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Mittwoch, 8. Januar 2014

Prosa: TEUFELSKINDER (16) - Vom Mahle der Lästerer (3) - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly

Vom Mahle der Lästerer


3

Akt um 1860
»Eigentlich war es gar keine Ironie«, fuhr Mesnilgrand fort, »daß wir die Rosalba Pudika nannten, denn dieser Name stand ihr auf der Stirn. Die Schöpfung hatte ihn mit Rosenschrift darauf geschrieben. Sie machte nicht nur in Anbetracht dessen, was die doch war, einen zum Verwundern keuschen Eindruck. Es schien, als hätte sich die Natur in ihr den Scherz gewagt, Wollust und Keuschheit zu mischen und mit dieser himmlischen oder teuflischen Mischung die höchste Sinnenfreude, die ein Weib einem Mann zu gewähren vermag, in die Welt zu setzen. Es war keine Heuchelei dabei. Die Rosalba war keusch wie sie wollüstig war, und das Allermerkwürdigste: sie war beides zugleich. Sie konnte die gewagtesten Dinge sagen oder tun, es war etwas entzückend Verschämtes in ihrem Wesen, etwas in hohem Grade Rätselhaftes. Das ist mir unvergeßbar. Sie ging aus dem tollsten Bacchanal hervor wie Eva vor dem ersten Sündenfall. Dieses nach grenzenloser Hingabe kaum mehr lebende, zu Tod erschöpfte Weib war dann wieder die unberührbare Jungfrau, voll von neuem Zauber holdester Verwirrung und rosiger Schamhaftigkeit. Dieser Wandel machte einen rasend vernarrt in sie. Die Sprache hat nicht die Mittel, dies in die rechten Worte zu fassen.«

Der Erzähler machte eine nachdenkliche Pause. Keiner der ganzen Tafelrunde brach das Schweigen.

»Ihr könnt euch denken«, fuhr Mesnilgrand fort, »daß diese Seltsamkeit erst nach und nach bekannt wurde. Zunächst sah man an ihr nichts als ein hübsches junges Mädchen. Hätte der Major, als er zum Regiment kam, sie uns als seine rechtmäßige Frau oder als seine Tochter vorgestellt, so hätten wir es ihm ruhig geglaubt. >Ein verteufelt schönes Weib!‹ flüsterten die Weiberkenner. ›Aber eine Zierpuppe !‹ Damals lagen wir an der Grenze zwischen Spanien und Portugal. Wir waren hinter den Engländern her und rasteten in Orten, die unserem König Joseph nicht ganz feindselig waren. Der Major und die Rosalba lebten wie in einer heimatlichen Garnison.

Gewiß erinnert ihr euch, mit welcher Erbitterung der Krieg in Spanien geführt wurde, dieser langwierige Krieg, dem kein anderer glich. Aber zwischen den heißen Kämpfen und blutigen Schlachten gab es doch Zeiten, wo wir uns mitten in dem halberoberten Lande damit belustigten, den nicht ganz ›Afrancesadas‹ unserer Standorte Feste zu geben. In jenen Tagen war es, wo die Rosalba, die längst die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, allgemein berühmt wurde. Sie leuchtete unter den dunkelhäutigen Schönheiten des Landes wie ein Diamant in einem Diadem von Similisteinen, wie eine echte Perle an einer Perlmutterkette. Und es dauerte nicht lange, so waren alle Offiziere in sie verschossen, vom jüngsten Leutnant bis zum Divisionsgeneral. Sie war mit einem Male zum Mittelpunkt eines Kreises zügelloser Männer geworden. Wie ein Sultan warf sie ihr Taschentuch dem zu, der ihr gefiel – und es gefielen ihr viele. Der Major tat, als sähe er nichts von alledem. War er zu selbstgefällig, um eifersüchtig zu sein, oder schmeichelte es ihm, seine Kameraden, die ihn, wie er wohl wußte, verachteten oder haßten, unter dem Bann dieses Weibes zu sehen, deren Herr und Gebieter er war? Manchmal sprühte dunkles Feuer in seinen smaragdgrünen Augen, wenn sie sich auf einen unter uns richteten, von dem man gerade munkelte, er sei der Auserkorene seiner Gefährtin. Und da man immer das Niederträchtigste annahm, so legte man seine Gleichgültigkeit oder Blindheit in der für ihn übelsten Weise aus. Man meinte, sie sei weniger das Aushängeschild seiner Eitelkeit als vielmehr ein Köder, den sein Ehrgeiz auswarf. Dies und ähnliches ward gesagt, wie derlei eben gesagt wird. Er wußte davon nichts. Mir, der ich Anlaß hatte, ihn zu beobachten, war die unerschütterliche Haltung dieses Mannes, der Tag für Tag von seiner Geliebten betrogen wurde, ein Rätsel.

Bei der Zügellosigkeit, die sie in die Arme so vieler in Liebesdingen nichts weniger als heiklen Offiziere trieb, war Rosalba sehr bald im ärgsten Ruf, aber vor der Welt vergab sie sich nichts. Man gestatte mir diesen spitzfindigen Unterschied.

Wenn sie einen Geliebten hatte, war dies für sie ein Geheimnis ihres Schlafzimmers. Ob ihres Benehmens vor der Welt hatte der Major nicht den geringsten Anhalt, der Rosalba Vorwürfe zu machen. Wenn sie gewollt hätte, wäre es ihr wohl möglich gewesen, ihr Geschick an einen andern zu ketten. Einmal war ein Marschall so vernarrt in sie, daß er ihr aus seinem Marschallstock einen Sonnenschirmstock machen ließ. Aber wie die Frauen nun einmal sind. Die Karpfen sehnen sich nach ihrem Schlamm zurück, sagt Frau von Maintenon. Die Rosalba brauchte sich gar nicht erst zurückzusehnen. Sie blieb gleich drin, und ich sprang auch hinein ...«

»Bis dahin aber?« warf Mautravers wißbegierig ein.

»Wahrlich, da gibt es nicht viel zu berichten. Ihr kennt alle das schöne Lied aus der Regentschaft:

Quand Boufflers parut à la cour,
On crut voir la reine d'amour.
Chancun s'empressait à lui plaire,
Et chacun lavait... à son tour.

Eines Tages kam auch ich an die Reihe. Ich hatte bis dahin schon Weiber gehabt die schwere Menge. Das kann ich wohl sagen. Aber daß es solche wie die Rosalba gab, hatte ich mir nicht träumen lassen. Der Schlamm war ein Paradies. Ich bin kein Romanschreiber. Also kann ich es euch nicht bis eins einzelne schildern. Ich war ein Mann der Tat, der die Weiber nahm wie der Graf Almaviva – brutal. Ich war auch bei der Rosalba kein Romantiker. In dem Glück, das sie mir gewährte, spielten Seele, Geist, Eitelkeit nicht die geringste Rolle. Und doch hatte auch diese Liebe ihre Tiefe. Den Abgrund der Sinnlichkeit. Wie soll ich das deutlicher machen? Ich finde kein einigermaßen passendes Bild.

Ihr könnt euch vorstellen, daß ein Weib, das schon bei dem flüchtigsten Blick erglüht, vor Wollust lodert, wenn man es nicht bloß mit den Augen reizt. Ihr Leib war im Genuß ein Erlebnis. Und mit diesem, Leibe bereitete sie mir eines Abends ein Fest. Sie hatte die Kühnheit, mich zu empfangen, angetan nichts als ein durchsichtiges Gewand aus indischem Musselin. Ihr Körper schimmerte durch diesen Schleier, der zart wie ein Hauch war, dem Beben, mit seinen reinen Linien, mit dem Rosenrot der Scham und der Wollust. Sie sah in ihrer wolkigen Hülle aus wie ein lebendiges Bildwerk aus mattem Korall. Seitdem habe ich keinen Gefallen mehr an der weißen Haut der andern Weiber. Sie reizen mich nicht...«

Er warf eine Orangenschale, mit der er gespielt hatte, mit der Gebärde der Geringschätzung von sich.

»Unser Verhältnis dauerte einige Zeit«, fuhr Mesnilgrand fort, »ohne daß ich es satt bekam. Man kriegt solch ein Weib nicht satt. Sie verstand es, in das Erdenhafte etwas Überirdisches zu bringen. Trotzdem gab ich sie auf. Aus Selbstachtung. Aus Verachtung ihres Stolzes, der sogar in der tollsten Raserei jedwede Liebe und Achtung zu mir leugnete. Sie war eine Sphinx. Ein unerforschbares Rätsel. Aber eine glühende Sphinx. Ihre Doppelnatur reizte und verdroß mich. Überdies hatte ich die Gewißheit, daß sie sich gleichzeitig noch andere Seitensprünge erlaubte. Das alles gab mir die Kraft, mit einem Ruck die Zügel zu zerreißen, durch die mich diese Sirene an sich gefesselt hatte. Ich verließ sie, oder besser gesagt, ich ging nicht mehr zu ihr. Ich mied sie mit der Überzeugung, daß es kein zweites Weib wie sie gab. Das feite mich vor allen Weibern. Erst jetzt ward ich Soldat im eigentlichen Sinne. Ich lebte nur noch für den Krieg. Die Rosalba hatte mir das Wasser der Vergessenheit gereicht...«

»Und so bist du ein Achill geworden!« sagte der alte Mesnilgrand voll Stolz vor sich hin.

»Ein paar Monate, nachdem ich mit ihr gebrochen hatte«, erzählte der Rittmeister weiter, »setzte sich der Major Ydow im Kaffeehaus an meinen Tisch, und ich erfuhr von ihm beiläufig, daß seine Geliebte Gefährtin einem gewissen Ereignis entgegensah. Die Herren, die mit am Tisch saßen, blickten einander bedeutungsvoll an. Man lächelte. Aber der Major merkte es nicht oder wollte es nicht bemerken. Als er gegangen war, fragte mich einer meiner Regimentskameraden: ›Ist das dein Kind?‹ Heimlich hatte ich mir bereits die nämliche Frage vorgelegt. Ich getraute mir weder laut noch leise eine Antwort. Die Rosalba hatte mir nie eine Andeutung davon gemacht, auch nicht in der vertrautesten Stunde, und so konnte das Kind von mir, vom Major, von wer weiß wem sein ...«

»Das Kind des Regiments!« warf Mautravers dazwischen.

Mesnilgrand fuhr fort:

»Wie schon gesagt, die Rosalba war eine Sphinx, die ihre Geheimnisse wahrte. Sie in anderen Umständen zu wissen, machte einen merkwürdigen Eindruck auf mich. Ein paar Tage dachte ich an nichts anderes als daran: Ist dies Kind von mir? Schließlich aber legte sich diese kleine väterliche Beunruhigung. Es kamen Dinge, die mich stärker in Anspruch nahmen als der Zustand der Rosalba. Wir schlugen uns bei Talavera. Der Eskadronchef Titan fiel, und ich übernahm seine Schwadron.

Das wüste Gemetzel jener Tage steigerte die Feindseligkeit des Landes auf das äußerste. Wir kamen keinen Augenblick zur Ruhe. Die Rosalba folgte dem Regiment auf einem der Gepäckwagen, und dort kam auch ihr Kind zur Welt. Wenige Tage alt starb es. Der Major, der das kleine Geschöpf abgöttisch liebte – er glaubte offenbar, es sei unbedingt sein Kind –, war tiefbetrübt darüber und zeigte seinen übertriebenen Schmerz derartig aller Welt, daß man das Lächerliche daran übersah. Man vergaß, daß er unbeliebt war. Man bedauerte ihn. Die Rosalba hatte nichts an ihrer Schönheit eingebüßt. Sie trotzte jedwedem Angriff des Lebens. Bei dieser ihrer Natur hätte sie uralt werden können...«

»Sie ist also nicht uralt geworden, die Landstürzerin?« unterbrach ihn Ranconnet, den das Schicksal dieser Frau in Spannung versetzt hatte. Die Begegnung in der Kirche hatte er für den Augenblick vergessen. »Und du weißt etwas von ihrem Ende?«

»Etwas, ja!« erwiderte der Rittmeister mit eigentümlicher Betonung, wie um darauf zu deuten, daß er jetzt zum Kern seiner Geschichte gelange.

»Alle Welt hat geglaubt, und du auch, daß sie zusammen mit dem Major in den wilden Tagen von Talavera umgekommen sei. Es sind damals so viele verschollen. Aber das Schicksal der Rosalba war besonders seltsam. Ich will es erzählen.«

Mesnilgrand stützte die Ellbogen, auf den Tisch. Der Rittmeister Ranconnet umfaßte mit der Rechten den Stengel seines Weinglases wie den Griff seines Säbels.

Mesnilgrand begann von neuem:

»Der Krieg nahm kein Ende. Die wütenden Spanier, die fünfhundert Jahre darauf verwendet haben, die Mauren aus dem Lande zu vertreiben, hätten die gleiche Zeit auch uns gewidmet, wenn es hätte sein müssen. Wir drangen nur schrittweise vorwärts. Die eroberten Ortschaften mußten wir sofort befestigen und als Wall gegen den Feind verwenden. So kamen wir in den kleinen Ort Alcudia und blieben dort eine Zeitlang. Das große Kloster ward zur Kaserne verwandelt. Die Offiziere des Regiments lagen in den Häusern. Der Major beim Dorfschulzen. Da das Haus geräumig war, kamen die anderen Herren manchmal hin. Mit den Einwohnern verkehrten wir nicht. Der Franzosenhaß war zu toll geworden.

Die Rosalba war an diesen Empfangsabenden die Dame des Hauses und bewirtete uns mit einem Glas Punsch in ihrer unnahbaren Haltung, die mich immer ein Witz des Teufels dünkte. Draußen krachten die Schüsse der Vorposten.

Ich kümmerte mich nicht darum, wer meine Nachfolger in ihrer Gunst waren. Ich hatte mich völlig von ihr befreit und empfand weder Groll noch Eifersucht, noch die Bitternis der verletzten Eitelkeit. Ich war Zuschauer geworden. So scheute ich auch nicht das Haus des Majors. Die Rosalba unterhielt sich mit mir im Kreise der ändern, als hätten wir einander nie nahegestanden. Der Sinnenrausch von ehedem war verweht. Mitunter aber verspürte ich doch leise Sehnsucht nach dem Nocheinmal, ähnlich wie vor einem letzten Glas Sekt, das man schon beiseite geschoben hat, das man aber doch wieder ergreifen möchte, weil irgendein Lichtschimmer den Rest verlockend durchfunkelt.

Dies sagte ich ihr eines Abends, als ich einmal allein mit ihr war. Früher denn sonst hatte ich das Kaffeehaus verlassen, wo die Offiziere zusammensaßen beim Billard- und Kartenspiel. Es war ein heißer, beinahe afrikanischer Abend. Die glühende Sonne wollte sich nicht losreißen vom Himmel. Ich fand die Rosalba, kaum bekleidet, mit nackten Schultern, die schönen Arme bloß. Das Haar fiel ihr schwer in den Nacken, der in der Abendbeleuchtung erdbeerfarben schimmerte. Sie war verführerisch wie eine Teufelin.

So halbnackt saß sie am Tisch und neigte sich über einen Brief, den sie schrieb. Wenn sie etwas zu schreiben hatte, war es natürlich an einen Liebhaber zwecks erneuter Untreue. Als ich eintrat, war der Brief gerade fertig. Rosalba siegelte ihn zu und hielt eben die blaue silbergesprenkelte Siegellackstange in die Flamme einer vor ihr brennenden Kerze. Ich sehe alles das noch deutlich vor mir. Warum, das werdet ihr nun hören. ›Wo ist mein Mann?‹ fragte sie mich, in jener merkwürdigen Verwirrung, in die sie stets geriet, wenn sie in Gegenwart eines Mannes war.

›Beim Jeu. Er spielt wieder einmal wie wahnsinnig‹, berichtete ich ihr, die goldige Locke in ihrem Nacken betrachtend, die ich so oft geküßt hatte, und fügte scherzend hinzu: ›Irgendeine Tollheit ergreift an solch einem Abend jeden ...‹

Sie verstand mich, ohne davon überrascht zu sein. Sie war an die Lüsternheit der Männer genugsam gewöhnt. ›Torheit!‹ erwiderte sie langsam, während sich das heiße Rot ihrer Wangen zu Purpur wandelte. ›Ihre Tollheit ist vorüber.‹ Während sie dies sagte, drückte sie das Siegel auf das siedende Wachs, das alsbald erstarrte. ›Sehen Sie da‹, fuhr sie im Ton der Herausforderung fort. ›Ein Gleichnis Ihres Herzens! Im Augenblick noch siedend heiß und gleich darauf starr und kalt!‹

Damit drehte sie den Brief um und wollte die Aufschrift beginnen. Ich war wahrlich nicht eifersüchtig, aber doch begehrte ich zu wissen, an wen der Brief gerichtet sei. Ich beugte mich von rückwärts über sie. Indem ich sie dabei berührte, lehnte sie sich zurück und sah mich ver- wirrt-lüstern an, wie einen die Rosalba anzusehen pflegte, mit halbgeöffneten Lippen...

Da hörten wir den Major die Treppe heraufkommen.

Die Rosalba sprang auf.

›Er wird uns eine schreckliche Szene machen! Sicherlich hat er viel verloren, und dann ist er immer eifersüchtig und heftig. Schnell! Verstecken Sie sich in dem Schrank da!‹

Sie öffnete einen großen Kleiderschrank und drängte mich ohne weiteres hinein. Was sollte ich tun? Übrigens glaube ich, es gibt kaum Männer, die nie in ihrem Leben in einem Kleiderschrank oder in etwas Ähnlichem gesteckt haben, um dem Ehegatten oder dem rechtmäßigen Eigentümer eines weiblichen Wesens zu entgehen...« »Ich hab' einmal in einen Kohlenkasten kriechen müssen!« warf Selune lachend ein. »Ich war damals weißer Husar. Man stelle sich vor, wie ich ausgesehen habe, als ich wieder heraus durfte.« »Ja«, nahm der Rittmeister Mesnilgrand wieder das Wort. »Unter gewissen Umständen sind die verwegensten Kerle Feiglinge, einer zitternden Frau zuliebe. Wenn ich an den Schrank denke, wird mir noch heute übel, nach so vielen inhaltsreichen Jahren. Den Säbel an der Seite, in einem Kleiderschrank zu stecken, das ist der Gipfelpunkt der Lächerlichkeit! Noch dazu eines Frauenzimmers wegen, die gar keine Ehre zu verlieren hatte!

An derlei zu denken, hatte ich natürlich keine Zeit. Der Major war inzwischen in die Stube getreten. Die Rosalba hatte richtig vorausgesehen. Ydow befand sich in rasender Stimmung. Seine Anfälle von Eifersucht waren um so maßloser, gerade weil er sie vor uns zu verbergen ängstlich bemüht war. Offenbar fiel sein erster Blick auf den Brief, der auf dem Tisch liegengeblieben war und dank unserer verliebten Anwandlung noch keine Aufschrift trug. ›Was ist das für ein Brief?‹ fragte er mit rauher Stimme. ›Ein Brief nach Italien!‹ gab die Rosalba gelassen zur Antwort. Mit diesem Bescheid gab er sich nicht zufrieden. ›Das ist nicht wahr!< rief er grob. Seine Gemeinheit trat zutage. An diesem kurzen Wortwechsel erkannte ich den Ton, der zwischen den beiden Eheleuten herrschte. Sie hatten tagtäglich derartige Auftritte. Ich in meinem Schrank sah nichts, hörte aber alles. Ich vernahm sozusagen aus ihren Worten ihre Gesten, aus dem Klang ihrer Stimmen den Ausdruck ihrer Wut. Der Major verharrte dabei, den Brief lesen zu wollen, aber Rosalba weigerte sich hartnäckig, ihn herzugeben. Nun wollte er ihn mit Gewalt entreißen. Die Tritte der Füße und das Rascheln der Kleider zeigten mir an, daß sie miteinander rangen. Natürlich war der Major stärker als sie. Er entwand ihr den Brief und las ihn. Er ersah daraus, daß sie einen Liebhaber zu einem Stelldichein einlud, daß der Betreffende bereits beglückt worden war und daß er abermals von neuem beglückt werden sollte. Nur war der Name des Geliebten nicht genannt. Maßlos neugierig wie alle Eifersüchtigen war der Major auf den Namen dessen erpicht, mit dem er betrogen wurde. Aber umsonst. Das war die Vergeltung für den rohen Raub des Briefes und die vielleicht blutige Mißhandlung der Hand, die ihn festhalten wollte. Rosalba hatte im Kampf geschrien: ›Lump, du reißt mir die Hand ab!‹ In Ungewißheit gelassen, vernarrt, verhöhnt durch diesen Brief, der ihm nichts verriet, als daß Rosalba einen Liebhaber hatte – einen mehr –, geriet der Major in rasende, würdelose Wut und überschüttete seine Geliebte mit gemeinen Schimpfworten, mit groben Landsknechtsflüchen. In den rohesten Worten warf er ihr vor, sie sei – nun, was sie ja war. Er fand kein Maß. Auf alles das antwortete sie als echtes Weib, das keine Rücksicht mehr nimmt, das den Mann, an den sie gekettet ist, bis in die Eingeweide kennt und das längst weiß, daß in der Tiefe solch tierischen Zusammenhalts der ewige Krieg lauert. Sie war nicht so gemein wie er in seiner Wut, dafür aber grausamer, höhnischer. Sie lachte mit dem wahnsinnigen Lachen des erbittertsten Hasses und warf ihrem Beschimpfer Worte entgegen, wie sie die Frauen zu finden wissen, wenn sie einen Mann um den Verstand bringen wollen, Worte, die in die Fülle seines Ingrimms einschlagen wie Handgranaten in ein Pulverhaus. Mit eiskalten Worten schrie sie ihm ins Gesicht, sie liebe ihn nicht, habe ihn nie geliebt: ›Nie! Nie! Nie!‹ rief sie ihm zu, wild und frohlockend, als tanze sie auf seinen Nerven. Der Gedanke, daß dies wahr sein könne, war ihm das Schrecklichste, das Grausamste, das ihn am tiefsten Verwundende, denn im Grunde war seine Leidenschaft nichts als Eitelkeit. ›Und unser Kind!‹ warf er ein, als müsse dies ein Beweis ihrer Liebe zu ihm sein. ›Ach, unser Kind!‹ rief sie aus und begann höhnisch aufzulachen. ›Das war nicht von dir!‹ Der Major fauchte wie eine wilde Katze. Ich konnte mir deutlich vorstellen, wie unheimlich seine grünen Augen dabei funkeln mußten. Er stieß einen tollen Fluch aus und fragte: ›Na, von wem denn? Ich will den Kerl wissen, du verdammte ...‹ In seiner Stimme klang nichts Menschliches mehr. Sie lachte von neuem auf wie eine Hyäne. ›Das wirst du nicht erfahren!< erklärte sie und wiederholte diese Worte immer wieder. Und als sie ihn genugsam damit verhöhnt und gepeitscht hatte, begann sie eine lange Reihe von Namen aufzuzählen, deren Träger allesamt ihre Liebhaber gewesen waren. Jedem fügte sie den vollen Titel bei. Es war das ganze Regiment. ›Alle diese Herren habe ich gehabt! Aber keinen habe ich geliebt. Nur einen einzigen. Und von dem war mein Kind, das du so töricht bist, für deins zu halten! Den einen habe ich geliebt! Vergöttert! Hast du es nicht geahnt? Weißt du nicht, wer es ist?‹ Sie log. Nie hatte sie einen geliebt. Aber sie wußte, daß dieses falsche Bekenntnis den eitlen Major wie ein Dolchstoß treffen mußte. Sie stieß ihm die grausame Waffe tiefer und tiefer in den Leib, und zuletzt drehte sie sie gleichsam in der Wunde noch um, indem sie ihm die Worte zuzischte: ›Du Esel, da du es nicht herauskriegst, will ich's dir gestehen. Es war der Mesnilgrand!<

Nach diesem angeblichen – oder wirklichen? – Geständnis trat Totenstille ein.

›Hat er sie als stumme Antwort einfach erdrosselt?‹ fragte ich mich.

Da vernahm ich das Klirren von Glas, das in tausend Scherben bricht, mit aller Macht zu Boden geschleudert.

Wie schon erzählt, hielt der Major das Kind der Rosalba für das seine. Er hatte es maßlos geliebt und war über seinen Tod tief betrübt. Da es ihm im Bewegungskrieg, wo man jeden Tag an einem anderen Ort lebt, unmöglich war, dem Kind ein Grabmal zu errichten, um aber doch eine Art Totenkult zu treiben, hatte er das Herz des kleinen Toten einbalsamieren lassen und führte es in einer kleinen Glasurne überall herum. Es pflegte in einer Ecke des Schlafzimmers seinen Platz zu haben.

Diese Urne war in Scherben gegangen.

›Es war also nicht mein Kind!‹ schrie er. ›Du verruchte Metze!‹

Ich hörte, wie er mit seinen schweren Reiterstiefeln über die knirschenden Scherben trat. Er zertrat das Herz, das sein Abgott gewesen. Wahrscheinlich wollte Rosalba es der Vernichtung entreißen und es retten. Ich vernahm, daß die beiden abermals wild gegeneinander rangen. Ich hörte Schläge fallen.

Dann erscholl wieder die rauhe Stimme des Majors: ›So, wenn du ihn haben willst, hier hast da deinen Wechselbalg, alte Kokotte!«

Damit warf er ihr das Herz, das einst zärtlich geliebte, an den Kopf. Rosalba tat offenbar das nämliche. Eine Schandtat erzeugt die andere. Etwas Unerhörtes! Ein Vater und eine Mutter, die sich einander das Herz ihres toten Kindes in das Gesicht warfen!

Der ruchlose Kampf dauerte einige Minuten. Er war so erschütternd, daß ich zu keinem Entschluß kam. Ich hätte mich gegen die Schranktür stemmen, sie aufsprengen und in den Auftritt eingreifen können. Da erscholl ein Schrei, wie ich nie einen vernommen, und Sie, meine Herren, gewiß auch nicht – und wir haben doch genug Entsetzliches auf den Schlachtfeldern gehört! Jetzt hatte ich die Kraft, aus dem Schrank hervorzubrechen, und ich sah ... Unglaubliches! Die Rosalba war bezwungen über den Tisch gefallen, an dem sie ihren Brief geschrieben hatte. Der Major hielt ihren aller Hülle beraubten nackten Körper mit der einen Hand nieder. Sie wand sich unter dem ehernen Griff hin und her. Und was tat er mit der ändern Hand? Der Schreibtisch, die brennende Kerze und die Siegellackstange daneben hatten ihn auf den satanischen Einfall gebracht, sich mit diesen Dingen zu rächen: die Untreue zu besiegeln, wie sie den Brief gesiegelt hatte! In tollem Eifer vollzog er die entsetzliche Rache!

›Du Hure verdienst keine andere Strafe«, rief er aus, ›als an deiner gottverdammten.. .‹

Der Major bemerkte mein Erscheinen nicht. Über sein verstummtes Opfer gebeugt, drückte er eben den Säbelknauf als Siegel auf die Stelle mit dem siedenden Wachs. Ich ging auf ihn los und stieß ihm meinen Säbel von hinten in den Rücken, tief hinein, bis zum Korb, ohne ihn vorher anzurufen.«

»Das hast du recht gemacht!« rief Sélune. »So ein Kerl verdient es nicht anders!«

»Die umgekehrte Geschichte von Abälard und Heloise!« spottete der Ex-Pfaffe.

»Ein ebenso merkwürdiger wie seltener Fall!« bemerkte der Doktor Bleny. Ohne darauf, einzugehen, fuhr Mesnilgrand in seiner Erzählung fort: »Der Major sank tot auf die Ohnmächtige. Ich riß ihn weg und warf ihn zu Boden. Inzwischen war die Dienerin herbeigekommen, ebenfalls auf den grellen Schrei hin.

›Holen Sie sofort den Feldscher!‹ rief ich ihr zu.

Ich hatte aber nicht die Zeit, sein Erscheinen abzuwarten. Das Alarmsignal erklang. Ich mußte zu meiner Schwadron. Der Feind hatte den Ort überfallen. Die Posten waren meuchlings niedergestochen.

Ehe ich zu meinen Pferden ging, warf ich einen letzten Blick auf den schönen starren mißhandelten Weibeskörper und hob das Herz auf, das im Staub lag. War es doch das Herz meines Kindes! Ich steckte es in die Feldbinde.«

Mesnilgrand hielt inne. Es klang etwas wie leise Rührung aus seiner weltmännischen Stimme.

»Und die Rosalba?« fragte Ranconnet.

»Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört«, erwiderte der Rittmeister.

»Ist sie daran gestorben? Ist sie am Leben geblieben? Hat der Feldscher noch kommen können? Ich weiß es nicht. Nach dem Gefecht – es war der Überfall von Alcudia, der uns so verhängnisvoll ward! – suchte ich ihn, vermochte ihn aber nicht zu finden. Er wurde vermißt wie damals so viele andre. Unser Regiment hatte schlimme Verluste.«

»Die Geschichte ist famos!« erklärte Mautravers. »Schade, daß sie zu Ende ist! Aber gestatte eine Frage! Sie wäre eigentlich Sache Ranconnets; aber ich sehe, er sitzt traumverloren hinter seinem Humpen. Sage einmal, in welchem Zusammenhang steht deine Geschichte nun zu deinem Beichtgäng am vergangenen Sonntag? Das möchten wir doch alle gern wissen.«

»Gewiß! Das soll nicht vergessen werden!« antwortete Mesnilgrand. »Also hört! Jahrelang habe ich das Herz bei mir herumgeschleppt wie eine Reliquie. Ich war abergläubisch. Seit ich aber nach Waterloo nicht mehr Soldat bin, wollte ich immer und immer das schon arg geschändete Herz nicht länger schänden. Doch es verging Zeit um Zeit. Schließlich hab' ich mich hier an einen Priester gewandt und hab' es ihm am vergangenen Sonntag in seinen Beichtstuhl gereicht. Er wird es in geweihter Erde zur Ruhe bestattet haben.«

Der Rittmeister Ranconnet blieb still und stumm. Auch die andern hatten nichts zu fragen. Dachten sie insgeheim nach, wie gut und schön es wäre, wenn die Kirchen keinen andern Zweck hätten, als dann und wann ein totes oder auch ein lebendiges Herz in ihrem Dämmerdunkel aufzunehmen, das sonst nirgends in der Welt eine Zufluchtsstätte fände?

»Der Kaffee soll aufgetragen werden!« befahl der alte Herr von Mesnilgrand mit dürrer Stimme. »Wenn er wie deine Geschichte so stark ist, wird er gut sein!«

Montag, 11. November 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (3) - Don Juans schönste Liebschaft - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly

Don Juans schönste Liebschaft
Unschuld ist des Teufels Leckerbissen

1

»Er lebt also noch immer, der alte Sünder?«
»Donnerwetter, ja! Und ausgiebig lebt er!« entfuhr es mir. »Der liebe Gott gönnt es ihm, gnädige Frau«, fügte ich rasch hinzu, weil mir einfiel, daß ich eine sehr fromme Dame vor mir hatte. »Le Roi est mort! Vive le Roi! hieß es in der guten alten Zeit, ehe der Königsthron in tausend Stücke ging wie Sèvres-Porzellan. Ein einziger Fürst trotzt dem Demokratentum: Don Juan!«
»Natürlich! Der Teufel läßt nie locker!« bemerkte meine alte Freundin überzeugt.
»Vor drei Tagen hat er sogar ...«
»Wer? Der Teufel?«
»Nein, Don Juan ... Gottvergnügt hat er an einem stimmungsvollen abendlichen Festessen teilgenommen. Raten Sie: wo?«
»Natürlich in ihrer abscheulichen Maison d'or.«
»Aber nein, gnädige Frau! Dorthin kommt Don Juan nicht mehr. Dort findet Seine Durchlaucht keine Sättigung. Der hohe Herr war von jeher ein wenig vom Schlage des berühmten Mönches Arnold von Brescia, von dem die Sage geht, er habe sich nur von Seelenblut genährt. Seelenblut, das beliebt Don Juan in seinen Sekt zu träufeln. Und das gibt es längst nicht mehr in den Schenken, in die man mit kleinen Mädchen hingeht.«
»Am Ende kommt heraus«, meinte die fromme Dame spöttisch, »daß er im Kloster der Benediktinerinnen getafelt hat, mit den Damen –« »... von der ewigen Anbetung. Stimmt, gnädige Frau! Die Verehrung, die der Teufelskerl einmal entflammt, die erlischt nie und nimmer. So scheint es mir.«
»Ich finde, Sie sind ein recht lästerlicher Katholik«, bemerkte sie gedehnt und ein wenig verschnupft. »Ich bitte Sie, erlassen Sie mir die Einzelheiten eines Soupers mit Ihren Frauenzimmern! Mir heute abend Neues von Don Juan erzählen zu wollen, das haben Sie mir nur so vorgegaukelt...«
»Ich gaukele nie etwas vor, gnädige Frau!« beteuerte ich. »Die Teilnehmerinnen an besagtem Festmahl, diese Frauenzimmer waren zunächst keine Frauenzimmer und insbesondere nicht meine – leider ...«
»Nun hören Sie aber auf!«
»Gestatten Sie mir, bescheiden zu sein! Es waren ...«
»Die mille è trè?« fragte sie neugierig, wie gewandelt, beinahe liebenswürdig.
»Nicht alle zusammen, gnädige Frau. Nur ein Dutzend davon. Also in anständigen Grenzen.«
»Wie man es nimmt!«
»Schon deshalb, weil das Ihnen wohlbekannte Boudoir der Gräfin von Chiffrevas nicht gar vielen Gästen Platz bietet. Es mögen sich daselbst große Dinge abspielen. Der Raum selbst ist aber entschieden eng.«
»Was Sie sagen!« rief sie überrascht. »Man hat in ihrem Boudoir gespeist?«
»Tatsächlich, gnädige Frau! Warum auch nicht? Auf dem Schlachtfeld schmeckt es einem immer vorzüglich. Man wollte dem Ritter Don Juan ein ganz besonderes Festmahl bereiten. Wo hätte dies für ihn ehrenvoller geschehen können als auf dem Schauplatz seiner Ruhmestaten, dort, wo ihm tausend Erinnerungen duften – nach Myrte statt nach Lorbeer. Das war ein reizender Gedanke, voll süßer Wehmut.«
»Und Don Juan?« fragte sie im Ton wie Orgon in Molières Stück fragt: Und Tartüff?
»Don Juan ist kein Spielverderber. Das Mahl hat ihm trefflich gemundet. Er war so recht der Hahn im Korbe. Und von wem ist die Rede? Von keinem anderen als Ihrem guten lieben Grafen Amadee von Ravilès.«
»Der! Ja, das ist in der Tat der leibhafte Don Juan!« gab sie zu.
Und obschon die alte Betschwester über die Jahre der Schwärmerei längst hinweg war, verlor sie sich doch in Träumereien an den Grafen Amadee, einen echten Sprossen der Juans. Wenn Gott diesem uralten und unsterblichen Geschlecht die Welt nicht geschenkt hat, so hat er zum mindesten dem Teufel erlaubt, sie ihm erobern zu helfen.

2

Was ich der alten Marquise Guy de Ruy erzählt hatte, war die reine Wahrheit. Keine drei Tage war es her, daß zwölf Damen der sittsamen Vorstadt St. Germain – Sie brauchen keine Angst zu haben; ich nenne keine Namen –, also ein volles Dutzend, von dem die Klatschbasen der guten Gesellschaft jeder nachsagen, sie habe mit dem Grafen Amadee auf dem vertrautesten Fuße gestanden, auf den köstlichen Einfall geraten waren, ihn als einzigen Herrn zu einem abendlichen Mahl einzuladen, zur Feier von – ja, wovon? Das ward nicht gesagt. Eine gewagte Sache, so ein Festmahl? Aber die Frauen, als Einzelwesen so feig, sind im Trupp keck und kühn. Vielleicht hätte es nicht eine der Gastgeberinnen gewagt, den Grafen zu zweit bei sich zu einem Abendessen einzuladen; aber vereint, eine von der andern gedeckt, hatten sie alle miteinander keine Angst, einen munteren Reigen um den verführerischen, den guten Ruf jeder einzelnen gefährdenden Mann zu bilden...
»Schon der Name!« warf die Marquise ein.
»Ein vielsagender Name! Ravilla de Ravilès (zu deutsch etwa: Nimm von Nimmen)!«
Der Graf, der – nebenbei bemerkt – dem Gebot dieses Raubritternamens immer gehorchte, war die Verkörperung aller Verführer, von denen uns Geschichte und Dichtung berichten, und sogar die Marquise Guy de Ruy, die alte Lästerzunge mit ihren blauen, kalten, scharfen Augen (das heißt: Herz und Hirn waren bei ihr noch kälter und schärfer!) behauptete: Wenn in unserer Zeit, wo die Frauen ihre Bedeutung von ehedem von Tag zu Tag mehr verlieren, überhaupt noch ein Mann an Don Juan erinnere, so sei es unbedingt Graf Amadee. Leider war er nur noch ein Don Juan im letzten Akte. Dem Fürsten von Ligne wollte es bekanntlich nicht in seinen geistvollen Kopf, daß auch Alkibiades einmal ein biederer Fünfziger geworden wäre, wenn ihn der Tod nicht schon zehn Jahre vordem abgerufen hätte. Ravila hatte also in dieser Hinsicht nicht das Glück des großen Atheners. Aber wie der Graf von Orsay, dieser lebendig gewordene Sieger des Michelangelo, schön blieb bis zu seinem letzten Stündlein, so besaß auch er jene Schönheit, die just ein Erbe des Geschlechts der Juans ist, jener geheimnisvollen Rasse, die sich nicht vom Vater auf den Sohn weitererhält, deren Abkömmlinge vielmehr einmal hier und einmal da, in Raum und Zeit voneinander entfernt, in der großen Familie der Menschheit auftauchen.
Graf Amadee war die leibhafte Schönheit, die zuversichtliche, heitere, herrenhafte, mit einem Wort die Don-Juan-Schönheit. Dies Wort schließt alles in sich ein und erübrigt jedwede weitere Schilderung. Hatte er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, daß ihm seine Schönheit immerdar treu blieb? Allerdings kam mit der Zeit auch der Himmel gewissermaßen zu seiner Rechnung. Die Tigerklauen des Lebens drückten auch ihm ihre Spuren nach und nach auf die göttliche Stirn, um die so viele Frauenlippen Rosenkränze gewunden, und an den Schläfen seines starkknochigen Spötterhauptes leuchteten die ersten silbernen Haare auf, die den Einbruch der Barbaren und den Untergang des Reiches ansagten. Er trug sie übrigens mit dem stolzen Gleichmut, den das Machtgefühl erzeugt. Nur die Frauen, die ihn geliebt hatten, betrachteten sie bisweilen mit Wehmut. Lasen sie auf seiner Stirn, daß auch ihnen die Stunde schlug? Ja, ihnen wie ihm kommt der Tag, an dem der steinerne Gast zum Nachtmahl einlädt, auf das nur noch die Hölle folgt, die Hölle des Alters als Vorläuferin der wirklichen. Und das war es vielleicht, was sie auf den Einfall gebracht hatte, ihm, ehe er sich zu jenem letzten grausigen Abendmahl hinsetzte, ein froheres Gastmahl zu bieten, das sie zu einem Meisterwerk zu machen gedachten, einem Meisterwerk des guten Geschmacks, erlesener Genüsse, aristokratischen Glanzes, heiterer Lebensfreude, reich an schönen Erinnerungen und hübschen Gedanken, kurzum: das reizendste, köstlichste, leckerste, berauschendste und vor allem das allerseltsamste abendliche Festmahl! Wohlverstanden: das allerseltsamste! Gewöhnlich vereint der Drang nach neuer Lust die Menschen zu einem Abendessen. Hier aber war es der Rückblick, die Wehmut, beinahe die Entsagung, die lächelnde oder lachende Entsagung, die noch einmal ein Fest, eine letzte hohe Feier begehrte, eine letzte Torheit, ein mutwilliges Zurück zur Jugend auf ein paar flüchtige Stunden, ein letzter Dionysoszug, mit dem es dann zu Ende war auf ewig.
Die Veranstalterinnen dieses Mahles, das arg verstieß gegen die ängstlichen Sitten ihres Lebenskreises, mochten Ähnliches empfinden wie Sardanapal auf seinem Scheiterhaufen, umgeben von seinen Frauen, seinen Pferden, seinen Sklaven, seinen Schätzen und all dem Prunk seines üppigen Daseins. Auch sie häuften alle Kostbarkeiten ihres Lebens um etwas, was flammend von ihnen scheiden sollte. Über was sie an Schönheit, an Witz, Vermögen, Schmuck und Macht geboten, sollte alles zugleich bei diesem Abschiedsfest mitwirken. Der Mann, für den sie diese Pracht entfalteten, war ihnen mehr wert als ganz Asien dem Sardanapal. Sie waren für ihn gefallsüchtiger denn je Frauen vor einem Mann, ja vor einem Salon von Männern. Ihre Liebäugelei entsprang der Eifersucht, die man sonst vor der Welt verbirgt, die diese Frauen aber nicht zu verheimlichen brauchten, denn jede wußte, daß ihr Held jeder anderen von ihnen einmal angehört hatte – und geteilte Schande ist keine Schande mehr. Jede hegte den Wunsch, sich in seinem Herzen eine Grabschrift zu sichern.
Und er – er empfand an diesem Abend den satten, unumschränkten, zwanglosen, kennerischen Genuß eines morgenländischen Fürsten oder eines Beichtvaters in einem Nonnenkloster. Als Herr und Meister thronte er auf dem Ehrenplatz der Tafelrunde, gegenüber der Gräfin von Chiffrevas, inmitten des pfirsichblütenfarbenen Frauengemaches. Mit seinen hell-dunklen Augen, deren Höllenblau manch betörtes Frauenherz für das Blau des Himmels gehalten hatte, überschaute er den glänzenden Kranz der zwölf Damen, die in erlesener Ordnung um ihn zu Tisch saßen, in seiner Fülle von Blumen, Kristall und Kerzenlicht. Alle Stufen von Weibesreife boten sich seinem umfassenden Blick, von der Purpurglut der vollen Edelrose bis zum Bernsteingold der Muskatellertraube. Nirgends nur winkte das allzu zarte Resedagrün jener Jungfrauen, die Lord Byron nicht ausstehen konnte, weil sie nach neubackenem Kuchen röchen. Derlei kleine steifbeinige Küken waren hier nicht versammelt. Hier prangte der saftige, verschwenderische reiche Herbst in voller Entfaltung. Blendende stolze Busen wogten aus tief ausgeschnittenen Kleidern, und die in Brillanten glitzernden nackten kräftigen Arme wetteiferten mit denen der Sabinerinnen, als sie mit ihren römischen Räubern rangen, wohl imstande, die Räder eines Lebenswagens mit kurzem Griff aufzuhalten.
Von allerlei reizvollen Einfällen war bereits die Rede. Einem solchen zufolge bedienten bei Tisch nur Kammerjungfern, damit es nicht heißen konnte, etwas habe den Einklang eines Festes, dessen Königin das Weib war, doch gestört. So konnte Ritter Don Juan aus dem Hause Ravila seine Raubtieraugen von einem Meer von leuchtendem Fleisch ergötzen, an einem lebendig gewordenen Bild des üppigen Rubens, und seine stolze Seele baden in den mehr oder minder klaren Weihern so vieler Weiberherzen. Denn im Grunde, man mag es ihm abstreiten, so viel man will, ist Don Juan doch ein Anhänger jener Lehre, daß der Geist alles sei. Er gleicht darin dem Höllenfürsten selbst, dem es um die Seelen mehr zu tun ist als um die Leiber und der sich mit Vorliebe diese verschreiben läßt.
Geistreich, vornehm, ganz im Tone der Vorstadt St. Germain, aber an diesem Abend verwegen wie die Pagen des Königlichen Hofes, als es noch König und Pagen gab, waren sie voll sprühendem Witz, voll Schwung und Bewegung und voll unnachahmlichem Brio. Sie fühlten sich allem überlegen, was sie an ihren besten Abenden je gewesen, im Vollbesitz einer geheimen Kraft, die ihrem Innern entquoll und die sie bis dahin nur unbewußt besessen hatten.
Das Glück über diese Entdeckung, das dreifach gesteigerte Lebensgefühl, dazu die körperlichen geheimen Fluten, die für nervöse Geschöpfe so wesentlich sind, der reiche Lichterschwall, der berauschende Duft der Blumen, die sich in der Überwärme des dunstschweren Raumes verhauchten, der aufreizende Sekt, der ganze Sinn dieser Feier, die den prickelnden Beigeschmack des Sündhaften hatte, wie ihn die Neapolitanerinnen bei ihrem Sorbet lieben, der entzückende Gedanke, eine Mitschuldige an diesem frechen Gastabend zu sein, das trotzdem nichts gemein hatte mit den wüsten Gelagen der Régence, sondern eben ein fürstliches Festmahl des neunzehnten Jahrhunderts blieb, bei dem sich an den vor voller Lebenslust gespannten Miedern doch keine Stecknadel löste: alles das wirkte vereint, um die Saiten der Wunderharfen, die in allen diesen erlesenen Geschöpfen bebten, bis zum Zerreißen anzuschlagen und ihnen und ihm nie wieder hörbare Klänge und überirdische Tonfolgen zu entlocken.
Graf Amadee, der diesen seltsamen Abend am unvergleichlichsten schildern könnte, wird auch dieses Blatt seiner Denkwürdigkeiten ungeschrieben lassen. Wie ich der Marquise Guy de Ruy bereits gesagt, habe ich an diesem Fest nicht teilnehmen dürfen, aber wenn ich einige Einzelheiten davon berichte, insbesondere die Erzählung, die den Abschluß bildet, so verdanke ich dies dem Grafen selbst, der sich eines Abends die Mühe gegeben hat, mich einzuweihen, treu der im Geschlecht der Juans herkömmlichen Nichtverschwiegenheit.

(Fortsetzung folgt)

Montag, 30. Dezember 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (15) - Vom Mahle der Lästerer (2) - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly


Vom Mahle der Lästerer


2

Es braucht kaum gesagt zu werden, daß die fünfundzwanzig Gäste in der Mehrzahl Soldaten waren. Aber es waren auch einige Ärzte, große Realisten, darunter sowie etliche ehemalige, nicht im besten Ruf stehende Geistliche, Altersgenossen des alten Mesnilgrand, und als Krone des Ganzen ein Volksvertreter aus der Umsturzzeit, der für die Hinrichtung des Königs gestimmt hatte. Es waren also Landsknechte oder Jakobiner, leidenschaftliche Bonapartisten oder eingefleischte Volksmänner, alle bereit, aufeinander loszugehen und sich gegenseitig zu vernichten, alle nur in einem gleichgesinnt: in der Mißachtung Gottes und der Kirche.
Der Rittmeister von Mesnilgrand hob sich von diesem Kreis in jeder Weise glänzend ab. Die anwesenden Offiziere, die einstigen Dandys der Kaiserzeit, waren zweifellos schöne und fesche Männer, aber ihre Schönheit war Mittelware, Alltagsgut; körperlich rein oder unrein, entbehrte sie des Seelischen, und ihre Eleganz war zu komissig. Man sah ihnen noch in ihrer jetzigen Bürgertracht das Steife der abgelegten Uniform an. Die anderen Kumpane, die ärztlichen Weltverächter und die entgleisten Pfaffen, hielten nicht auf ihr Äußeres; sie sahen beinahe verkommen aus. Nur Mesnilgrand war, wie die Frauen sich ausdrückten, adorabel angezogen. Da noch Vormittag war, trug er einen entzückenden schwarzen offenen Gehrock (von der Firma Staub in Paris), eine Krawatte von mattgelber Seide mit winzigen, kaum erkennbaren, handgestickten, goldenen Sternchen, dunkle, ins Bläuliche schimmernde Tuchhosen, eine unauffällige Weste aus schwarzem Kaschmir, durchbrochene seidene Strümpfe und – da er im eigenen Hause war, keine Schuhe, sondern – tiefausgeschnittene Halbschuhe mit hohen Absätzen, wie sie Chateaubriand bevorzugte, der bestbeschuhte Kavalier seiner Zeit nach dem Großfürsten Constantin; an Schmuck nichts aus Gold, nur – über den breiten Falten seiner nicht verschlungenen, militärisch schlichten Krawatte – eine kostbare antike Kamee mit einem Alexanderkopf. Man brauchte nur das Erlesene dieser Kleidung zu sehen, um sofort zu wissen, daß der Künstler über den Soldaten gekommen war und ihn gewandelt hatte und daß ihr Träger von anderer Art war als alle übrigen, obwohl er sich mit den meisten auf du stand.
Punkt zwölf Uhr mittags begann die Tafel. Auch darin lag Spott. In der Normandie herrscht nämlich der Glaube, der Papst setze sich um diese Zeit an seine Tafel und wünsche dabei der ganzen Christenheit: Gesegnete Mahlzeit. Dieses Benedicite sollte lächerlich gemacht werden. Wenn es vom Doppelturm der Stadtkirche Mittag zu läuten begann, versäumte es der alte Herr von Mesnilgrand nie, unter voltairischem Lächeln mit seiner schrillen Stimme zu rufen: »Zu Tisch, meine Herren! So fromme Christen wie wir dürfen sich des römischen Segens nicht berauben!« Und dies war gleichsam das Losungswort für alle die Lästereien, die nun das Tischgespräch bildeten. Was an einer Tafelrunde von Männern geredet wird, ist immer leichtfertig, noch dazu von solchen Männern wie hier. Man kann wohl sagen, alle Herrenessen, bei denen keine Dame den Vorsitz hat, Einklang schaffend und Milde ausströmend, arten, selbst wenn geistreiche Köpfe zusammen sind, in ein schreckliches Handgemenge aus, wie die Gelage der Lapithen und Kentauren, bei denen es vermutlich auch keine Frauen gab. Bei solchen Festmählern verlieren die gesittetsten und besterzogenen Männer etwas von ihrer Höflichkeit und Vornehmheit. Das ist nicht weiter verwunderlich; fehlt doch die Galerie, der sie gefallen wollen. Sie verfallen einer gewissen Nachlässigkeit, die beim geringsten Anprall, beim geringsten Widerstreit der Meinungen, ins Gröbliche geht. Wenn dies schon bei den Gelagen der edelsten alten Athener geschah, so mußte es erst recht der Fall sein bei den Gastmählern im Hause Mesnilgrand, deren Teilnehmer immer ein wenig im Kasino oder in der Kantine wenn nicht an ärgeren Orten zu sein dünkten.
Beim dritten Gang ging es bereits hoch her. Man hatte erst über politische Dinge geredet, voller Haß gegen die Bourbonen; dann war man zu den Frauen übergegangen, dem unerschöpflichen Gesprächsstoff, besonders in Frankreich, dem geckenhaftesten Lande der Erde.
Man begann Abenteuer zu erzählen. Jeder wollte den anderen überbieten. Die teuflischen Beichten wurden immer gepfefferter. Der ehemalige Abbé Reniant, ein Kurpfuscher, der in den Wirren der Umsturzzeit aus einem Priester ohne Glauben ein Arzt ohne Wissenschaft geworden war, kam an das Wort. Nachdem er noch einmal bedächtig aus seinem Glas geschlürft hatte, begann er:
»Es war schon eine Weile her, daß ich meine Kutte an den Nagel gehängt hatte. Die Revolution war im schönsten Gange. Es war um die Zeit, Bürger Lecarpentier, als Sie sich auf Ihrer Rundreise als Volksvertreter hier in *** aufhielten. Erinnern Sie sich an ein junges Mädchen aus Hémevès, das Sie eines Tages einsperren ließen? Ein übergeschnapptes Frauenzimmer. Eine Epileptikerin.«
Der Volksmann vermochte sich nicht zu entsinnen.
»Man nannte sie die Tesson«, begann der ehemalige Abbé wieder. »Josefine Tesson, wenn ich mich nicht irre. Ein großes dickbackiges Frauenzimmer. Die Chouans und die Pfaffen hatten ihr den Kopf verdreht. Sie machte es sich geradezu zur Lebensaufgabe, diese Kerle zu verstecken, diese gottverdammten Pfaffen. Wo es galt, so einem Halunken das Leben zu retten, trotzte sie Tod und Teufel. Sie verschaffte ihnen die unglaublichsten Zufluchtsorte; versteckte sie, wenn's sein mußte, in ihrem Bett, unter ihrem Unterrock. Wäre es gegangen, so hatte sie einen dort versteckt, wo sie die Büchse mit den Hostien trug, zwischen ihren Brüsten ...«
»Potztausend!« warf Rançonnet ein, den die Geschichte in Wallung versetzte.
»Bloß zwei!« scherzte Reniant. »Dafür aber von anständigem Kaliber ...«
Es erhob sich allgemeines Gelächter.
»Ein sonderbares Ciborium«, meinte der Doktor Bleny verträumt, »so ein Weiberbusen!«
»Das Ciborium der Not!« erklärte Reniant, dessen Erregung sich inzwischen gelegt hatte. »Alle die heimatlosen, verfolgten und gehetzten Priester, denen sie sich verbergen half, vertrauten ihr die Hostien an, die sie in ihrem Busen überall dahin trug, wo sie benötigt wurden. Man setzte das größte Vertrauen in sie und redete ihr ein, sie sei eine Heilige. Das stieg ihr zu Kopf. Am liebsten wäre sie eine Märtyrerin geworden. Unerschrocken eilte sie mit der Hostienbüchse hin und her, bei Tag und Nacht, bei Wind und Wetter, über Stock und Stein, zu den verborgenen Priestern, um Sterbenden das Viatikum zu verschaffen.
Eines Abends erwischten wir das Frauenzimmer, ich und ein paar brave Burschen der Teufelskompagnie von Rossignol, in einem Bauernhof, wo ein Chounan abfahren wollte. Einer von uns, der durch ihre strammen Vorgebirge Appetit auf sie gekriegt hatte, karessierte ' sie ein bißchen. Aber es bekam ihm schlecht. Die Katze schlug ihm ihre zehn Krallen in die Visage, so fest, daß er zeitlebens an sie denkt. Trotzdem ließ der Kerl nicht locker. Ein kecker Griff förderte die Herrgottsbüchse zutage. Wir zählten ein Dutzend Hostien, die ich in Gegenwart des schreienden und uns wie eine Rasende anfallenden Weibstückes vor die Säue werfen ließ ...«
Er hielt inne und brüstete sich wie der Hahn auf dem Mist.
»Abbé, das war wohl das letztemal, daß Sie das Abendmahl gereicht haben?« fragte der alte Herr von Mesnilgrand im Fistelton.
»Die lieben Tierchen werden sich doch den Magen nicht verdorben haben?« spottete einer der Tafelrunde.
Nach diesen groben Lästereien herrschte eine kleine Weile Stille.
»Und du, Mesnil?« rief Rançonnet seinem Kameraden zu. Dem darauf Lauernden dünkte es eine gute Gelegenheit, auf den Kirchgang zu kommen. »Sagst du gar nichts zu dieser famosen Geschichte des trefflichen Abbé?«
Mesnilgrand sagte in der Tat nichts. Den Kopf in die Hand gestützt, saß er am Tisch und hörte ohne Abscheu, aber auch ohne Vergnügen, den Scheußlichkeiten zu, die seine verrohten Genossen vorbrachten. Er hatte sich über all das hinausgelebt. Es berührte ihn nicht. Er hatte schon zuviel davon hören und sehen müssen, in den vielen Jahren und in der Umgebung, in der er lebte. Die Umwelt ist das Schicksal des Menschen. Im Mittelalter wäre Mesnilgrand ein begeisterter Kreuzritter geworden; im neunzehnten Jahrhundert konnte er nichts anderes als napoleonischer Soldat werden. Namentlich während des Feldzuges in Spanien hatte er Greueltaten miterlebt, die denen der Landsknechte des Konnetabel von Bourbon bei der Einnahme Roms kaum nachstanden. Zum Glück ist die Umgebung nur für gemeine Geister und Gemüter ein böses Verhängnis. In starken Seelen lebt und webt etwas, das nicht verdirbt. Und dies war in Mesnilgrand untilgbar.
Müde, fast schwermütig erwiderte er dem Frager:
»Was soll ich dazu sagen? Herr Reniant hat da keine Heldentat vollbracht. Hätte er im Glauben, daß es einen Gott gäbe, einen lebendigen Gott, einen Gott der Rache, das Wahrzeichen dieses Gottes den Säuen vorgeworfen, auf die Gefahr hin, auf der Stelle vom Blitz erschlagen zu werden und in die Hölle zu kommen, ja, dann läge zum mindesten Bravour darin, dem Tod und noch Schlimmerem zu trotzen. Denn wenn es einen Gott gäbe, hätte er ihn zu ewigen Martern verdammen können. Sinnlos war die Tat in jedem Fall, aber dann wäre sie immerhin tapfer gewesen. Doch dieser gewisse Reiz an der Sache fehlt völlig. Der Abbé glaubt nicht an Gott, und der Glaube an das Symbol ist ihm nur lächerlicher Aberglauben. Er war somit von der Gefahrlosigkeit seines Tuns überzeugt. Für ihn war es nichts Mutigeres, als hätte er den Inhalt einer Schnupftabaksdose in den Koben geschüttet.«
»Ja, ja!« ließ sich der alte Herr von Mesnilgrand vernehmen, indem er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und seinen Sohn unter dem Schild seiner vorgehaltenen Hand betrachtete. Er hatte stets Verständnis für das, was sein Sohn sagte, mochte er der nämlichen oder anderer Meinung sein. Hier war er übrigens derselben Ansicht. Er wiederholte darum auch seinen Ausruf: »Ja, ja!«
Mesnilgrand fuhr fort:
»Was ich aber an der Geschichte schön finde, und zwar wunderschön, mein lieber Rançonnet, und was ich mir zu bewundern erlaube, obgleich auch ich an nichts besonders viel glaube, das ist dieses Mädel, diese Tesson, wie Sie sie nennen, Herr Reniant. Indem sie das, was sie für ihren Gott hielt, an ihrem jungfräulichen Busen durch alle Gefahr und Gemeinheit der Welt zuversichtlich und kühn trug, machte sie ihre Brust zum Tabernakel ihres Gottes und sich selbst zum Altar, der jeden Augenblick mit ihrem eigenen Blut übergossen werden konnte. Meine Herren, wir, wir Offiziere – du, Rançonnet! Du, Mautravers! Du, Sélune! – wir, die wir das Kreuz der Ehrenlegion tragen, erworben in so vielen blutigen Schlachten, haben wir nicht mit diesem Symbol den Kaiser auf unserer Brust getragen? Und hat es nicht so manches Mal unsern Mut erhöht, daß wir ihn so trugen? Gibt es einen Unterschied zwischen dem und jenem? Bei meiner Ehre, ich finde die Tat des Mädchens einfach erhaben! Ich möchte wissen, was aus ihr geworden ist. Vielleicht ist sie tot. Vielleicht lebt sie, armselig irgendwo in einem Winkel. Und wenn ich Marschall von Frankreich wäre und sie begegnete mir barfuß, im Schmutz, um ein Stück Brot bettelnd, ich würde von meinem Pferd steigen und den Hut vor ihr abnehmen, vor diesem edlen Wesen, als trüge es wirklich einen Gott im Herzen.« Er stützte sein Haupt nicht mehr auf die Hand. Er hatte den Kopf nach rückwärts geworfen, und während er diese demütigen Worte sprach, wuchs er in die Höhe wie die Braut von Korinth in Goethes Gedicht. Ohne daß er aufgestanden wäre, überragte er alle die andern um sich herum.
»Geht die Welt aus ihren Fugen?« rief Mautravers, indem er mit der Faust auf einen Pfirsichkern schlug und ihn wie mit einem Hammer zertrümmerte. »Husarenrittmeister und Frontsoldaten ducken sich vor Betschwestern?«
Da erhob Rançonnet seine Stimme:
»Schließlich sind das nicht die schlechtesten Liebsten, die bei jeder Freude, die sie uns spenden oder wir ihnen, der ewigen Verdammnis zu verfallen wähnen. Aber, verehrter Mautravers, es gibt etwas Schlimmeres als Betschwestern zu Bettschwestern zu machen. Und das ist, wenn einer, der den Säbel geführt, selber zum Betbruder herabsinkt. Wißt ihr, wo ich den Rittmeister von Mesnilgrand erst am vorigen Sonntag gegen Abend angetroffen habe?«
Niemand gab eine Antwort. Alle aber waren nachdenklich geworden, und alle schauten nach dem Rittmeister Rançonnet hin.
»Bei meinem Säbel«, fuhr dieser fort. »Angetroffen ist falsch ausgedrückt; denn ich hüte meine Reiterbotten vor dem Staub der Kapellen. Ich sah zufällig, wie er durch das Nebenpförtchen in den Tempel hineinschlich. Starr vor Erstaunen fragte ich mich: Donnerwetter, seh' ich Gespenster? War das nicht Mesnils Gestalt? Aber was hat der in der Kirche zu suchen? Mir schossen die verliebten Abenteuer mit den Satansweibern der spanischen Klöster durch den Schädel. Also auch hier? dachte ich bei mir. Er kann die Unterröcke noch nicht lassen? Der Teufel soll mich holen! Ich muß sehen, welche Farbe der hat! Und so trat ich in den Gebetsladen. Es war verflucht duster drinnen. Ich stieg und stolperte über ein Dutzend alter Weiber, die ihren Rosenkranz ableierten. Schließlich aber erwischte ich meinen Mesnil, gerade als er durch das Seitenschiff wieder hinauswollte. Aber – glaubt ihr mir? – er hat mir nicht eingestanden, was er im Pfaffenzwinger zu suchen hatte. Und das ist es, warum ich ihn hier vor euch festnagle. Er soll uns jetzt Rede und Antwort stehen!«
»Na also, Mesnil! Rede! Sprich! Rechtfertige dich!« erklang es von allen Seiten.
»Mich rechtfertigen?« wiederholte Mesnilgrand belustigt. »Ich brauche mich nicht zu rechtfertigen, wenn ich tue, was mir Vergnügen macht. Ihr, die ihr die Inquisition in Grund und Boden verdammt, am Ende seid ihr selber Inquisitoren. Ich bin am vergangenen Sonntag in der Kirche gewesen, weil es mir so beliebte.«
»Und warum hat es dir beliebt?« fragte der Rittmeister Mautravers.
»Das möchtet ihr wohl gern wissen?« meinte Mesnilgrand lachend. »Ich bin hineingegangen – wer weiß, vielleicht um zu beichten? In jedem Fall bin ich an einem Beichtstuhl gewesen. Na, Rançonnet, du wirst nicht behaupten können, daß meine Beichte lange gedauert habe.« Sie merkten, daß er sich über sie lustig machte; aber es lag etwas Geheimnisvolles in der ganzen Sache, das die Tafelrunde reizte.
»Deine Beichte!« sagte Rançonnet betrübt, denn er nahm die Worte seines Kameraden ernst. »Himmelkreuzdonnerwetter! So bist du also für uns verloren!« Aber schon schreckte er vor seinem Gedanken zurück wie ein bodenscheues Pferd vor seinem eigenen Schatten. Er bäumte sich auf und rief: »Hol mich der Henker! Das ist ganz unmöglich! Nein, keiner von uns allen hier kann sich das vorstellen: der Eskadronchef Mesnilgrand wie ein altes Weib, die Knie auf dem Betschemel, die Nase am Gitter vor dem Schilderhaus eines neugierigen Pfaffen! Dieses Bild will: nicht in meinen Schädel! Hunderttausend Granaten sollen mich treffen!«
»Du bist sehr gütig. Ich danke dir«, sagte Mesnilgrand voll drolliger Nachsicht.
»Scherz beiseite!« meinte Mautravers. »Mir geht es wie Rançonnet. Ich kann auch nicht an die Kapuzinade eines Mannes von deinem Schlag glauben. Die Sorte macht selbst in der Todesstunde nicht den Froschsprung ins Weihwasserbecken!«
»Was andere in ihrer Todesstunde tun, das weiß ich nicht«, erwiderte Mesnilgrand langsam. »Aber was mich anbelangt, so liegt mir daran, ehe ich zur Ewigen Armee abreite, mein Packzeug fix und fertig zu haben.«
Dies Soldatenwort ward so ernst ausgesprochen, daß Stille eintrat. Mesnilgrand fuhr fort:
»Lassen wir das! Aber da Rançonnet um jeden Preis wissen will, warum ich am Sonntag in der Kirche war, ich, der ich vielleicht ein ebenso großer Heide bin wie mein alter Kamerad, so soll die Geschichte erzählt werden. Eine Geschichte steckt nämlich dahinter. Wenn er sie vernommen hat, ist sein ungläubiges Gemüt vielleicht imstande, meinen Kirchgang zu begreifen.« Er machte eine Pause, wie um der Geschichte, die jetzt anhob, eine gewisse Weihe zu geben. Dann begann er:
»Rançonnet, du erwähntest vorhin Spanien. Just in diesem Lande hat sich meine Geschichte zugetragen. Mancher von euch hat wie ich den unseligen Feldzug von 1808 mitgemacht. Es war der Anfang vom Ende des Kaiserreichs und all unseres Mißgeschicks. Wer dort gefochten hat, der wird diesen Krieg nie vergessen. Vor allem du nicht, Sélune!«
Der Major Sélune saß dem Erzähler gegenüber, neben dem alten Herrn von Mesnilgrand. Er war ein Mann von stattlichem soldatischem Äußeren. Bei einem Vorpostengefecht in Spanien hatte er einen Säbelhieb bekommen, quer über das Gesicht, von der linken Schläfe mitten durch die Nase bis zum rechten Ohr. Die gewaltige Wunde war schlecht geflickt worden, in der Eile und aus Ungeschicklichkeit des Feldschers. Wenn der Major erregt wurde und ihm das Blut in den Kopf stieg, flammte die gräßliche Narbe auf, und es sah aus, als liefe um sein sonnenbraunes Gesicht ein breites blutrotes Band.
»Wir haben dort manches Grauenhafte gesehen«, fuhr Mesnilgrand fort, »und manchmal auch, selber begangen. Aber das Ärgste, was ich wohl erlebt habe, das will ich jetzt erzählen!«
»Jawohl«, sagte der Major Sélune mit der Selbstgefälligkeit eines hartgesottenen Kriegsmannes, den nichts mehr rührt. »Gesehen und erlebt! Ich erinnere mich, einmal Zeuge gewesen zu sein, wie man achtzig Nonnen übereinander in einen tiefen Brunnen warf, alle halbtot, nachdem sie von den Leuten zweier Schwadronen der Reihe nach vorgenommen worden waren ...«
»Vieherei von Mannschaften!« sagte Mesnilgrand. »Hier aber handelt es sich um die barbarische Tat eines Offiziers.« Er nippte an seinem Glas, ließ den Blick über die Tafelrunde schweifen und fragte: »Hat einer der Herren den Major Ydow gekannt?«
Nur Rançonnet antwortete:
»Ich zum Beispiel! Den hab' ich gut gekannt. Er stand mit mir bei den achten Dragonern.«
»Da du ihn also gekannt hast«, fuhr Mesnilgrand fort, »so wirst du auch noch jemanden gekannt haben. Als er zum Regiment kam, brachte er ein Frauenzimmer mit ...«
»Die Rosalba!« ergänzte Rançonnet. »Sein berühmtes Verhältnis. Ein Saumensch!«
»Gewiß. Sie verdient die übelste Bezeichnung ...« Mesnilgrand sann nach. Dann begann er von neuem: »Der Major brachte sie aus Italien mit, wo er vordem gewesen war, bei einem Reservekorps, als Hauptmann. Da ihn von den Anwesenden nur Rançonnet kennt, muß ich ihn näher schildern, damit sich auch die andern Herren ein Bild von diesem Teufelskerl machen, dessen Ankunft bei den achten Dragonern mit einem Frauenzimmer im Gefolge großes Aufsehen erregte.
Er war wohl kein Franzose – ein Umstand, bei dem Frankreich nicht viel verliert. Ich weiß nicht mehr, woher er stammte. Aus Böhmen oder Illyrien. Ich habe es vergessen. Aber wo er auch geboren sein mag, er war ein sonderbarer Mensch. Er war sichtlich ein Gemisch verschiedener Rassen, und er selber sagte, er sei von griechischer Abkunft. Seine Schönheit stützte diese Behauptung. Er war, weiß der Teufel, fast zu schön für einen Soldaten. Die Furcht, seine hübsche Larve verschandelt zu bekommen, soll einen Kriegsmann nicht bedrücken. Er ging ins Feuer wie alle andern und tat seine Pflicht, wenn auch nie einen Zoll mehr; aber das, was der Kaiser das heilige Feuer genannt hat, besaß er nicht. Im Grunde fand ich sogar seine Schönheit unangenehm. Später, als ich die Bekanntschaft mit der Antike machte, einer dem Feldsoldaten unbekannten Sache, da habe ich den Grundzug seines Gesichts wiedergefunden, in den Antinousbüsten. Besonders eine hat eine überraschende Ähnlichkeit mit ihm, eine aus Marmor, der ihr Schöpfer aus verrückter Laune oder aus schlechtem Geschmack Smaragde als, Augensterne eingesetzt hat. Solche meergrünen Augen hatte der Major, die zu seinem klassisch geschnittenen Gesicht mit dem warmen Oliventon in seltsamem Widerspruch standen. Sie schimmerten wie wehmütige Abendsterne, aber es war nicht Endymion, dessen Wollust darin schlummerte. Ein Tiger lauerte dahinter. Und eines Tages sollte ich den kennenlernen.
Ydow war braun und blond zugleich. Sein Haupthaar lockte sich dicht und dunkel um die schmale Stirn mit ihren eingedrückten Schläfen, während sein langer seidiger Schnurrbart fuchsrot war. Man pflegt zu sagen, Kopfhaar und Bart von verschiedener Farbe seien ein Zeichen von Verrat und Tücke. Vielleicht wäre der Major später ein Verräter wie so manch andrer geworden – am Kaiser. Das Schicksal hat es nicht dazu kommen lassen. Er war vielleicht gar nicht falsch und tückisch. Wie dem auch sei, vermutlich trug diese Äußerlichkeit bei, daß Ydow unter seinen Kameraden allgemein unbeliebt war. Sehr bald, nachdem er ins Regiment gekommen war, haßte man ihn.
Er war damals fünfunddreißig Jahre alt, und ihr könnt euch denken, daß ein so schöner Mann von den Frauen schrecklich verwöhnt und in jeder Beziehung verdorben wurde. Er gefiel auch den Unnahbarsten. Er war ein lasterhafter Mensch. Aber genug! Wir waren alle miteinander keine Tugendbolde. Wir liefen den Weibern nach und waren überdiesSäufer, Verschwender, Spieler, Duellanten und mitunter große Spitzbuben. Er war in tausend Händel verstrickt. Er galt als der Allerschlimmste, und er hatte wohl auch Dinge getan, deren wir andern doch nicht fähig waren. Ihm traute man alles zu. Dabei war er ein gräßlicher Streber, ein widerlicher Kriecher vor seinen Vorgesetzten. Man verdächtigte ihn aus Haß. Zweimal kam es zum Zweikampf. Er schlug sich brav, aber das änderte unsre Meinung über ihn keineswegs. Er blieb für uns ein zweifelhafter Kavalier. Glück im Spiel hatte er übrigens dem bekannten Sprichwort zum Trotz auch. Mit einem Wort, er war ein gefährlicher Kumpan. Es ließe sich noch viel über ihn sagen, aber ich denke, meine Schilderung genügt.«
»Das denke ich auch!« bemerkte Rançonnet ungeduldig. »Zum Kuckuck! Was hat der verdammte Major von den achten Dragonern samt seinem Luder von einem Weibsbilde, für die er am liebsten alle Dome Spaniens und der gesamten Christenheit geplündert hätte, mit dem Kirchgang am verflossenen Sonntag zu tun?«
»Prell nicht immer vor und warte ab!« wies ihn Mesnilgrand zurecht. »Du bist und bleibst der unverbesserliche Hitzkopf. Erst müssen die Personen meiner Geschichte sozusagen aufmarschieren!«
»Na denn laß sie aufmarschieren! Galopp marsch!« sagte der alte Draufgänger und stürzte zu seiner Beruhigung ein Glas Picardan hinunter.
Mesnilgrand fuhr fort:
»Wenn der Major Ydow ohne die Frau, die nicht seine Gattin, nur seine Geliebte war, zum Regiment gekommen wäre, wäre er wahrscheinlich von den Offizieren ziemlich geschnitten worden. Aber dieses Frauenzimmer, das den Major wer weiß wie an sich gefesselt hatte, verhinderte, daß dies dem Major widerfuhr. Das Weib ist der Magnet des Teufels. Die Herren, die mit ihm nur die unvermeidliche dienstliche Berührung gehabt hätten, verkehrten kameradschaftlich mit ihm – dieser Frau wegen. Wäre der Major unbeweibt gewesen, so hätte ihm im Kaffeehaus, wo sich alle Offiziere trafen, keiner einen Kognak angeboten. Aber man tat es mit dem Hintergedanken, einmal zu ihm eingeladen zu werden und mit ihr zusammenzukommen. Es ist eine alte Wahrheit: Ist man nicht der erste Liebhaber einer Frau, so ist man der zehnte! Und in der Tat, es dauerte nicht lange, da wußte man bei den achten Dragonern, daß diese Hoffnung keinen betrog. Rosalba war die Schlimmste der Schlimmen. Ich übertreibe nicht. Rançonnet, der gewiß einer der vielen Glücklichen war, wird mir das zugeben. Er weiß auch, daß sie eine blendende Sünderin war, daß sie alle Reize wie alle Laster des Weibes in sich einte.
Wo hatte der Major sie aufgegabelt? Woher stammte dies junge Geschöpf? Man fragte zunächst nicht danach. Es war nichts Ungewöhnliches, daß Offiziere ihre Geliebten beim Regiment hatten. Die Hauptsache war, daß sich der Betreffende den Aufwand leisten konnte. Die Kommandeure drückten angesichts dieser Ungehörigkeit schon eine Auge zu. Oft begingen sie sie selber. Eine Frau aber von der Art der Rosalba hatten wir noch nicht bei uns gesehen.
Hübsche Mädel fanden wir überall die Menge. Sie waren beinahe alle von derselben Sorte: abenteuerliche, schneidige, kaum noch weibliche, recht freche Frauenzimmer, fast durchweg Brünetten, mit mehr oder weniger Feuer, angezogen wie junge Burschen, in herausfordernden Phantasieuniformen, die ihnen ihre Liebhaber hatten machen lassen. Wenn sich schon die wirklichen und anständigen Offiziersdamen durch ein gewisses ganz besonderes Etwas von anderen Frauen abhoben, so war das noch mehr bei den Offiziersgeliebten der Fall. Diesen Soldatendirnen glich die Rosalba nicht im geringsten- Zunächst hatte man ein schlankes blasses Mädchen vor sich, mit auffällig reichem blondem Haar. Das war nichts weiter Verblüffendes. Sie besaß eines jener Kameengesichter, die durch ihre Gleichförmigkeit und Unbeweglichkeit gerade leidenschaftliche Gemüter stark erregen. Aber auch das ist nichts Besonderes. Alles in allem war sie gewiß eine schöne,Frau. Aber ihr Zauber auf die Männer hatte nichts mit der Schönheit zu schaffen. Der entquoll einer andern Quelle. Sie war ein Ungeheuer an Schamlosigkeit im Widerspruch zu ihrem Namen Rosalba und noch mehr zu ihrem Spitznamen: Pudika – die Keusche ...«
»Virgil hat sich auch den Keuschen genannt«, warf der ehemalige Abbé ein, der gern mit seiner lateinischen Bildung protzte, »was ihn nicht abgehalten hat, gewisse kleine Sanskulotterien zu schreiben!«

Samstag, 30. November 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (11) - Hinter den Karten (2) - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly



Hinter den Karten


2

»Ich bin in der Provinz im elterlichen Hause aufgewachsen. Mein Vater wohnte in einem Marktflecken, der sich behaglich am Meer hinzieht, zu Füßen der Berge. Ich möchte die Gegend nicht näher bezeichnen. Unweit davon liegt eine kleine Stadt. (Valognes.) Welche ich meine, wird Ihnen sofort klar sein, wenn ich Ihnen sage, daß sie, wenigstens dazumal, ein richtiges altes Adelsnest war. Ich kenne keinen ähnlichen so durch und durch aristokratischen Ort in ganz Frankreich. Vor 1789 rollten fünfzig wappengeschmückte Wagen stolz über das Pflaster des Städtchens, das keine sechstausend Einwohner hatte. Es kam einem vor, als habe sich der Adel aus dem ganzen übrigen Lande, in dem sich von Tag zu Tag das dreiste Bürgertum breiter machte, dorthin zurückgezogen und versammelt, um zu strahlen wie ein Rubin, der noch im Schmelztiegel seinen wunderbaren Glanz behält, bis er mit ihm zugleich verlischt.
Der Adel in jenem Städtchen, seitdem gestorben und verdorben in seinen Vorurteilen, die ich als hohe Kultur bewundere, war unzugänglich wie der Herrgott. Die Schmach jedweder Aristokratie, die Mesalliance, war alldort etwas, was nicht vorkam. Die durch den Umsturz arm gewordenen Töchter dieser Adelsgeschlechter starben stoisch als alte Jungfern. Die Wappen ihrer Ahnen waren ihnen Schutz und Trost für alles. Mein junges Herz entbrannte vor jenen entzückenden und so ernsten Geschöpfen, die wohl wußten, daß ihre Schönheit unnütz war und daß ihnen das Blut umsonst im Busen pochte und die Wangen glühte. Meine dreizehnjährigen Sinne erträumten sich Wunderdinge von dem entsagenden Heldentum der jungen Edeldamen, deren einziges Besitztum ihre Wappenkronen waren, für die sie sich vom ersten Tage ihres Daseins an opferten, würdevoll und schwermütig, wie es Menschen geziemt, die vom Schicksal verdammt sind.
Dieser Adel verkehrte unter sich, indem man sich sagte: ›Wie können wir Bürgerliche bei uns sehen, deren Väter unsere Eltern bei Tisch bedient haben?‹ Sie hatten recht. In solch einer kleinen Stadt war es nicht anders möglich.
Nur etlichen Engländern öffneten sie ihren engen Kreis. Es lebte nämlich im Ort eine Anzahl britischer Familien, angezogen von der Ruhe, den steifen Sitten und dem kühlen Wesen ihrer Bewohner. Es erinnerte sie dies alles an das Spießbürgertum der Kleinstädte ihrer Heimat. Auch die Nähe des Meeres und das für englische Verhältnisse spottbillige Leben verlockte sie. Ihre in England kaum ausreichenden Mittel verdoppelten sich hier gleichsam. Schließlich betrachteten sie die Normandie für ein Vorland Englands, wo man sich sehr wohl für einige Zeit niederlassen konnte.
Die kleinen Misses lernten daselbst ein bißchen Französisch, während sie sich unter den dürftigen Linden des Marktplatzes beim Reifenspiel tummelten. Wenn sie dann achtzehn Jahre alt waren, wanderten sie wieder nach England hinüber, denn die verarmten französischen Edelleute durften nicht daran denken, diese Engländerinnen mit ihrer geringen Mitgift zu heiraten. Das war der Grund, warum die englischen Familien nach sechs bis sieben Jahren wieder fortzogen. Aber es kamen immer wieder neue in die verlassenen Häuser, die ebensolange blieben. So sah man in den Straßen jederzeit die nämliche Zahl Spaziergängerinnen in großkarierten Kleidern, grünen Schleiern und schottischen Umhängen. Diese fremdländischen Gäste waren das einzige Wandelbare in der fürchterlichen Eintönigkeit der kleinen Stadt.
Man spricht häufig und alles mögliche über die Enge des kleinstädtischen Lebens, aber hier war dieses ereignislose Dasein noch armseliger als sonstwo, weil es nicht Klassenkämpfe und Rangstreite gab wie an so vielen kleinen Orten, wo Eifersucht, Haß und gekränkte Eigenliebe einen stummen Haß nähren, der in allerlei Ränken und in jenen kleinen Schurkereien zum Ausbruch zu kommen pflegt, die kein Gesetz bestraft. Hier war der Abstand zwischen Adel und Nichtadel so groß, daß es zu Zwist gar nicht kommen konnte. Zu einem Kampf bedarf es eines gemeinsamen Bodens und gegenseitiger Beziehungen. Beides fehlte hier. Der Adel nahm vom Bürgertum gar keine Kenntnis. Was man auch über ihn reden mochte, er kümmerte sich nicht darum. Er hörte es nicht. Die jungen Leute, die sich hätten beleidigen und aneinandergeraten können, trafen sich nicht an öffentlichen Orten, die durch die Gegenwart von Frauenaugen so leicht zu heißen Kampfgefilden werden. Es gab auch kein Theater; infolgedessen kamen keine Wandertruppen. Und was die Kaffeehäuser anbelangt, so waren das Budiken, in denen nur kleine Leute und Tagediebe verkehrten, allenfalls etliche abgedankte Offiziere, unnütze Trümmer der napoleonischen Zeit. Übrigens waren die Spießbürger bei aller Wut über die mißachtete Formel der Gleichheit ganz wie dereinst unwillkürlich voller Hochachtung vor der adeligen Welt. Es ist mit der vornehmen Geburt wie mit allen Dingen, die Neid und Haß erzeugen: sie übt auf den sie Nichtbesitzenden und Beschimpfenden eine geradezu körperliche Wirkung aus, was vielleicht der beste Beweis ihrer Berechtigung ist. Während des Umschwunges bestreitet der Volksmann diese Wirkung, die er damit also doch empfindet, aber in ruhigen Zeiten unterwirft er sich ihr.
Im Jahre 182* lebte man in solch einer ruhigen Zeit. Der Freigeist war nicht imstande gewesen, dem Königsgedanken den Garaus zu geben. Das monarchische Frankreich, dem das Fallbeil die Brüste abgeschnitten hatte, wiegte sich in der Hoffnung, trotzdem weiterleben zu können und wieder zu genesen. Es merkte nicht, daß es aber doch dem sicheren Tode verfallen war.
In der Ihnen geschilderten Kleinstadt herrschte in den Jahren des wiederauferstandenen Königtums tiefe Grabesruhe. Eine Frömmlergesellschaft hatte sich in den vornehmen Adelskreis eingeschlichen und die letzten Regungen der Lebenslust getilgt. Selbst die Jugend tanzte nicht mehr. Bälle waren als Gelegenheiten der Verderbnis verpönt. Die jungen Mädchen trugen Missionskreuze an den Halskrausen und bildeten einen Betschwesternklub. Der Ernst, mit dem dieser Blödsinn ausgeübt ward, war zum Lachen. Nur wagte kein Mensch, sich darüber lustig zu machen. Sobald bei den geselligen Zusammenkünften die vier Whisttische für die alten Damen und Herren und die beiden Ecartétische für die jungen Leute aufgestellt waren, zogen sich die jungen Damen zurück und setzten sich in einer Ecke zu einer schweigsamen Gruppe {schweigsam, soweit weibliche Wesen schweigen können!)zusammen, um sich im Flüsterton zu unterhalten, das heißt, sich unsäglich zu langweilen. Steif und förmlich hockten sie beieinander, in Widerspruch zu ihren anmutigen Gestalten, dem leuchtenden Rosa und Lila ihrer Kleider und dem Flattern der Spitzen und Bände um Busen und Hals.«


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Donnerstag, 21. November 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (9) - Verbrecherisches Glück (1) - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly


Verbrecherisches Glück (1)
Wahre Geschichten kann nur der Teufel erzählen!

Im vergangenen Jahr an einem Herbstmorgen schlenderte ich mit dem Doktor Torty, einem meiner ältesten Bekannten, durch den Zoologischen Garten. Er war in meiner Kindheit Arzt in V*** gewesen und hatte seinen angenehmen Beruf an die dreißig Jahre ausgeübt. Und als er seine »Veteranen« – wie er sie nannte – nach und nach allesamt in das Jenseits befördert hatte, nahm er keine neuen Patienten mehr an. Er war ergraut und liebte die Freiheit über alles, wie ein Gaul, der immer am Zügel gegangen ist und sich schließlich einmal davon losmacht. So war er nach Paris gekommen und hatte sich dicht beim Zoologischen Garten, wenn ich nicht irre, in der Cuvierstraße, niedergelassen. Er übte seine Kunst nur noch zu seinem Vergnügen aus. Dies war groß, denn er war Arzt mit Leib und Seele, hervorragend in seinem Fach, zudem ein feiner Beobachter, und das nicht bloß in physiologischen und pathologischen Fällen.

Sind Sie ihm nicht zuweilen begegnet? Er war eine kühne Kraftnatur und griff niemanden mit Glacéhandschuhen an, aus dem sehr einfachen Grund, weil man besonders als Arzt die Dinge beim rechten Namen nennen muß. Er gefiel mir außerordentlich, und wohl gerade wegen der Seiten, die den anderen am wenigsten behagten. Es stand in der Tat so, daß die Leute, solange sie gesund waren, diesen derben Sonderling von Arzt nicht ausstehen konnten. Wurden sie aber krank, so hatten sie höllische Hochachtung vor ihm, ungefähr wie die Wilden vor dem Schießgewehr des Robinson, aus Angst vor dem Tod. Man wußte ganz genau: nur er konnte helfen. Ohne diese bedeutsame Erkenntnis hätte Torty nie und nimmer seine zwanzigtausend Franken Zinsen im Jahr, denn in jenem altmodischen Frömmlernest hätte man ihm einfach den Stuhl vor die Tür gesetzt, wenn man ihn nicht eben gebraucht hätte. Darüber war er sich völlig klar. Es hatte ihn nie berührt. Er spottete sogar darüber. »Sie mußten sich wohl oder übel«, pflegte er zu sagen, »für mich oder die letzte Ölung entscheiden. Und bei aller Frömmigkeit zogen sie mich doch schließlich den heiligen Sakramenten vor.« Das ist übrigens ein Beispiel, wie wenig sich der Doktor ein Blatt vor den Mund nahm. Sein Witz verstieg sich zuweilen ins Lästerliche. Wissenschaftlich war er ein treuer Anhänger von Cabanis, und wie sein alter Freund Chaussier gehörte er zu jener Klasse von Heilkünstlern, die als pure Materialisten verschrien sind. Dazu war er ein Zyniker, dem nichts heilig war, und der mit einer Herzogin genauso natürlich und gemütlich plauderte wie mit dem geringsten Marktweib. Hier eine kleine Probe von Tortys Art. In einer glänzenden Abendgesellschaft meinte er einmal, nachdem er die Prunktafel mit ihren hundertundzwanzig Gästen mit seinem Herrscherblick überschaut hatte: »Die leben alle von meiner Gnade!« Es fehlte dem Doktor an jedwedem Respekt. Das gab er selber zu, indem er sagte: »Wo der Respekt bei andern Leuten im Schädel sitzt, da ist bei mir ein Loch!« Er war alt, über die Siebzig, stark und vierschrötig. Unter der hellbraunen Perücke mit dem glänzenden kurzgeschorenen Haar blitzten aus seinem Spöttergesicht ein Paar durchdringende gläserlose Augen. Er kleidete sich zumeist grau oder braun. Dadurch ähnelte er weder in der Haltung noch im Wesen den geschniegelten Pariser Ärzten in ihren schwarzen Röcken und weißen Binden. Er war aus anderem Holz. Mit seinen hirschledernen Handschuhen und den doppelsohligen Stiefeln, in denen er wuchtigen Schritts einherging, hatte er etwas von einem alten Ritter. Der war er auch. In den dreißig Jahren seiner Landpraxis hatte er manche Stunde im Sattel verbracht. Kein Weg war ihm zu schlecht gewesen. Das verriet sich noch immer in der Art, wie er seinen mächtigen Oberkörper aufreckte, der unerschütterlich auf den Schenkeln saß und sich auf kräftigen Beinen wiegte, die kein Zipperlein kannten. Er war wie der alte Lederstrumpf, Coopers Held in den Wäldern Amerikas, ein Naturmensch, unberührt von den Vorschriften der Herkömmlichkeit. Als unerbittlicher Beobachter war er schlecht und recht zum Menschenfeind geworden. Das war Schicksalstücke. Indes hatte er auf seinen langen Ritten durch Schmutz und Schlamm genug Muße gefunden, erhaben über den Dreck des Lebens zu werden. Er ereiferte sich über kein Laster. Er verachtete die menschliche Natur ganz einfach ebenso gleichmütig, wie er seinen Tabak schnupfte. Ja, beides tat er mit dem nämlichen Behagen.
Das war der Doktor Torty, mit dem ich durch den Zoologischen Garten bummelte.
Es war ein Herbsttag, so hell und klar, daß selbst den Schwalben die Reiselust verging. Die Notre-Dame verkündete den Mittag, und die ernsten Glockentöne zitterten in lichten Schwingungen den grünen brückenreichen Strom entlang über unsere Häupter hinweg. Das schon braune Laub hatte den bläulichen Hauch veratmet, in den der leichte Morgennebel es getaucht. Die gütige Oktobersonne wärmte uns beiden angenehm den Rücken, während wir vor dem Käfig der berühmten schwarzen Pantherin verweilten, die im Jahre darauf an der Lungenschwindsucht gestorben ist wie ein junges Mädchen. Um uns herum stand das Publikum, wie man es gewöhnlich in einem Zoologischen Garten findet, Leute aus dem Volk, Soldaten und Kindermädchen, die sich mit Vorliebe vor den Käfigen herumtreiben und sich daran ergötzen, den trägen, hinter ihren Eisengittern blinzelnden Tieren Nuß- und Kastanienschalen vorzuwerfen. Die Pantherin, vor der wir bei unserem Gang gelandet, stammte von der Insel Java, also dem Erdenwinkel, wo die Natur am kraftvollsten ist. Java gleicht selber einem mächtigen Raubtier, das der Mensch nicht zu zähmen vermag, das ihn aber immer wieder an sich lockt trotz aller Gefahren, die sein grausigüppiger Boden birgt. Auf Java sind die Blumen in den Farben glühender, im Duft berauschender denn irgendwo sonst auf Erden, die Früchte aromareicher, die Tiere schöner und stärker. Aber von dieser Lebensfülle hat nur die rechte Vorstellung, wer den tödlichen Dunst dieses traumschönen Landes mit der eigenen Lunge eingeatmet hat. Die Pantherin war eine prächtige Vertreterin der Schrecknisse Javas. Nachlässig auf ihre feingeformten Tatzen hingestreckt, lag sie da, mit erhobenem Kopf und smaragdgrünen unbewegten Augen. Nicht ein helles Fleckchen hob sich an ihrem schwarzsamtnen Fell ab. Es war so dunkel und dicht, daß sich darin nicht einmal die darüber hingleitenden Sonnenlichter fingen, sondern dies stumpfe Schwarz trank das Licht wie ein Schwamm das Wasser. Das war geschmeidige Schönheit, volle Kraft, noch im Ruhen furchtbar, erhabene Überlegenheit, ein Gipfel der Schöpfung. Wandte man seinen Blick von diesem Tier auf die armselige gaffende Menschheit davor, so war's wahrlich nicht der Mensch, der den Sieg davontrug. Die Bestie war es. Eine demütigende Erkenntnis!
Ich gestand dem Doktor gerade leise meine Beobachtung, als auf einmal zwei Menschen den Schwarm der Leute vor dem Käfig durchschritten und sich dicht vor die Pantherin stellten.
»Gewiß«, erwiderte mir Torty. »Aber sehen Sie jetzt einmal hin. Das Gleichgewicht zwischen den beiden Gattungen ist wiederhergestellt!«
Ein Herr und eine Dame. Beide hochgewachsen und, wie ich auf den ersten Blick erkannte, aus der ersten Pariser Gesellschaft. Beide nicht mehr jung, gleichwohl beide erlesen schön. Er mochte siebenundvierzig, sie etwa vierzig sein. Beide hatten also die »Linie« überschritten – wie die Seeleute sagen, wenn sie über den Äquator fahren –, jene Linie, die verhängnisvoller ist als der Gleicher der Erde und die man auf dem Meere des Lebens nur einmal überschreitet und nie wieder. Um derlei hatten sich die beiden sichtlich keine Sorge gemacht. Auf ihrer Stirn brütete kein bißchen Trübsal. Auch nirgends sonst. Der schlanke Mann sah in seinem sorgfältig zugeknöpften schwarzen Gehrock aus wie ein vornehmer Offizier, wie ein Patrizier aus einem Gemälde Tizians. Er hatte frauenhafte hochmütige Züge. Sein Schnurrbart war an den Spitzen ergraut. Das Haar trug er ganz kurzgeschoren. Seine Ähnlichkeit mit einem Kavalier vom Hofe Heinrichs des Dritten erhöhten zwei tiefblaue Saphire, die er als Ohrschmuck trug. Bis auf diese kleine Lächerlichkeit – wie die Welt sagen würde –, die nur ein Zeichen war, daß ihr Träger die Mode des Tages und die öffentliche Meinung geringschätzte, war er völlig Dandy, wie Stendhal ihn auffaßt, also einfach und unauffällig. Und doch fiel er auf, allein durch seine Vornehmheit. Und meine ungeteilte Aufmerksamkeit hatte er auch auf sich gezogen, wenn ihm zur Seite nicht die Dame gestanden hätte, die noch bemerkenswerter war als ihr Begleiter und mich viel stärker und ganz fesselte. Sie war beinahe so lang wie er und ebenfalls völlig in Schwarz gekleidet. Unwillkürlich fiel mir die große schwarze Isis im Ägyptischen Museum im Louvre ein, angesichts ihrer Üppigkeit, ihrer Kraft und ihres geheimnisvollen Stolzes. Seltsam! Bei diesem schönen Paar hatte sie die Muskeln und er die Nerven. Ich sah sie zunächst nur im Profil. Und das gilt ja als der Probierstein der Schönheit. Es kam mir vor, als hätte ich nie zuvor einen reineren und edleren Schnitt gesehen. Ihre Augen vermochte ich nicht zu beurteilen, da sie auf die Pantherin gerichtet waren. Ihr Blick wirkte hypnotisch auf das Tier und war ihm unangenehm. Je länger die Frau es anblickte, desto schläfriger wurde es. Wie eine Katze im blendenden Sonnenlicht blinzelte die Bestie, ohne den Kopf auch nur leise zu bewegen, ein paar Mal mit den Augen, als vermöchte sie dem Blick der Frau nicht mehr standzuhalten, und ließ schließlich die Lider über ihre beiden grünen Augensterne niederfallen. Sie verschanzte sich.
»Aha! Panther gegen Panther!« raunte mir der Doktor zu. »Aber die Seide ist stärker als der Samt.«
Die Frau trug ein schimmerndes Seidenkleid. Der Doktor hatte recht! Die schwarze geschmeidige königlich schöne Fremde teilte alle diese Eigenschaften mit der Pantherin. Nur sprach aus ihr etwas noch viel Verführerischeres. Wie eine Menschenpantherin stand sie vor der Tierpantherin, ihr überlegen. Diese Überlegenheit hatte das Raubtier sichtlich verspürt, als es die Augen schloß. Aber die Frau begnügte sich nicht mit ihrem Sieg, wenn man es so nennen darf. Frauen sind nicht so edelmütig. Sie wollte, daß ihre Nebenbuhlerin sehen sollte, wer sie demütigte. Sie knöpfte den langen violetten Handschuh auf, der ihren herrlichen Unterarm umschloß, streifte ihn ab, und wagehalsig versetzte sie damit zwischen zwei Gitterstäben hindurch dem Tier einen Schlag über den Rachen. Die Pantherin machte nur eine einzige rasche Bewegung. Ihre Zähne blitzten auf. Ein Schrei! Jedermann glaubte, die verwegene Hand sei verloren. Das mißhandelte Tier hatte nur den Handschuh gepackt und verschlungen. Es lauerte mit weitaufgerissenen Augen und zitternden Nasenflügeln. »Törin!« sagte der Herr und erfaßte das Handgelenk, das dem gräßlichen Biß entronnen war. Sie wissen, in welchem Ton man zuweilen »Törin!« sagt. So sagte er es. Und dann küßte er die Hand zärtlich.
Da er nach uns zu stand und sie ihm bei seiner Huldigung zusah, so machte sie eine dreiviertel Wendung. Jetzt sah ich ihre Augen, diese Augen, die wilde Tiere bändigten und die im Augenblick durch einen Mann gebannt wurden: zwei große schwarze Diamanten, die allen Stolz der Welt ausstrahlten und die doch nur Liebe und Anbetung verkündeten, indem sie auf ihm ruhten. Sie waren wie ein Märchen, diese Augen. Der Herr behielt den Arm, der der Wut des Tieres entgangen war. Innig drückte er ihn an sein Herz und führte die Dame in die Hauptallee, gleichgültig gegen das Gemurmel und die Ausrufe der Zuschauer, deren Aufregung über den Vorfall sich nicht legen wollte. Die beiden gingen dicht an uns vorüber, hatten aber nur Teilnahme füreinander. Als ob sie die Erde unter ihren Füßen nicht bemerkten, so schritten sie dahin, wie höhere Wesen, gleichsam in einer Wolke, wie die Götter Homers.
Dergleichen sieht man selten in Paris. Darum schauten wir dem seltsamen Paar nach. Ein herrliches Bild, wie die beiden ineinander versunkenen Gestalten im Sonnenlicht dahinwandelten. Am Eingangstor harrte ihrer ihr rappenbespannter Wagen.
»Weltvergessende Menschen!« sagte ich zu Torty.
»Du lieber Gott«, erwiderte er mir mit seiner scharfen Stimme. »Die Welt ist den beiden gleichgültig. Sie hören und sehen nichts, nicht einmal ihren alten Hausarzt. Toll!«
»Hausarzt! Das sind Sie? Dann müssen Sie mir schleunigst sagen, wer die beiden sind.«
Torty antwortete indes nicht sofort. Der Schlaumeier wartete eine Weile, um dann mit um so mehr Wirkung zu sagen:
»Philemon und Baucis!«
»Unsinn! Ein bißchen zu vornehm und zu wenig antik, dieser Philemon und diese Baucis! Nein, Doktor, sagen Sie doch, wer sind die beiden?«
»Haben Sie nie in Ihrer Gesellschaft, in der ich nicht verkehre, vom Grafen und der Gräfin von Savigny gehört, als dem Muster fabelhafter ehelicher Treue?«
»Niemals! Von ehelicher Treue spricht man unter meinen Bekannten nicht viel.«
»Freilich«, meinte Torty, mehr als Antwort auf seine Gedanken, denn auf meine Wißbegier. »In Ihrer Welt, die auch die der beiden ist, schweigt man so mancherlei tot. Die beiden gehören in die Gesellschaft, und sie gehören auch nicht hin. Sie verleben beinahe das ganze Jahr in ihrem alten Schloß Savigny. Dereinst lief ein Gerücht über sie um, und seitdem ist der Name Savigny im Faubourg Saint-Germain vergessen.«
»Ein Gerücht? Welcher Art? Doktor, Sie müssen mir erzählen!«
»Was das Gerede anbelangt«, sagte Torty und nahm nachdenklich eine Prise. »Dieses Gerede hat man schließlich in das Reich der Fabel verwiesen. Es ist längst Gras darüber gewachsen. Und was die Liebesheirat betrifft, so wird, vermute ich, man den jungen Damen in V*** nicht allzuviel davon erzählen, obgleich solch Glück den hochehrsamen Müttern in der Provinz der Traum aller Träume für ihre Töchter ist.«
»Nannten Sie das Paar nicht Philemon und Baucis?«
»Ganz recht! Aber vielleicht nennen wir diese Baucis doch besser Lady Macbeth!« Dabei fuhr er sich mit dem gekrümmten Zeigefinger über seine Habichtsnase.
Nochmals bat ich so einschmeichelnd, wie ich es nur konnte: »Doktor, nun erzählen Sie mir aber endlich die Geschichte!«
»Der Arzt ist auch der Beichtvater der Neuzeit«, begann Torty feierlich. »Er ist an die Stelle des Priesters getreten. Und so muß er die Geheimnisse seiner Beichtkinder wahren wie ein Priester.« Dabei sah er mich verschmitzt an, denn er kannte meine Vorliebe für den Katholizismus, dessen Feind er war. Er lachte. Er hielt mich für überwunden. »Na, ich will es also wahren wie – ein Priester! Kommen Sie!« Wir gingen ein Stück die große Allee hin. Nachdem wir uns dort auf eine Bank mit grüner Lehne gesetzt hatten, begann Torty: »Ich muß weit zurückgreifen. Es war in den ersten Jahren nach der Restauration des Königtums. Da kam ein Garderegiment durch V***, das aus irgendeinem militärischen Grund zwei Tage in der Stadt verblieb. Die Offiziere hatten den Einfall, der Stadt zu Ehren ein Fechterfest zu veranstalten. Die Stadt war dieser Ehre würdig. ›Königstreuer als der König‹, hieß es damals von ihr. Unter ihren fünf- bis sechstausend Einwohnern wimmelte es von Adligen. Ein paar Dutzend junger Leute aus den ersten Familien dienten in der Garde. Man kannte die einquartierten Offiziere allesamt. Und noch etwas anderes hatte das kriegerische Fest angeregt. Das war der alte Ruf der Stadt, die ehedem La bretteuse (die Raufboldin) benamst war und auf diesen Namen auch zurzeit noch einen gewissen Anspruch hatte. Wohl hatte der Umsturz von 1789 den Adel seines Rechts beraubt, den Degen zu tragen. In V*** bewies man, daß man ihn sehr gut zu führen verstand, wenn man ihn auch nicht tragen durfte. Das Fechterfest fiel glänzend aus. Die guten Klingen der ganzen Gegend scharten sich. Dazu eine Menge Liebhaber, insbesondere das jüngere Geschlecht, das diese schwierige Kunst nicht so pflegte, wie man es ehedem getan. Die jungen Leute begeisterten sich derartig für die Waffe, die ihren Vätern so viel Ruhm eingetragen hatte, daß es dem alten Fechtmeister des Regiments, der die drei- bis vierfache Dienstzeit hinter sich hatte und mit Schrammen bedeckt war, in den Sinn kam, in V*** eine Fechtschule aufzutun. Das dünkte ihn eine gute Zuflucht auf seine alten Tage zu sein. Er meldete seinen Plan dem Obersten. Der war damit einverstanden und verschaffte ihm den Abschied. Der Gedanke des Fechtmeisters – er hieß Stassin und mit dem Spitznahmen ›Der Aufspießer‹ – erwies sich als einfach großartig. Es gab seit langem in V*** keinen rechten Paukboden mehr, zum Leidwesen des Adels. Entweder mußten die alten Herren ihren Söhnen selber das Fechten beibringen oder sie durch irgendwelchen fahrenden Gesellen unterrichten lassen, der meist sein Handwerk schlecht oder gar nicht verstand.
Sie wollten keine Stümpfer sein, die guten Leute von V***. Sie hegten das Heilige Feuer. Es genügte ihnen durchaus nicht, einen Gegner einfach ins Jenseits zu befördern. Dies mußte auch nach wissenschaftlichen, kunstgerechten Regeln geschehen. Es kam ihnen vor allem darauf an, daß man ein eleganter Fechter war. Grobe Draufgänger, so gefährlich sie einem als Gegner sein können, standen bei ihnen in tiefster Verachtung. Stassin führte eine feine Klinge. Dazu gehört nicht bloß Schule, sondern Anlage. Stassin war in seiner Jugend ein schöner Mann gewesen und war es noch. Er hatte alle Fechtmeister seiner Zeit geschlagen und manchen Preis davongetragen. Begreiflicherweise war ganz V*** voller Bewunderung für ihn. Mehr noch. Nichts gleicht Standesunterschiede mehr aus als der Degen. Ehedem adelte der König den Mann, der ihn gelehrt hatte, ihn zu führen. War es nicht Ludwig der Fünfzehnte, der seinem Fechtmeister Danet – er hat uns ein Buch über die Fechtkunst hinterlassen – ein Wappen mit vier Lilien zwischen zwei gekreuzten Degen verliehen hat? Angesichts eines so königlichen Beispieles ließen die braven Provinzedelleute von V*** sich nicht lumpen. Es dauerte nicht lange, so behandelten sie den alten Fechtmeister ganz als ihresgleichen.
So weit ging alles vorzüglich. Stassin war wirklich ein Glückspilz. Aber das Unglück kam nachgehinkt. Es zeigte sich, daß unter dem rotledernen Brustpanzer, den der alte Meister in den Fechtstunden trug, noch ein sehr junges Herz schlug. Und dieses Herz spielte ihm einen Streich, ausgerechnet in V***, wohin er sich wie in einen Hafen zurückgezogen hatte.
Als napoleonischer Soldat war er in aller Herren Ländern herumgekommen. Überall hatte er die hübschen Mädels, die ihm der Teufel über den Weg geführt, ohne Ausnahme abgeküßt, in die Arme genommen und wieder laufen lassen. Und das Ende vom Liede war, daß er, über die Fünfzig hinaus, in aller Form, standesamtlich und mit dem Segen der Kirche, eine der Jungfrauen der guten Stadt V*** ehelichte. Neun Monate später – alles richtig auf Tag und Stunde – schenkte sie ihm ein Kind, ein Mädchen. Das ist das Götterweib geworden, das uns vorhin beim Vorübergehen so großartig übersehen hat. Das war die Tochter des alten Fechtmeisters.«
»Die Gräfin von Savigny!« rief ich erstaunt.
»Jawohl, die Gräfin von Savigny höchstselbst! Wer wird nach dem ›Woher?‹ fragen! Das darf man weder bei Frauen noch bei Völkern. Niemals nach der Wiege forschen! In Stockholm habe ich mir die von Karl dem Zwölften einmal angesehen. Sie sieht aus wie eine rot angestrichene Pferdekrippe und wackelte auf allen vier Beinen. Und was für ein Haudegen ist da herausgekrochen! Ich meine, alle Wiegen sind kleine Ställe, die gar nichts Romantisches an sich haben, wenigstens nicht, solange das Kind noch drinnen liegt.«
Der Doktor bekräftigte seine kernige Rede, indem er sich mit seinem Lederhandschuh auf seinen festen Schenkel schlug. Dann machte er eine Pause. Da ich seiner Weltanschauung nichts entgegenzusetzen hatte, fuhr er nach einer kleinen Weile fort:
»Alte Soldaten sind immer in Kinder vernarrt, und wenn es fremde sind. Stassin war es in das seine. Das ist nichts Verwunderliches.
Stassins erste Sorge war, seinem Kinde einen Paten unter den Adligen auszusuchen, die bei ihm aus- und eingingen. Er wählte den Grafen von Avice, den ältesten aller der vornehmen Kenner der Waffen und der Welt, der während der Emigration in London selber Fechtunterricht erteilt hatte, die Stunde zu ein paar Talern: Dieser Graf von Avice, Ritter des Ludwigsordens und Rittmeister a. D., war jetzt mindestens ein Siebziger. Gleichwohl übertrumpfte er noch immer alle jungen Fechter. Er schätzte Stassin ungemein und duzte sich sogar mit ihm. ›Die Tochter eines Mannes wie du‹, sagt er, ›muß unbedingt den Namen eines Heldenschwertes tragen. Wir werden sie Haute-Claire (Alte- Klare) taufen lassen.‹ Und so geschah es auch, trotz der Widerrede des Pfarrers, der einen so ungewöhnlichen Namen noch nie an seinem Taufbecken ausgesprochen hatte. Da aber der Graf von Avice Taufpate war und trotz aller Stänkereien der Liberalen unzerstörbare Bande zwischen dem Adel und der Geistlichkeit ewiglich bestehen, und da überdies im katholischen Kalender eine heilige Claire verzeichnet ist, so ging der Name von Oliviers berühmtem Schwert auf das Kind über, ohne daß sich die Stadt darob besonders aufregte.
Ein solcher Name birgt in sich ein besonderes Schicksal. Der Fechtmeister, der seine Kunst beinahe ebenso lieb hatte wie seine Tochter, beschloß, sie im Fechten zu unterweisen und ihr seine Künste als Mitgift zu hinterlassen. Eine magere Mitgift in unserer anspruchsvollen Zeit! Sobald die Kleine stehen konnte, fing er die Übungen mit ihr an. Und da sie Gliedmaßen wie aus Stahl hatte, entwickelte sich ihr Körper so rasch und so wundervoll, daß sie mit zehn Jahren für fünfzehn gehalten wurde. Bald nahm sie es im Fechten mit ihrem Vater und mit den besten Fechtern von V*** auf. Überall redete man von der kleinen Haute-Claire Stassin und später von dem Fräulein Haute-Claire Stassin. Am neugierigsten waren natürlich die jungen Damen der Stadt, die selbstverständlich mit der Tochter eines Fechtmeisters nicht verkehrten, wenn er auch noch so nett von ihren Vätern behandelt wurde. In ihre Neugier mischte sich ein gut Teil Neid und Gehässigkeit, denn ihre Väter und Brüder redeten voller Bewunderung und Entzücken von diesem heiligen Georg in Weibesgestalt als dem Inbegriff von Schönheit und Fechterkunst zugleich. Diese Neugierigen hätten sich Haute- Claire gern einmal recht in der Nähe angesehen, aber sie bekamen sie nur aus der Ferne zu Gesicht.
Ich kam damals gerade nach V*** und war nicht selten Zeuge dieser Neugier. Stassin verdiente mit seiner Fechtschule ein Heidengeld. Jetzt leistete er sich ein Reitpferd und gab seiner Tochter Reitstunden. Übrigens ritt er auch für seine adeligen Schüler junge Pferde zu. So begegnete man ihm in der Umgegend der Stadt oft, hoch zu Roß, seine Tochter an der Seite. Ich bin den beiden oft in den Weg gekommen, wenn ich von meinen Krankenbesuchen heimkehrte.
Haute-Claire war für das Reitkostüm wie geschaffen. Dabei bekam man ihren Wuchs zu sehen, niemals aber ihr Gesicht, das immer ein dichter dunkelblauer Schleier verbarg. Tatsächlich kannten kaum die Männer der Stadt das junge Mädchen von Angesicht. Den ganzen Tag über hatte sie im Fechtsaal zu tun, das Florett in der Hand und die Fechtmaske vor dem Gesicht, die sie selten abnahm. Ihr Vater war mit der Zeit ein wenig steif geworden, und so vertrat sie ihn oft in den Stunden! Zum Ausgehen hatte sie selten Zeit. Aber wenn sie auf die Straße ging oder auch sonntags in die Messe, trug sie einen undurchdringlichen Schleier, einen aus schwarzer Spitze, der ihr Antlitz vollständig verhüllte. War dies ein selbstgefälliges Versteckspiel, um neugierige Seelen zu ärgern? Möglicherweise. Wer konnte das sagen? Schließlich war ihr Wesen – wie Sie noch sehen werden – bei weitem unergründlicher als ihr Gesicht hinter der Maske.
Ich überspringe tausend Einzelheiten, um zu der Zeit zu gelangen, wo meine eigentliche Geschichte beginnt.
Haute-Claire war ungefähr siebzehn Jahre. Der ehedem so unverwüstliche Fechtmeister war stark gealtert, seine Frau gestorben. Die Julirevolution hatte sein Geschäft schwer geschädigt. Sein Fechtsaal war vereinsamt, denn der Adel hatte sich trauernd auf seine Schlösser zurückgezogen. Den Alten plagte die Gicht, wenn er es sich auch nicht anmerken lassen wollte. Für mich, den Arzt, war es klar, daß Stassins Tage gezählt waren. Da führten ihm eines Tages zwei seiner Schüler einen jungen Standesgenossen zu, der im Ausland erzogen und erst neuerdings heimgekehrt war, um nach dem Ableben seines Vaters den väterlichen Besitz zu verwalten. Es war der Graf Serlon von Savigny, der ›Zukünftige‹ – wie man in V*** sagt – einer jungen Dame der Gegend, der Delphine von Cantor. Der Graf gehörte unbedingt zu den glänzendsten und schneidigsten jungen Männern von damals, die allesamt Mumm in den Knochen hatten. Ja damals, da gab es noch eine wirkliche Jugend, damals in der guten alten Zeit.
Man hatte dem Grafen viel von der berühmten Haute-Claire Stassin vorgeschwatzt. Sie sei das Wunder eines jungen Mädchens, rassig, verwegen und verteufelt verlockend in ihrem Seidentrikot und ihrem engen schwarzen Ledermieder, eine Gestalt wie die Pallas von Velletri, nur sehr ernst. Savigny sah ihr zu, wie sie ihre Stunde gab. Dann bat er sie, die Klinge mit ihm zu kreuzen. Das Waffenglück lächelte ihm nicht. Haute-Claire bog ihre Waffe ein paarmal auf der Brust des schönen Serlon, während kein einziger Stoß sie berührte.
›Sie sind unnahbar!‹ meinte er galant. War das doppelsinnig? War die Sinnlichkeit stärker in ihm als seine Eigenliebe? Tatsache aber war es, daß Savigny fortan Tag um Tag eine Fechtstunde auf Stassins Paukboden nahm. Kein Mensch fand das auffällig. Er kam regelmäßig von seinem nur ein paar Wegestunden entfernten Schloß, zu Pferd oder im leichten Wagen, ohne daß sich in dem alten Klatschnest auch nur eine Zunge gerührt hätte. Die Liebhaberei für die Fechtkunst erklärte alles. Savigny war verschlossen. Übrigens wußte er es so einzurichten, daß er stets allein Unterricht hatte. Er war ein gerissener Junge. Was zwischen ihm und Haute-Claire vorging, wenn überhaupt etwas vorging, das wußte oder ahnte keiner. Seine Heirat mit Delphine von Cantor war seit Jahren eine abgemachte Sache zwischen den beiden Familien. Sie sollte in einem Vierteljahr stattfinden. Die letzten vier Wochen verbrachte Savigny gänzlich in V***. Er widmete sich tagsüber seiner Braut; abends ging er regelmäßig in seine Fechtstunde. Das Brautpaar ward in der Kirche aufgeboten. Haute-Claire hörte, wie die Namen verlesen wurden, aber weder Gesicht noch Haltung von ihr verrieten irgendwelche Teilnahme an diesem Aufgebot. Allerdings dachte keiner daran, sie zu beobachten. Noch fiel es niemandem im Traum ein, eine Liebschaft zwischen Savigny und der schönen Haute- Claire zu wittern. Nach der Trauung zog sich das gräfliche Paar nach Schloß Savigny zurück. Die Gräfin richtete sich in aller Ruhe ein, und Savigny erschien nach wie vor in der Stadt und auf dem Fechtboden. Übrigens machten es seine Standesgenossen im Umkreis alle so.
Die Zeit floß dahin. Stassin starb. Die Fechtschule war eine Zeitlang geschlossen. Dann öffnete sich ihre Pforte wieder. Fräulein Haute- Claire Stassin machte bekannt, daß sie die Schule ihres Vaters weiterführte. Bald hatte sie mehr Schüler denn je. Die Männer sind immer und überall die gleichen. Am eigenen Geschlecht mißfällt ihnen das Außergewöhnliche; das verletzt sie. Steckt es indes in einem Weiberrock, so sind sie toll dahinterher. In Frankreich besonders. Wenn dort eine Frau einen männlichen Beruf ausübt, und wäre er noch so elendlich, so wird sie ohne weiteres dem Mann vorgezogen. Bei Haute-Claire kam dazu, daß sie ihre Sache zehnmal besser verstand als ein Mann. Sie war eine unvergleichliche Lehrmeisterin. In ihrer Kunst war ihr nicht beizukommen. Aber auch ohne ihre besonders an einer Frau wunderbare Befähigung, die ihr ein vornehmes Leben ermöglichte, war sie ein fesselndes Geschöpf. Ihr Beruf erheischte es, daß sie täglich mit den reichsten jungen Leuten verkehrte, unter denen sich mancher Schwerenöter und Tunichtgut befand. Trotzdem blieb ihr Ruf ohne Tadel. Man konnte ihr nichts nachsagen. ›Sie ist eine anständige Person‹, sagten die Damen von ihr. Auch ich war in der Hinsicht auf Haute-Claires Tugend derselben Meinung wie die ganze Stadt. Und ich bilde mir doch etwas auf meine Beobachtungsgabe ein. Ich kam hin und wieder in ihren Fechtsaal, und immer fand ich da ein junges Mädchen, das in ernster und natürlicher Art seine Stunden gab. Sie verstand aufzutreten. Jedermann hatte Respekt vor ihr. Sie war zu keinem vertraulich oder nachlässig. Ihr Gesichtsausdruck war sehr stolz, aber noch ohne jene Glückseligkeit, die Sie vorhin so ergriffen hat. In ihren Zügen lag nichts von Kummer oder Zerstreutheit oder sonstwas, woraus man auch nur im geringsten auf das unerwartete Ereignis hätte schließen können, das wie ein Blitzstrahl die kleine Stadt in Brand setzte. Eines Tages war Fräulein Haute-Claire Stassin spurlos verschwunden.
Wohin war sie? Warum war sie weg? Keiner wußte es. Fort war sie. Das war sicher. Erst ein Schrei des Entsetzens. Dann ein Stillschweigen. Und dann brach es los. Die Zungen, die lange zurückgehaltenen, kamen nicht wieder zur Ruhe, wie das Wasser, das wütend über ein Mühlrad schäumt, sobald die Schützen geöffnet sind. War das ein Tuscheln und Schwatzen! Denn Haute-Claire war verschwunden, ohne ein Wort der Andeutung vorher oder der Erklärung hinterher. Spurlos. Wie man sich eben entfernt, wenn man im wahrsten Sinne des Wortes verschwinden will. Wer etwas, und sei es das geringfügigste Nichts, hinterläßt, woran die lieben Nächsten sich Aufschluß suchend klammern können, der verschwindet nicht richtig. Haute-Claire aber war es völlig. Sie hatte sich nicht etwa sozusagen heimlich aus dem Staube gemacht; denn sie hinterließ ebensowenig Schulden wie sonstwas. Aber sie wirbelte Staub auf mit ihrer unfaßlichen, ungeahnten Tat. Die Zungen rasteten nicht. Man hatte keinen Anhalt. Man suchte und ward immer gehässiger. Haute-Claires Ruf ward arg zerzaust. Sie, die Unnahbare und Tadellose, mit wem war sie durchgegangen? Wer hatte sie entführt? Denn das war klar, daß sie jemandem zuliebe auf- und davongegangen war. Niemand gab Antwort. Die Kleinstädter verloren vor Wut den Verstand, und gründlich. Die guten Leute hatten auch allen Grund, aufgebracht zu sein. Man hatte geglaubt, Haute- Claire zu kennen. Nun stellte es sich heraus, daß man keine Ahnung von ihr gehabt hatte; denn das hatte ihr doch niemand zugetraut, so zu verschwinden. Man hatte gemeint, sie werde eines Tages heiraten oder eine alte Jungfer werden, wie andere auch. Und schließlich verlor man mit ›dieser Stassin‹, wie man sich nur noch ausdrückte, einen weit und breit berühmten Fechtsaal, eine Zierde und Ehre der Stadt. Solch ein Verlust war schwer zu verschmerzen. Man hatte somit genug Grund, das Andenken dieser untadeligen Haute-Claire mit den gemeinsten Verdächtigungen zu besudeln. Man tat sich dabei keinerlei Zwang an. Außer ein paar alten hochvornehmen Herren, darunter ihr gräflicher Pate, die Haute-Claire hatten heranwachsen sehen und die sich grundsätzlich nicht aufregten, verteidigte niemand die Entschwundene, fand es niemand ganz natürlich, daß sie gewiß eine bessere Versorgung vorgezogen hatte. Mit ihrem Streich hatte sie die ganze Stadt in ihrer Eitelkeit gekränkt. Am meisten grollten ihr die jungen Leute. Sie erbosten sich vor allem gegen sie, sintemal sie mit keinem von ihnen durchgegangen war. Lange war dies ihr größtes Leid, ihr größter Kummer. Wer war der Glückliche, dem sie gefolgt war? Viele verbrachten regelmäßig den Winter in Paris. Der und jener wollte sie dort gesehen haben, im Theater, in den Champs-Elysees, zu Pferde, in Gesellschaft oder allein. Sie waren indes ihrer Sache nicht ganz sicher; beschwören konnte es keiner. Vielleicht war sie es gewesen, vielleicht aber auch nicht. Man beschäftigte sich unausgesetzt mit ihr. Sie war unvergeßlich.Wie hatte man sie einst bewundert! Wer das Florett liebte, der trauerte. Die große Meisterin, die Sonne, war entschwunden. Nach ihrem Verlöschen versank V*** in den Stumpfsinn und die Eintönigkeit aller Kleinstädte, die keinen lebendigen Mittelpunkt haben, wo Liebhabereien und Neigungen zusammenlaufen.
Die Waffenliebe schlief ein. Die bisher durch ihre kriegerische Jugend so lebhafte Stadt wurde öde. Die jungen Leute griffen zum Gewehr. Sie wurden Jäger und blieben auf ihrem Grund und Boden. Savigny genauso wie die anderen. Er kam immer seltener in die Stadt, höchstens in die Familie seiner Frau, deren Arzt ich war. Ich argwöhnte damals nicht im geringsten, daß irgendein Zusammenhang zwischen ihm und Haute-Claires plötzlichem Verschwinden bestehen könnte. Allmählich schwieg man über den Fall. Ich hatte also keine Veranlassung, die Sache vor Savigny zu erwähnen. Er sagte auch nie ein Wort, weder über Haute-Claire noch über jene Zeit, wo wir einander im Fechtsaal begegnet waren.«
»Aha!« unterbrach ich den Doktor. »Da liegt der Hase im Pfeffer! Savigny hatte sie entführt!«
»Bewahre! So einfach war die Sache denn doch nicht! Aber Sie können nicht darauf kommen. Erstens ist in der Provinz eine geheime Entführung äußerst schwierig. Und dann war der Graf seit einer Verheiratung aus seinem Bau gar nicht herausgekommen.
Alle Welt wußte, daß das gräfliche Paar in vertrautem Beieinander in endlosen Flitterwochen lebte. In einer kleinen Stadt weiß und kennt man bekanntlich alles. Savigny galt als das Muster eines Ehemannes. Ich hätte die fromme Sage vielleicht selber bis an mein Lebensende geglaubt, wenn ich nicht – es war ungefähr ein Jahr nach Haute-Claires Verschwinden – dringlichst nach dem Schloß gerufen worden wäre, weil die Gräfin krank sei. Ich ritt spornstreichs hin und ward sofort zu ihr geführt. Ich fand sie tatsächlich sehr leidend, in einem schwer bestimmbaren, vieldeutigen Zustand, der tausendmal schlimmer ist als eine ausgesprochene Krankheit. Sie gehörte zu jenen kraftlosen, eleganten, vornehmen, hochmütigen Frauen aus altem Geschlecht, die in ihrer Blässe und Magerkeit einem gleichsam sagen: ›Die Zeit hat mich überwunden wie alle meinesgleichen. Ich sterbe, aber ich verachte euch alle miteinander!‹
Ich bin gewiß bis in die Knochen ein Kind des Volkes, und es widersprach meiner Weltanschauung, aber der Teufel soll mich holen, ich fand das erhaben! Die Gräfin lag auf einem Ruhebett. Es stand in einem Empfangszimmer mit schwarzem Balkenwerk und weißen Wänden. Der Raum war weit und hoch, und man blickte auf allerhand Antiken, die dem Kunstsinn derer von Savigny zu hoher Ehre gereichen. Eine einzige Lampe erleuchtete das große Gemach. Ein grüner Schirm machte ihren Schein doppelt geheimnisvoll. Er fiel in das Gesicht der Gräfin und auf dessen fieberrote Flecken. Ihr war bereits seit einigen Tagen nicht wohl; und Savigny hatte neben dem Lager seiner geliebten Gattin ein Bett für sich aufschlagen lassen. Als indes das Fieber aller Sorgfalt zum Trotz beharrlich stieg, da hatte er schließlich nach mir geschickt. Er stand da, mit dem Rücken an den Kamin gelehnt, bekümmert und unruhig, so daß ich annehmen mußte, er liebe seine Frau zärtlich und glaube sie in Gefahr. Indes galt die Besorgnis, die seine Stirn umdüsterte, nicht seiner Frau, sondern einer, die ich unmöglich im Schloß Savigny vermutete, deren Anblick mich deshalb beinahe zur Bildsäule erstarren ließ, der Haute-Claire Stassin.«
»Donnerwetter, das ist toll!«
»So toll, daß ich glaubte, ich sei im Traum. Die Gräfin hatte vor meiner Ankunft ihre Kammerfrau beordert, ihr eine Arznei zu bringen. Jetzt bat sie ihren Mann, der Dienerin zu klingeln. Die Tür ging auf.
›Eulalia, meine Arznei?‹ fragte die Gräfin kurz und ungeduldig.
›Hier, Frau Gräfin‹, sagte eine mir bekannte Stimme. Und im nämlichen Augenblick trat aus dem Dunkel des Gemaches in den Lichtkreis der Lampe Haute-Claire Stassin, wirklich und leibhaftig. Sie hielt in ihren schönen Händen ein silbernes Brettchen mit einer Schale voll dampfender Arznei. Der Anblick benahm mir beinahe den Atem. Eulalia! Zum Glück sagte mir dieser gelassen ausgesprochene Name alles. Ich hatte sofort meine Kaltblütigkeit wieder und meine Zurückhaltung als Arzt und Beobachter. Aus Haute-Claire war also Eulalia geworden, die Zofe der Gräfin von Savigny! Ihre Verkleidung, soweit ein solches Wesen sich verkleiden kann, war tadellos. Sie ging in der Tracht, wie sie die Hausmädchen in V*** tragen; sie trug eine turbanartige Haube und an den Wangen herunterhängende Korkzieherlocken. Die Pfaffen von dazumal nannten diese Art Locken ›Schlangen‹, um dem jungen Volk Abscheu davor einzuflößen, was ihnen indes durchaus mißlang. Haute- Claires Schönheit war hinter so viel Demut gebannt, und ihre Überlegenheit verbarg sich derart in ihrem niedergeschlagenen Blick, daß ich mir sagte: Was bringen die Weiber mit ihren Schlangenleibern nicht alles fertig, wenn sie der Teufel dazu treibt! Im übrigen war ich sofort wieder Herr meiner selbst. Nur wollte ich dem kühnen Geschöpf zu verstehen geben, daß ich sie erkannt hatte. Während die Kranke langsam ihre Arznei aus der Schale schlürfte, richtete ich meine Augen fest auf Haute-Claire, als wollte ich die ihren durchbohren, die an diesem Abend sanft wie Rehaugen blickten. Sie hielt besser stand als vorhin die Pantherin. Sie zuckten nicht. Nur an ihren Händen bemerkte ich ein kaum merkliches Beben.



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