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Dichterhain, Bände 1 bis 4

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Dichterhain, Bände 5 bis 8

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Sonntag, 3. Januar 2016

Wie war's bei DER ZERBROCHENE KRUG von Kleist im Schauspiel Frankfurt?

Max Mayer, Martin Rentzsch, Constanze
 Becker, Nico Holonics, 
Carina Zichner
Foto: Birgit Hupfeld





Ach die Moral, die Bestechlichkeit und der Autoritätsglaube ... Heinrich von Kleist, geboren am 18.10.1777 in Frankfurt an der Oder, hat zwischen 1803 und 1806 im Zuge eines poetischen Wettkampfs zwischen den Schriftstellern Ludwig Wieland, Heinrich Zschokke und ihm selbst eine gesalzene Komödie geschrieben, die zu den bekanntesten Dramen der deutschen Literatur gehört. DER ZERBROCHENE KRUG zeigt einen Richter im Fegefeuer der eigenen Seelennöte, weil er eine Tat richten soll, die er selbst begangen hat. Er zappelt wie ein Fisch an der Angel, ist eigentlich fast in den Regionen des Fegefeuers zu Hause - so verwerflich ist dieser Kerl - und kommt nur durch seine Position, seine Autorität recht weit, bis die Schlinge sich doch zuzieht.

Dass dabei die Justiz sehr schlecht wegkommt macht auch die Radikalität des Gesellschaftskritikers und Reformators Kleist aus, der rastlos und zeitweise von Wahnsinnsattacken getrieben durch die Lande reiste, die preußische Reform weitertreiben wollte. Nach einer stabilen Phase 1792-1799 mit sieben Jahren Soldatendasein studierte er drei Semester u.a. Mathematik und Physik, reiste nach Paris und in die Schweiz, begann 1802 die Arbeiten am ZERBROCHENEN KRUG, wollte 1803 Napoleon gegen England als Soldat unterstützen, arbeitete statttdessen ab 1804 bis 1806 im preußischen Finanzdepartment Königsberg und geriet auf dem Rückweg nach Berlin im Januar 1807 in französische Gefangenschaft. Er landete im Kriegsgefangenenlager Châlons-sur-Marn und wurde im Herbst 1807 wieder entlassen. Dort entstand AMPHYTRION und PENTHESILEA. 1808 schrieb er seine HERMANNSSCHLACHT unter dem Eindruck des Widerstands Spaniens gegen Napoleon. 1809 wollte er eine patriotisch-nationalistische Zeitschrift GERMANIA starten, die sich wegen Kapitulation Österreichs erledigte. Kleist wollte von seinen Dramen leben und bekam finanzielle Probleme, sein Anteil am väterlichen Vermögen war nach 1801 schnell verbraucht, das Einkommen brüchig. 1810 gründete er die BERLINER ABENDBLÄTTER, mit aktuellen Polizeiberichten als Kaufanreiz für die Masse. Das Projekt fiel der Zensur zum Opfer. Auch seine Erzählungen aus dieser Zeit konnten ihn nicht mehr ernähren, sein Drama PRINZ VON HOMBURG wurde bis 1814 verboten. Ohne je eine wirkliche Heimat zu finden, bis auf die im Freitod 1811 am Stolper Loch/Kleiner Wannsee im Südosten von Berlin, wo Kleist seine krebskranke Freundin Henriette Vogel und sich selbst erschoss, wirkt sein Leben hektisch, sprunghaft, sogar paradox - aber auch sehr schöpferisch.

Verblüffenderweise war die erste Fassung des ZERBROCHENEN KRUGS, die 1808 in Weimar unter der Regie unseres werten Goethes uraufgeführt wurde, ein Flop. Die Zuschauer und Presse moserten über das Stück, bezeichneten es als langweilig und lehnten es als abgeschmackt ab. Wahrscheinlich war es auch die Degoutanz seiner Beschreibung, die den Richter Adam auf dem Fluchtweg seiner nächtlichen Tat zum Hosenscheißer karikiert. Nichtsdestotrotz ist Kleists Sprache und Handlungskonstruktion trotz ihrer Verstaubtheit so bissig und witzig, dass sie heute noch einen Abend ohne Langeweile erlaubt. Sein Spott auf Religion und Justiz sucht seinesgleichen.

Oliver Reese am Frankfurter Schauspiel hat ursprünglich zwei Stücke zusammengestellt, die die brüchige Realität der gerichtlichen Wahrheitsfindung in autoritären Zeiten zum Thema hat. Einmal Kleist und einmal Ferdinand von Schirachs TERROR. Am Silvesterabend 2015 konnte man DER ZERBROCHENE KRUG alleine sehen. Das Geschehen in die 60er-Jahre geholt, modernisierte Szenerie, der Inhalt zeitlos und spielbar, solange es Gerichtsverhandlungen gibt und Fehltritte von Richtern möglich sind. Das Stück spielt im Original 1685 im nichtexistenten holländischen Huisum in der Provinz Utrecht. Es setzt die Shakespearsche Tradition des analytischen Dramas im ÖDIPUS fort, Richter Adams Klumpfuß ist hier ein deutliches äußeres Zeichen, denn auch Ödipus hatte einen.

Richter Adam (Max Mayer blutig und hyperaktiv vertuschend auf der moralischen Flucht) ist 
recht ramponiert, ohne Hosen, verkratzt, enorme Verletzungen im Gesicht und auf dem Kopf, so taucht er im Gericht auf. Der Schreiber Licht (Nico Holonics hinterlistig ermittelnd), der auch immer Licht ins Dunkle bringt, ahnt Schlimmes und fragt gleich peinlich nach, was denn das zu bedeuten hätte. Er vermutet Übles. Und so ist es auch. "Ein jeder trägt den Stein des Anstoßes in sich", äußert der Richter und behauptet, er sei wegen eines Alptraumes aus dem Bett gestürzt.
Bettina Hoppe, Carina Zichner, Max Mayer,
Martin Rentzsch

Foto: Birgit Hupfeld

Mir träumt’, es hätt’ ein Kläger mich ergriffen, 
Und schleppte vor den Richtstuhl mich; und ich,
Ich säße gleichwohl auf dem Richtstuhl dort,
Und schält’ und hunzt’ und schlingelte mich herunter,
Und judicirt den Hals ins Eisen mir.


Aber es war etwas ganz anderes vorgefallen. Es braucht einen überraschenden Besuch des Gerichtsrats Walter (Martin Rentzsch erst streng, dann vertuschend um bürgerliche Contenance ringend), der so streng prüft, dass der letztgeprüfte Richter Pfaul sich wegen aufgedeckter Veruntreuung aufhängen wollte, aber gerade noch gerettet wurde, eine aufgebrachte Frau Marthe Rull (Bettina Hoppe als wuterfüllte dauerwellengelockte Amazone der 60ies) mit einem zerbrochenen Krug, das Töchterchen Eve (fassungslose, aber gerechtigkeitsliebende Carina Zichner mit strahlendem Augenblau), das alles ausgelöst, ohne dass sie es wollte, ein scheinbar schuldiger Bauernjunge Ruprecht (geschickt um den heißen Brei herum, bis er fast auspackt: Lukas Rüppel), der aus dem Zimmer Eves rannte, und ein Unbekannter (zunächst "Lebrecht", der Bösewicht und Sündenbock, dann der Teufel) sowie die Zeugin Brigitte (eine russisch gestylte Skandalnudel mit endlos langen Beinen im Stil der 60er Jahre, die den Würdenträger ordentlich auf die Matratze zwingt: Constanze Becker), die schwere Anklage erhebt.


Richter Adam muss einen Prozess eröffnen, weil der Gerichtsrat zusehen möchte, obwohl die Kläger dem Adam sehr bekannt sind und ihn offensichtlich schwer belasten können. Es beginnt ein Winden und Drehen, Aufbrausen und Abwiegeln, Lügen und Betrügen, Drohen mit Zorn und Nachteilen für immer. Und das alles ohne Perücke! Der Gerichtsrat muss des Öfteren einschreiten und um juristische Form bitten, treibt der Adam doch zu Abwegiges. Steht zu Beginn nur eine scheinbare Lappalie: "Seht ihr den Krug? – Oh ja, wir sehen ihn! – Nichts seht ihr, mit Verlaub. Die Scherben seht ihr. Der Krüge schönster ist entzweigeschlagen!", wird später ein schwerwiegendes Vergehen. Das Zertrümmern aller niederländischen Geschichte und Kultur (aufgemalt auf dem Krug) steht hier als ein Zeichen der Zerstörung, die der Richter betrieb. Denn es war der Dorfrichter Adam, der diesen Krug zerbrach, als er aus Eves Kammer floh, weil deren Verlobter Ruprecht hinter ihm her war. Und es war Ruprecht, der ihm mit einer Türklinke diese Wunden beibrachte, weil er Adam beim Koitus mit der Verlobten erwischte. Die Perücke wird nach der Tat von Frau Brigitte aus dem Spalier vor Eves Fenster gefischt ("Jedwedes Übel ist ein Zwilling", bemerkte Adam zum Verlust). Sie desavouiert den Richter als Hosenscheißer, der auf der Flucht in die Hosen macht und ein Denkmal unter einem Baum hinterlässt. Sie hörte zuvor auch Evchen laut rufen. "Was macht er, Niederträchtiger? Ich werde die Mutter rufen!" Auch die Spur ist so eindeutig, der Klumpfuß im Schnee, dass die Pranger sich schon freuen. Aber Brigitte sagt nicht, dass der Richter es war, sondern bezichtigt den Teufel, der mit Gestank an ihr vorbei!


Bettina Hoppe, Carina Zichner, Nico Holonics,
Max Mayer, Martin Rentzsch

Foto: Birgit Hupfeld
Was find ich euch für eine Spur im Schnee?
Rechts fein und scharf und nett gekantet immer,
Ein ordentlicher Menschenfuß,
Und links unförmig grobhin eingetölpelt
Ein ungeheurer klotz’ger Pferdefuß.


War die ganze Zeit erst der Lebrecht der Sündenbock, hier ganz klar korrupt beschlossene Sache zwischen den beiden Justizvertretern beim Gläschen Wein, wird's jetzt sehr eng. Weil alle vor dem Richter letztlich noch kuschen, ging das Spiel weiter. Nur der emporstrebende Gerichtsschreiber Licht verrät und belastet Adam direkt, indem er dessen stinkende Hose als Beweis vorführt und die Lügengeschichten über den Verlust der ehrwürdigen Perücke preisgibt. Richter Adam verurteilt Ruprecht autoritär schleunigst zu Gefängnis, um alles abzuschließen, ihn zum Schweigen zu bringen. Die Wahrheit ist so krass und unvertuschbar, dass bei Reese der Gerichtsrat dieses Mal die Verhandlung stoppt: "Geschlossen ist die Session!" 
Evchen sollte schon früher auf Drängen des Gerichtsrats aussagen, was sie zuerst noch ablehnte, jetzt aber, nachdem der Geliebte hinter Gitter soll, lässt sie die Bombe platzen. Nicht umsonst nimmt sie auf dem Richterstuhl Platz und Adam auf dem Angeklagtensitz. Eve erklärt, Adam habe sie mit einem gefälschten Dokument in die Irre geführt. Ruprecht hätte angeblich ohne Intervention des Richters seinen Kriegsdienst in Ostindien ableisten müssen, was den sicheren Tod bedeutet hätte. Adam bot sich an, Ruprecht davor zu bewahren, als er bei ihr auftauchte, und verschaffte sich so Zutritt zu ihrem Zimmer. Dort sei er zudringlich geworden.

Nachdem das lang Vermutete endlich ausgesprochen ist, lässt der Regisseur den Gerichtsrat Hals über Kopf abreisen, um nicht ein neues Urteil verlangen zu müssen, auch um die Korruptheit der Gerechtigkeit zu zeigen.

Erst als Marthe Rull sich beim Gerichtsrat nach dem Sitz der Regierung in Utrecht erkundigt, weil sie beabsichtigt, den Fall des zerbrochenen Kruges am Hof vorzutragen, ruft Walter aus der Ferne, dass Adam vom Dienst suspendiert sei, Licht eine rühmliche Zukunft vor sich haben werde und alle anderen den Ort nicht verlassen dürften. Kleine Freiheiten der Regie haben den Kleist am Ende deutlicher gemacht und schärfer. Eve und Ruprecht können sich wieder ihrer Liebe zuwenden.

Die Callgirl-Skandale der letzten Jahrzehnte dämmern an diesem Abend mit herauf, die gerissene und teils auch lächerliche Rolle des eigentlichen Schuldigen im Rotlicht zu zeigen. Eve freilich eine sittsame Bürgerstochter, die mit Rotlicht nichts am Hut hat. Dafür Brigitte, 
eine Durchtriebene, die Aufdeckerin des Skandals. Ihre Person verschiebt den Fokus auf die Doppelmoral des Würdenträgers. Kleist ergo modern und spannend, dennoch seine Sprache unberührt gelassen.

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