron" die Uraufführung seines durch und durch atonalen Werkes in Berlin. Vier Monate später in Prag reichte die musikalische Provokation voll aus für einen Theaterskandal. Die Kritiker litten in der Mehrheit unter den ungewöhnlichen Klängen und Gedichten, die auch heute merkwürdig blutarm, konstruiert und symbolistisch/expressionistisch todestrunken und dem Tode ausgeliefert wirken. Igor Strawinski, schon fasziniert, fühlte sich an den Kult um den Engländer Aubrey Beardsley erinnert, der sehr jung eigenwillige Karikaturen/Zeichnungen erstellte, in denen der Schwarzweiß-Kontrast dominierte. Auch die Giraudschen Gedichte greifen wiederholt Bilder von Nacht und Mond auf, der weiß angestrahlte Flecken auf Pierrots Kleidern oder auf Flächen, Gegenständen, Gesichtern etc. hinterlässt. "Eine bleiche Wäscherin wäscht zur Nachtzeit bleiche Tücher ..." heißt es in "Eine blasse Wäscherin". In fast allen Gedichten, ob "Mondestrunken", Colombine", "Der Dandy","Der kranke Mond", "Nacht", "Gebet an Pierrot", "Galgenlied", "Enthauptung" oder "Die Kreuze" werden diese an sich dezent gespenstisch dargebotenen, aber auch romantisch wirkenden Szenerien poetisch gefüllt, sodass eine Ästhetik entsteht, die heute von Modebewegungen wie z.B. "Gothic" neu zelebriert zu werden scheint. Wie transsylvanische Erotik wirkende Verse und christliche Bilder, apotheotisch die Madonna zur Mutter aller Verse erstehen zu lassen führen zum freiwilligen Opfertod des Dichters. 


(c) Monika Rittershaus
"Steig, o Mutter aller Schmerzen auf den Altar meiner Verse" fiebert der Dichter, sich als Sohn und Dichtkunsterbe der Göttin verstehend. Der Dichter möchte sich opfern, seine Gedichte "als blutige Hostie" erkennen und "Heilige Kreuze sind die Verse, dran die Dichter stumm verbluten". In die Nähe des Rausches gerückt mit einer Sisha und "türkischem Tabak" fantasiert das lyrische Ich von einer erbarmungslosen Suche nach noch mehr Ausdruckskraft bis hin zur Durchbohrung der Schädeldecke, um im Innern mehr zu entdecken. Die Bizarr- und Groteskheit der Innenwelt zeigt sich auch in absurden Verzerrungen der Außenwelt, das Mobiliar vergrößert, Stühle schießen zum Himmel empor. Im Frankfurter Bockenheimer Depot 
(c) Monika Rittershaus
in Szene gesetzt wird die Dichterwelt erlebbar in einem bizarren Rahmen, wo sich die stimmgewaltige Sängerin Laura Aikin in silbernem Zirkusdirektor-Galalook souverän im Gesang und dominant wie eine Dompteuse gebärt und dem jungen Dichter und Ödipus Welt beibringt. Dabei fing alles so harmlos an. In einer Bar bei „Moon River“ und „Blue Moon“ ...





Im zweiten Stück vom 1983 in Moskau geborenen Komponist Michael Langemann, Schüler Manfred Trojahns sowie George Benjamins, unternimmt der Komponist einen unterhaltsamen Ausflug in das Liebesleben moderner westlicher Gesellschaften. Und selbst islamische, mit Sprenggürtel und Koran bewaffnete, schaffen etwas Ähnliches, schenkt man dem neu erschienen Roman von Ramita Navai, "Stadt der Lügen", Glauben. Im heiligen Teheran, der Hochburg des Extremen, gibt es eine Undergroundszene, die man auch in Wien oder Berlin finden könnte. Arthur Schnitzlers "Anatol", aber auch deutlich der "Reigen" stehen Langemann Pate, daneben der Flaneur Peter Altenberg.

(c) Monika Rittershaus
Was Sigmund Freud in der Psychoanalyse entdeckte, bringt auch Arthur Schnitzler etwa zur gleichen Zeit zur Sprache: tabuisiertes Begehren, Lust am Leben, der Liebe, dem Sex als Sprache des Es, im Widerstreit mit Ich und Über-Ich. Freud sah sich geradezu als Seelenverwandter und gestand dies Schnitzler auch in einem Brief. Er wunderte sich, warum er nicht früher den Kontakt zu dem Schriftsteller suchte.
Alles, was in der bürgerlichen wilhelminischen Gesellschaft verschwiegen, vertuscht oder weggesperrt wurde, interessierte die beiden. Ebenso die Todesstrebungen, das Denken und Spielen mit dem Ende, in Beziehungen, im Leben. Und die Doppelmoral, zerbricht sich doch Anatol allen Ernstes den Kopf, ob seine (Haupt-)Geliebte ihn wirklich liebt, pflegt er selbst ganz ungeniert etliche Liebschaften.


(c) Monika Rittershaus
Die maskuline Egozentriertheit wird bei Langemann zur femininen. Aus Anatol wird Anna Toll, die ihr Begehren auslebt, narzistisch zur Queen gekrönt im Mittelpunkt aller sie begehrender Männer und Frauen stehen möchte. Mit Maxi führt sie eine homoerotische Freundschaft, aber ihr (Haupt-)Geliebter soll ihr unter Hypnose seine wahren Gefühle und seine Abhängigkeit verraten und bekräftigen. Alle Beteiligten sind dependente Anhänger der lustvollen und libertinären Sprache des Begehrens, wie im "Reigen" drehen sich die Beziehungen im Kreis, die Partner switchen weiter im Beziehungskarussell und jeder von ihnen ist ein riesiger Narzist, geblendet von seinem Spiegelbild. Anna Toll zerbricht sich am Hochzeitstag den Kopf, ob ein früherer Geliebter tatsächlich nun Gift nehmen würde, wäre sie nun "fest" vergeben. Es wird alles zur Farce, die Bemühungen um Besitz des Partners und Dauerhaftigkeit vergeblich. Wie wahr dieses Abbild unserer Psyche, die andere Dynamiken sucht als die feste Normen- und Werteordnung, auch wenn sie Letztere als verbindlichen Kulturcodex des gesellschaftlichen Miteinanders zumeist akzeptiert, in anderen Fällen ja sogar dringend braucht. Insofern erscheinen alle fortgeschritten einerseits in der Entbindung von der Konventionalität und andererseits im permanenten Bemühen das Liebesspiel dauerhaft am Laufen zu halten. In dieser Unverbindlichkeit entstehen freilich nicht minder tragische Einzelschicksale, die nicht mehr an der Enge, sonder an der Weite und Beliebigkeit leiden.


(c) Monika Rittershaus
Das Bühnenbild von Bernhard Niechotz und die Regie von Hans Walter Richter haben diese libidinöse Kreisdynamik in einem passendem Szenario verwirklicht, die Spirale klar erkennbar, die Tatorte dicht nebeneinander. Die Musik Langemanns eine ganz andere, Atonalität eher dezent, dafür bekannte Melodien angedeutet, Verdi, Wagner, Bernstein oder Richard Strauss zur musikalischen Interpretation und Akzentuierung anklingen lassend, die Operette mit einem heiteren swingenden Grundton ausstattend. Maxi (Nora Friedrichs)und Anna Toll (Elizabeth Reiter) zwei überzeugende reizende Gewächse, Baron Diebl (Magnús Baldvinsson), der Jägersmann, zum Fetisch für die konservative Damenwelt ausstaffiert mit absolut kessen Strumpfhaltern und Riesenboxershorts. Arthur (Dominic Betz), der wie ein alter Ego von Schnitzler erscheint, verzweifelt am meisten an dieser Unverbindlichkeit, damit hat er sich - wenn auch klar erkennbar - einer Kategorisierung und Wertung entzogen.





Montag, 8. Februar 2016

Wie war's bei FRANKFURT BABEL in den Frankfurter Kammerspielen?


(c) Birgit Hupfeld

Sie stehen da und fordern ... Letzten Freitag in den Frankfurter Kammerspielen, 15 junge Schauspieler zwischen 15 und 25 Jahren, eine Hälfte Flüchtlinge mit meist illegaler Einwanderung, die andere legal eingewandert, vorintegriert durch Zuwanderung im Rahmen von Gastarbeit oder einfach gemischte Gene durch binationale eingebürgerte oder hier lebende Eltern. Phillipinen und Tschechien zum Beispiel ... Sie sind nach Deutschland gekommen, weil es andere wollten, ihre Eltern, Verwandte, die Umstände ... Aus unterschiedlichen Ländern, wie Afghanistan, Irak, Syrien oder den Maghrebstaaten, mit allen Bedrohungen, Ausblühungen und Missständen, wie wir sie aus den Medien kennen. Auf der Bühne werden sie uns in diesem integrativen Projekt noch einmal im Interviewstil vorgestellt.

"Sie werden nicht ablassen von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun." (1. Mose, Kapitel 11, Vers 6) Das klingt fast wie eine Drohung. Die jungen Dickköpfe haben sich vorgenommen, das, was sie wollen, zu verwirklichen. Geht das denn immer so einfach? Kann man Widerstände überrennen wie grüne Grenzen?


(c) Birgit Hupfeld
Sie sind da und wollen leben ... Sie haben sich vorgenommen in diesem Land etwas zu werden. "Wir werden das tun, was wir wollen [...] Wir haben Pläne [...]" Wenn sie vorher die Einwanderungsgesetze befragt hätten, wäre es noch besser gewesen, denn viele von ihnen müssen wieder gehen. Bis das durchgeführt ist, vergehen noch ein paar Jahreszeiten. Nun gut, alle Berechtigten können sich Ausbildungen und Studiengänge holen bei uns, Know-how und Karriere. Wenn es denn die Gesellschaft zulässt. Aber wer gut ist kommt durch in Deutschland.

Sie sind da und wurden angelockt von irgendetwas, irgendjemand. Es waren die Versprechen der skrupellosen Schlepper und Werber, die Milliarden bisher verdienten, wohin sie auch immer flossen, die Faszination von Power, die Power von Money, die Power von Nuklear ... Sicherheit und Stärke. Dabei ist genau dieses Bild zerbröckelt, falls es einer gemerkt haben sollte. Wenn man einfach in ein so starkes Land oder Staatengebilde reinlaufen kann, ohne dass was passiert, ist es nicht weit her mit der Stärke.

Sie wollen wahrgenommen werden und reden mit vielerlei Zungen, dazu eine chaotische Musik - Charivaritöne der Multinationalität. Jugendliche sprechen aufgeregt, persuasiv und engagiert in verschiedenen Sprachen, und kein Mensch versteht dieses Durcheinander. Jeder voller Inbrunst und Elan in seiner Sprache seine Forderungen und Ansichten, und nichts kommt an! Und warum? Der Titel sagt es schon aus und legt es nahe: Es herrscht babylonische Sprachverwirrung.

"Und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen" (1.Mose 11,4). So ging die Sage los, und sie endet mit der Zerstreuung der sprachlichen Einheit in eine sprachliche Vielfalt wegen der Unverfrorenheit, Gott nahe zu sein. Zum Glück ist bald Pfingsten, da kann das Problem für Katholiken wieder leichter gelöst werden. Aber Mohammedaner kennen das ja gar nicht, also haben wir weiterhin Probleme damit ...

Frankfurt-Mainhattan und der Turmbau zu Babel - ein direkter Vergleich mit der Hybris, die von Gott mit dem Verlust der einheitlichen Sprache bestraft wurde? Nein, kaum möglich, denn Singapore und New York und Dubai sind viel höher dran... Frankfurt imposant für Deutschland, aber im internationalen Vergleich doch abgeschlagen. Und dennoch, die Opfer der göttlichen Verdammung, wenn ER des denn war, treffen sich an diesen Orten. Sie sind Anziehungspunkte für Internationalität. Irgendwas stimmt nicht an diesem Bezug. Die Jungen wollen etwas ganz anderes. Sie wollen Einheit finden in einer Sprache, sie haben sich ein Land ausgesucht, wo sie denken, dass am meisten geht. Mit ihnen Millionen von Erwachsenen, die mit ganz anderen Erwartungen als die Jungen einwandern. Einfach nur Ruhe und Sicherheit, regelmäßiges Geld.


(c) Birgit Hupfeld
Wunsch der jungen Schauspieler unter der Leitung von Martina Droste am Jungen Schauspiel Frankfurt ist es, Babylon zu überwinden. Und wir kommen ganz weg von Gott, denn Menschen sind Sklaven und Opfer von Entscheidungen, und zwar weniger der göttlichen als von menschlichen. Entscheidungen werden über unsere Köpfe hinweg getroffen, sie dominieren uns. Genauso wie Erziehung. Sie machen die Unterschiede aus. Wir geraten in verschiedene Rollen und Denkweisen, ohne dass wir es immer wollten. Wir geraten mitten in einen Krieg, auch wenn wir es nicht wollen, man verhaftet unsere Nachbarn, die vorbildlich gelebt haben, man lässt Schurken laufen und hat Mitleid mit Verbrechern. Muslime bei uns lehnen nach wie vor Christen ab, und Christen haben die Nase voll von mohammedanischer Überzeugungsarbeit. All das entscheiden andere. Aber wir haben die Kraft, es zu ändern!

"Wenn du es begriffen hast, dann ist es nicht Gott."

Deutlich die Botschaft des Projektes, bei dem manche Schauspieler nur Buchstaben als Namen haben, weil das Jugendamt ihre Anonymität schützen möchte, und andere durch Rückkehr oder Umzug ausschieden, nie zum Auftritt kamen. Ihre Meinungen von Deutschland und den Politikern wird im Interviewstil ebenso festgehalten wie die Beschreibung der Verhältnisse zu Hause im Kriegs- oder unsicheren Gebiet. Ob die Politiker wirklich zu wenig tun? Sich nicht kümmern? Wahrscheinlich alles viel zu spät, das Sicherheitskonzept Europa zeigt Titanicausmaße. Ist eine Geldzahlung an die Türkei verwerflich? Kann denn den Flüchtlingen nicht besser direkt an der Grenze geholfen werden? Schafft die Türkei es, so viele Millionen von Flüchtlingen zu versorgen und Krieg gegen die IS und Kurden zu führen? (Wobei die beiden Letztgenannten politisch extrem verschieden sind und völlig anders betrachtet werden müssen.) Viele Fragen werden wach, und die Gewissheit, dass die jungen Eingewanderten nicht mehr oder weniger wollen als manch andere hier Lebende ... Wir könnten eine Sprache sprechen ... Fragt sich nur, welche?

Sonntag, 3. Januar 2016

Wie war's bei DER ZERBROCHENE KRUG von Kleist im Schauspiel Frankfurt?

Max Mayer, Martin Rentzsch, Constanze
 Becker, Nico Holonics, 
Carina Zichner
Foto: Birgit Hupfeld





Ach die Moral, die Bestechlichkeit und der Autoritätsglaube ... Heinrich von Kleist, geboren am 18.10.1777 in Frankfurt an der Oder, hat zwischen 1803 und 1806 im Zuge eines poetischen Wettkampfs zwischen den Schriftstellern Ludwig Wieland, Heinrich Zschokke und ihm selbst eine gesalzene Komödie geschrieben, die zu den bekanntesten Dramen der deutschen Literatur gehört. DER ZERBROCHENE KRUG zeigt einen Richter im Fegefeuer der eigenen Seelennöte, weil er eine Tat richten soll, die er selbst begangen hat. Er zappelt wie ein Fisch an der Angel, ist eigentlich fast in den Regionen des Fegefeuers zu Hause - so verwerflich ist dieser Kerl - und kommt nur durch seine Position, seine Autorität recht weit, bis die Schlinge sich doch zuzieht.

Dass dabei die Justiz sehr schlecht wegkommt macht auch die Radikalität des Gesellschaftskritikers und Reformators Kleist aus, der rastlos und zeitweise von Wahnsinnsattacken getrieben durch die Lande reiste, die preußische Reform weitertreiben wollte. Nach einer stabilen Phase 1792-1799 mit sieben Jahren Soldatendasein studierte er drei Semester u.a. Mathematik und Physik, reiste nach Paris und in die Schweiz, begann 1802 die Arbeiten am ZERBROCHENEN KRUG, wollte 1803 Napoleon gegen England als Soldat unterstützen, arbeitete statttdessen ab 1804 bis 1806 im preußischen Finanzdepartment Königsberg und geriet auf dem Rückweg nach Berlin im Januar 1807 in französische Gefangenschaft. Er landete im Kriegsgefangenenlager Châlons-sur-Marn und wurde im Herbst 1807 wieder entlassen. Dort entstand AMPHYTRION und PENTHESILEA. 1808 schrieb er seine HERMANNSSCHLACHT unter dem Eindruck des Widerstands Spaniens gegen Napoleon. 1809 wollte er eine patriotisch-nationalistische Zeitschrift GERMANIA starten, die sich wegen Kapitulation Österreichs erledigte. Kleist wollte von seinen Dramen leben und bekam finanzielle Probleme, sein Anteil am väterlichen Vermögen war nach 1801 schnell verbraucht, das Einkommen brüchig. 1810 gründete er die BERLINER ABENDBLÄTTER, mit aktuellen Polizeiberichten als Kaufanreiz für die Masse. Das Projekt fiel der Zensur zum Opfer. Auch seine Erzählungen aus dieser Zeit konnten ihn nicht mehr ernähren, sein Drama PRINZ VON HOMBURG wurde bis 1814 verboten. Ohne je eine wirkliche Heimat zu finden, bis auf die im Freitod 1811 am Stolper Loch/Kleiner Wannsee im Südosten von Berlin, wo Kleist seine krebskranke Freundin Henriette Vogel und sich selbst erschoss, wirkt sein Leben hektisch, sprunghaft, sogar paradox - aber auch sehr schöpferisch.

Verblüffenderweise war die erste Fassung des ZERBROCHENEN KRUGS, die 1808 in Weimar unter der Regie unseres werten Goethes uraufgeführt wurde, ein Flop. Die Zuschauer und Presse moserten über das Stück, bezeichneten es als langweilig und lehnten es als abgeschmackt ab. Wahrscheinlich war es auch die Degoutanz seiner Beschreibung, die den Richter Adam auf dem Fluchtweg seiner nächtlichen Tat zum Hosenscheißer karikiert. Nichtsdestotrotz ist Kleists Sprache und Handlungskonstruktion trotz ihrer Verstaubtheit so bissig und witzig, dass sie heute noch einen Abend ohne Langeweile erlaubt. Sein Spott auf Religion und Justiz sucht seinesgleichen.

Oliver Reese am Frankfurter Schauspiel hat ursprünglich zwei Stücke zusammengestellt, die die brüchige Realität der gerichtlichen Wahrheitsfindung in autoritären Zeiten zum Thema hat. Einmal Kleist und einmal Ferdinand von Schirachs TERROR. Am Silvesterabend 2015 konnte man DER ZERBROCHENE KRUG alleine sehen. Das Geschehen in die 60er-Jahre geholt, modernisierte Szenerie, der Inhalt zeitlos und spielbar, solange es Gerichtsverhandlungen gibt und Fehltritte von Richtern möglich sind. Das Stück spielt im Original 1685 im nichtexistenten holländischen Huisum in der Provinz Utrecht. Es setzt die Shakespearsche Tradition des analytischen Dramas im ÖDIPUS fort, Richter Adams Klumpfuß ist hier ein deutliches äußeres Zeichen, denn auch Ödipus hatte einen.

Richter Adam (Max Mayer blutig und hyperaktiv vertuschend auf der moralischen Flucht) ist 
recht ramponiert, ohne Hosen, verkratzt, enorme Verletzungen im Gesicht und auf dem Kopf, so taucht er im Gericht auf. Der Schreiber Licht (Nico Holonics hinterlistig ermittelnd), der auch immer Licht ins Dunkle bringt, ahnt Schlimmes und fragt gleich peinlich nach, was denn das zu bedeuten hätte. Er vermutet Übles. Und so ist es auch. "Ein jeder trägt den Stein des Anstoßes in sich", äußert der Richter und behauptet, er sei wegen eines Alptraumes aus dem Bett gestürzt.
Bettina Hoppe, Carina Zichner, Max Mayer,
Martin Rentzsch

Foto: Birgit Hupfeld

Mir träumt’, es hätt’ ein Kläger mich ergriffen, 
Und schleppte vor den Richtstuhl mich; und ich,
Ich säße gleichwohl auf dem Richtstuhl dort,
Und schält’ und hunzt’ und schlingelte mich herunter,
Und judicirt den Hals ins Eisen mir.


Aber es war etwas ganz anderes vorgefallen. Es braucht einen überraschenden Besuch des Gerichtsrats Walter (Martin Rentzsch erst streng, dann vertuschend um bürgerliche Contenance ringend), der so streng prüft, dass der letztgeprüfte Richter Pfaul sich wegen aufgedeckter Veruntreuung aufhängen wollte, aber gerade noch gerettet wurde, eine aufgebrachte Frau Marthe Rull (Bettina Hoppe als wuterfüllte dauerwellengelockte Amazone der 60ies) mit einem zerbrochenen Krug, das Töchterchen Eve (fassungslose, aber gerechtigkeitsliebende Carina Zichner mit strahlendem Augenblau), das alles ausgelöst, ohne dass sie es wollte, ein scheinbar schuldiger Bauernjunge Ruprecht (geschickt um den heißen Brei herum, bis er fast auspackt: Lukas Rüppel), der aus dem Zimmer Eves rannte, und ein Unbekannter (zunächst "Lebrecht", der Bösewicht und Sündenbock, dann der Teufel) sowie die Zeugin Brigitte (eine russisch gestylte Skandalnudel mit endlos langen Beinen im Stil der 60er Jahre, die den Würdenträger ordentlich auf die Matratze zwingt: Constanze Becker), die schwere Anklage erhebt.


Richter Adam muss einen Prozess eröffnen, weil der Gerichtsrat zusehen möchte, obwohl die Kläger dem Adam sehr bekannt sind und ihn offensichtlich schwer belasten können. Es beginnt ein Winden und Drehen, Aufbrausen und Abwiegeln, Lügen und Betrügen, Drohen mit Zorn und Nachteilen für immer. Und das alles ohne Perücke! Der Gerichtsrat muss des Öfteren einschreiten und um juristische Form bitten, treibt der Adam doch zu Abwegiges. Steht zu Beginn nur eine scheinbare Lappalie: "Seht ihr den Krug? – Oh ja, wir sehen ihn! – Nichts seht ihr, mit Verlaub. Die Scherben seht ihr. Der Krüge schönster ist entzweigeschlagen!", wird später ein schwerwiegendes Vergehen. Das Zertrümmern aller niederländischen Geschichte und Kultur (aufgemalt auf dem Krug) steht hier als ein Zeichen der Zerstörung, die der Richter betrieb. Denn es war der Dorfrichter Adam, der diesen Krug zerbrach, als er aus Eves Kammer floh, weil deren Verlobter Ruprecht hinter ihm her war. Und es war Ruprecht, der ihm mit einer Türklinke diese Wunden beibrachte, weil er Adam beim Koitus mit der Verlobten erwischte. Die Perücke wird nach der Tat von Frau Brigitte aus dem Spalier vor Eves Fenster gefischt ("Jedwedes Übel ist ein Zwilling", bemerkte Adam zum Verlust). Sie desavouiert den Richter als Hosenscheißer, der auf der Flucht in die Hosen macht und ein Denkmal unter einem Baum hinterlässt. Sie hörte zuvor auch Evchen laut rufen. "Was macht er, Niederträchtiger? Ich werde die Mutter rufen!" Auch die Spur ist so eindeutig, der Klumpfuß im Schnee, dass die Pranger sich schon freuen. Aber Brigitte sagt nicht, dass der Richter es war, sondern bezichtigt den Teufel, der mit Gestank an ihr vorbei!


Bettina Hoppe, Carina Zichner, Nico Holonics,
Max Mayer, Martin Rentzsch

Foto: Birgit Hupfeld
Was find ich euch für eine Spur im Schnee?
Rechts fein und scharf und nett gekantet immer,
Ein ordentlicher Menschenfuß,
Und links unförmig grobhin eingetölpelt
Ein ungeheurer klotz’ger Pferdefuß.


War die ganze Zeit erst der Lebrecht der Sündenbock, hier ganz klar korrupt beschlossene Sache zwischen den beiden Justizvertretern beim Gläschen Wein, wird's jetzt sehr eng. Weil alle vor dem Richter letztlich noch kuschen, ging das Spiel weiter. Nur der emporstrebende Gerichtsschreiber Licht verrät und belastet Adam direkt, indem er dessen stinkende Hose als Beweis vorführt und die Lügengeschichten über den Verlust der ehrwürdigen Perücke preisgibt. Richter Adam verurteilt Ruprecht autoritär schleunigst zu Gefängnis, um alles abzuschließen, ihn zum Schweigen zu bringen. Die Wahrheit ist so krass und unvertuschbar, dass bei Reese der Gerichtsrat dieses Mal die Verhandlung stoppt: "Geschlossen ist die Session!" 
Evchen sollte schon früher auf Drängen des Gerichtsrats aussagen, was sie zuerst noch ablehnte, jetzt aber, nachdem der Geliebte hinter Gitter soll, lässt sie die Bombe platzen. Nicht umsonst nimmt sie auf dem Richterstuhl Platz und Adam auf dem Angeklagtensitz. Eve erklärt, Adam habe sie mit einem gefälschten Dokument in die Irre geführt. Ruprecht hätte angeblich ohne Intervention des Richters seinen Kriegsdienst in Ostindien ableisten müssen, was den sicheren Tod bedeutet hätte. Adam bot sich an, Ruprecht davor zu bewahren, als er bei ihr auftauchte, und verschaffte sich so Zutritt zu ihrem Zimmer. Dort sei er zudringlich geworden.

Nachdem das lang Vermutete endlich ausgesprochen ist, lässt der Regisseur den Gerichtsrat Hals über Kopf abreisen, um nicht ein neues Urteil verlangen zu müssen, auch um die Korruptheit der Gerechtigkeit zu zeigen.

Erst als Marthe Rull sich beim Gerichtsrat nach dem Sitz der Regierung in Utrecht erkundigt, weil sie beabsichtigt, den Fall des zerbrochenen Kruges am Hof vorzutragen, ruft Walter aus der Ferne, dass Adam vom Dienst suspendiert sei, Licht eine rühmliche Zukunft vor sich haben werde und alle anderen den Ort nicht verlassen dürften. Kleine Freiheiten der Regie haben den Kleist am Ende deutlicher gemacht und schärfer. Eve und Ruprecht können sich wieder ihrer Liebe zuwenden.

Die Callgirl-Skandale der letzten Jahrzehnte dämmern an diesem Abend mit herauf, die gerissene und teils auch lächerliche Rolle des eigentlichen Schuldigen im Rotlicht zu zeigen. Eve freilich eine sittsame Bürgerstochter, die mit Rotlicht nichts am Hut hat. Dafür Brigitte, 
eine Durchtriebene, die Aufdeckerin des Skandals. Ihre Person verschiebt den Fokus auf die Doppelmoral des Würdenträgers. Kleist ergo modern und spannend, dennoch seine Sprache unberührt gelassen.