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Samstag, 22. April 2017

Wie war's bei Pelléas et Mélisande von Debussy in der Frankfurter Oper

Mélisande und Pelléas
(c)  Barbara Aumüller

Maeterlinck
Graf Maurice (Polydore Marie Bernard) Maeterlinck war ein belgischer Schriftsteller und Dramatiker, der eine wichtige Bedeutung im sog. Symbolismus hatte. 1862 in Gent geboren, erhielt Maeterlinck 1911 den Nobelpreis für Literatur, wurde 1932 vom belgischen König geadelt und zum Grafen ernannt, flüchtete während der Nazizeit in die USA und kehrte noch einmal für zwei Jahre in seine Heimat zurück, bevor er am 6. Mai 1949 in Nizza starb. 

Der Dichter hat etliche lyrische Werke und Bühnenstücke verfasst – darunter das Schauspiel Pelléas et Mélisande, das durch Claude Debussy noch eine größere Bedeutung bekam. Der Musiker und Komponist großer romantischer moderner Welten komponierte eine Oper (seine einzige) zu Maeterlincks Bühnenwerk, die sich heute weltweit großer Beliebtheit erfreut. Bereits nach der Uraufführung des Bühnenwerks am 16. Mai 1893 im Théâtre de Bouffes-Parisiennes in Paris galt es als Hauptwerk des Symbolismus.  


Mélisande und Golaud
(c)  Barbara Aumüller
In Frankfurt seit 26. März 2017 als Wiederaufnahme auf der Opernbühne, präsentiert sich ein modernisierter Maeterlinck vom mystischen Wasserschloss in ein modernes Landschlösschen, vom märchenhaften König zu einem englisch anmutenden Adligen verändert, der sich auch König nennt, aber einen Teil des Bruchs in der gesamten Inszenierungslinie verkörpert. Während sich der Text des Librettos noch hart am irrealen symbolistisch Verhangenen, an der Todesahnung und dem Multibedeutsamen orientiert, hat sich die szenische Äußerlichkeit metonymisch über die Jahrzehnte weiterverschoben. Es sind Kunstfiguren, die nicht wirklich von dieser Welt sind, artifiziell konstruiert, von Naturphänomenen irritiert und arretiert, immerzu von dunkler Ahnung, in einer symbolträchtigen Welt und Kulisse agierend. Wie "Blinde" oder Isolierte leben und regieren sie hier, zwar einen Heilbrunnen gegen Blindheit beim Schloss, aber er ist versiegt, er hat auch nicht verhindert, dass der König blind wurde. Die Doppeldeutigkeit der Blindheit erinnert an die adligen Protagonisten des "Kirschgartens" von Tschechow, die nicht merken, was wirklich um sie herum geschieht und was sich verändert. Bis auf eine merkwürdige Stelle, wo Golaud berichtet, einen toten Bauern am Strand gefunden zu haben, verhungert. Hilflos dem Unbekannten, dem Unheil oder Tod ausgeliefert, horchen sie in die Stille, ob sich etwas mitteilt, ein Signal zu hören ist. Passivität ist dominant.

Ungewöhnlich auch die Geschichte von Mélisande, die Prinz Golaud (gefeierter Bariton Brian Mulligan) bei der Jagd an einem Brunnen findet, die unaufhörlich weint, ein Krönchen im Wasser verloren hat, und nicht sagt, wer sie ist und woher sie kommt. Golaud heiratet sie, aber ohne Papiere, sie müssen noch nachgereicht werden, und verbringt einen geheimen Honey Moon mit ihr. Er fürchtet auch, dass der erkrankte Vater König Arkel (präsenter Bass Alfred Reiter) die Beziehung als Mesalliance werten könnte und kehrt erst einmal nicht vom Jagdausflug zurück. Monate später, als er von der Schwangerschaft weiß, bittet er Pelléas um "Vorbereitung" seiner Rückkehr zum Vater und um eine Fackel im Fenster als Zeichen der Akzeptanz. So wird das Kennenlernen der düsteren Heimat Golauds für Mélisande (äußerst reizvoll und feminin, ein Diamant der Schöpfung mit starkem Sopran Gaëlle Arquez) wenigstens ein bisschen gemütlich. Der Gesamteindruck ist jedoch erschreckend für sie. 


Mélisande und Pelléas
(c)  Barbara Aumüller
Der Halbbruder Pelléas (verliebter Galan und beeindruckender Bariton Björn Bürger) hat größere Chancen bei Mélisande, und sie wird auch bereitwillig seine Geliebte. Die Fesselspielchen und Zärtlichkeiten mit ihr verträgt der Ehemann natürlich nicht, er sprengt die Intimität, und in einem düsteren Kellergewölbe macht er Pelléas klar, was passiert, wenn er nicht aufhört sie zu umwerben. Doch die beiden lieben sich und zeigen es ihm durch einen langen Kuss, als er sie erneut überrascht. Golaud erschlägt Pelléas und verletzt Mélisande, die bald nach der Geburt ihres Kindes stirbt, was der Mann ihr prophezeite - sie ginge voraus, er würde ihr folgen, denn seine Liebe zu ihr sei ewiglich. So wird dieses Königshaus dem Untergang gewidmet sein, wenn nicht der Sohn Golauds aus erster Ehe den Thron erklimmen wird. 

Fahles Sonnenlicht, Düsternis und Schicksal, Tod und Verderben, Zerfall und Endzeit, alles spür- und erlebbar unter der Regie von Claus Guth sowie im Szenischen (Drehbühne, Glitterregen bei Nacht) von Tobias Heyder und nicht zuletzt in der Musik Debussys, der mit Maeterlinck während der Entstehung alles abgesprochen hatte, Maeterlincks Texte hervorhob, sie in den Mittelpunkt stellte und feierte, so wie Maeterlinck ein Gönner Debussys war. Unter der musikalischen Leitung von Joana Mallwitz wird Debussys Tonfarbenvielfalt, ein Meer der Empfindungen ausgebreitet, die Musik umtanzt die Worte und Symbole, stellt Dissonanzen und Assymetrien dar und korrespondiert hier wieder mit dem verschobenen
Debussy
Ort der Handlung und Zeit des gesamten Stückes. Häufige Tonartwechsel lassen ebenso häufig Erwartungsänderungen und Spannung aufkommen, Gefühle werden umspielt, aber kontrastiv interpretiert. Dadurch entsteht auch der gewissermaßen unechte Charakter der Wahrnehmung und Empfindung - wie im Kunstlicht erscheint einem alles. Der Text gibt mitunter zu wenig her, wird als langweilig empfunden, ebenso wie die Statik in den Bildern, dann wieder hoch poetische Worte, Schwärmereien, Liebevolles, (Schein-)Bewegung, gefolgt von kühler Zauberhaftigkeit, dissonanten Gefühlsmomenten, Unerwartetem, was man harmonischer erwartet. Ein Werk, das man sich in seiner interessanten Andersheit anschauen sollte, um sich eine eigene Meinung zu bilden. Aus musik- und literaturhistorischen Blickwinkeln ein Hauptwerk des Symbolismus.



Sonntag, 12. März 2017

Wie war's bei LES TROYENS / DIE TROJANER von Berlioz in Frankfurt a.M.?

Cassandra   (c) Barbara Aumüller

Louis Hector Berlioz, geboren am 11. Dezember 1803 in La Côte-Saint-André, Département Isère und gestorben am 8. März 1869 in Paris, hatte vor wenigen Tagen seinen 148. Todestag. Er gilt den Franzosen als wichtiger Vertreter der romantischen Musik, obwohl er selbst sich nicht als Romantiker sah. Seine Oper "Les Troyes/Die Trojaner" komponierte er zwischen 1856 und 1858, überarbeitete sie allerdings bis 1864 noch weiter. Die Libretti der beiden Teile der Oper (I: 1. und 2. Akt bzw. II: 3.-5. Akt) stammen ganz aus seiner Feder. Berlioz hat zu Lebzeiten NIE eine komplette Fassung seiner Mammutoper, für ihn ein Poème lyrique, erlebt. 1863 wurde zwar der zweite Teil der Oper aufgeführt, nicht jedoch in der "Paris Opéra", die zögerte bereits fünf Jahre, sondern im Privatheater "Théâtre Lyrique" von Léon Carvalho, der starke Kürzungen und Eingriffe vornahm - der erste Teil aber erst zehn Jahre nach seinem Tod. Die erste Gesamtaufführung, an zwei Tagen allerdings, fand 1890 in Karlsruhe statt und die erste Gesamtaufführung am Stück 1950 in Boston. Berlioz hatte einen Hang zum Monumentalen, was natürlich auch eine Kostenfrage für die Opernhäuser war. Er verstand die Bühne wie ein riesiges Instrument, auf dem er spielt. Er hatte bei einigen Werken Mühe, die manchmal an die 1000 erforderlichen Sänger/innen und Musiker zusammenzutrommeln, um zu üben. Gerade der Chor der trojanischen Frauen ging in seiner Absicht schon in die Hunderte. Frankreich feiert ihn heute ähnlich wie wir Wagner.


Cassandra sieht das Unheil   (c) Barbara Aumüller

In der Frankfurter Oper hat der geneigte Opernbesucher zurzeit beste Gelegenheit, dieses sehr beeindruckende Werk in einer sehr, sehr überzeugenden Inszenierung mit einem feudalen, antiken und wagnerianisch anmutendenen Bühnenbild, einem riesigen trojanischen Pferd und einer großen (aber dennoch stark reduzierten) Anzahl an künstlerischen Mitarbeitern zu erleben. Die 4-Stunden-Oper hat unter der Leitung von John Nelson eine so starke musikalische Lebendigkeit und Bandbreite, in der Inszenierung von Eva-Maria Höckmayr ein eindringliches dramatisches Geschehen, auch wenn die Handlung nur ein Destillat des ursprünglichen Heldenepos der Trojanerlegende ist, dass die Komposition in der Grundlage erstens die Spannung auf richtigem Niveau halten kann, zweitens keine Abstürze zeigt und drittens den Stoff doch vermittelt. Die Stimmen ein Genuss, ganz vorne und bejubelt die Spitze mit Cassandra (Tanja Ariane Baumgartner), Dido (Claudia Mahnke) und Aeneas (Bryan Register). Die Einlagen der Tänzer wirken nicht nur kommentierend, sondern auch und sehr stark als ein ästhetischer Genuss, nicht zuletzt durch die Kostüme und Masken.

Die Regie hat den Trojaner-Männern braun-pastellige Hitlerjugend-Uniformen (ohne Embleme) mit kurzen Hosen angezogen, um die Glorifizierung von Sagenhelden und Göttermenschen zu exponieren, wie es in der Ideologie der Nazis in der allgemeinen Propaganda, vor allem auch in Schulen und Universitäten verbreitet wurde. Man kann sich darüber streiten. So werden durch die Idee der Imperiumsfanatiker die sagenhaften Gründer des späteren römischen Reiches beleuchtet, das ja Jahrhunderte hielt im Gegensatz zu den maximal fünfeinhalb Jahren Blitzbesetzungen von europäischen, euroasiatischen und afrikanischen Ländern mit Massenmorden an Minderheiten enormen Ausmaßes, wie es die IS heute in kleinerem arabischem Rahmen betreibt, und Vertreibung der Hitlerarmeen bei gewaltigem Aufmarschszenario zu Hause bis zur Kapitulation. 

Berlioz war ein belesener Mensch, ein Liebhaber der Literatur, so hatte er seinen Vergil und Shakespeare gut gelesen und bewegte sich einmal frei, einmal quellentreu entlang Vergils "Aeneis" und holte sich bei Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig" die Liebesszene von Jessica und Lorenzo für Aeneas und Dido dazu. Aeneas ist ein konfuser Held, er weiß nicht so ganz was tun, bis er durch Hectors Erscheinung erfährt, dass er der Begründer eines riesigen Imperiums werden soll. Diese Prophezeiung setzt er in die Tat um, Merkur erinnert ihn noch mal in einer "Timer-Funktion" beim Liebespiel mit Dido daran, und verlässt nicht nur seine trojanische Frau, sondern auch die Herrscherin von Karthago, Dido, um den Plan zu erfüllen. Er weiß, dass er dabei den Tod finden wird, aber todessehnsüchtig bewegt er sich und seine Flotte darauf zu. 


Verzweifelte Dido   (c) Barbara Aumüller

Die Frauen haben bei Berlioz eine tragische Rolle. Cassandra, die Seherin, der keiner glaubte, obwohl das Pferd, vor dem sie warnte, das Ende Trojas war, fordert von den Trojanerinnen ihre Ehre zu bewahren, indem sie sich umbringen, anstatt sich den Griechen hinzugeben, viele folgen ihr in den Freitod. Dido in Karthago fühlt sich so betrogen von Aeneas, dass sie sich mit seinem Schwert umbringt. Eine unkluge Entscheidung der einst so gefeierten und geliebten Herrscherin, Liebeskummer und Entehrungsängste machen es möglich. Ihre Gefolgsleute schwören bei dieser Gelegenheit die Jahrhunderte dauernde Fehde zwischen Karthago und Rom.

Ein Meisterwerk der Musikgeschichte, undenkbar ohne Vergils Dichtung und Vergil überbietend in der Tiefe der Kunst.


OPER FRANKFURT A.M. --- MÄRZ 2017

FR 03. DO 09. SO 12. SA 18. SO 26.

Donnerstag, 9. März 2017

Wie war's bei Sarah Kane's "4.48 Psychose" im Schauspiel Frankfurt?

(c) Birgit Hupfeld
Sarah Kane's letztes von fünf Dramen entstand Ende 1998 und wurde von ihr kurz nach ihrem 28. Geburtstag am 3. Februar 1999 ihrem Verleger übergeben. Am 20. Februar beging sie Selbstmord im Waschraum der Psychiatrie des Londoner King's College Hospital durch Erhängen. 

Sie war in den Jahren davor zur wichtigsten Vertreterin des radikalen britischen Dramas geworden und präsentierte seit Januar 1995 mit ihrem ersten Stück "Zerbombt" (Blasted) und nachfolgend "Phaidras Liebe" (Phaedra's Love), 1997 "Gesäubert" (Cleansed) und 1998 "Gier" (Crave) unglaubliche Dinge auf der Bühne, die extrem provozierten und eine Auflösung von Schauspiel waren. Sie machte vor nichts halt und ging noch über die vergangenen Provokationen hinaus: Vergewaltigung, Folter, Verstümmelung, Kannibalismus, Sadismus, Blutbäder u. dgl. mehr. 


Alle ihre Stücke hatten das Hauptthema Auseinandersetzung. Ihr Schaffensweg holte die Konflikte von außen - Krieg - nach innen - innerpsychische Extremstreits. Die Dramatiker und ihre Arbeit der 90er-Jahre werden in England "In-Yer-Face-Theater" genannt. Sie brachten schockierende, blutige und ordinäre Stoffe auf die Bühne, um ihr Publikum vor den Kopf zu stoßen. Obwohl schon dichte 40 Jahre seit den 60ies und punktuell verlängert Jahrhunderte blutige Theatergeschichte vorausgingen. Neben Sarah Kane wurden Mark Ravenhill und Anthony Neilson stark beachtet.

“There's not a drug on earth can make life meaningful” (Originaltext, im Schauspiel auf Deutsch)

Zurzeit im Schauspiel Frankfurt im Minitheater BOX zu sehen ist das letzte Drama Kanes "4.48 Psychose" in einer eindringlichen, betroffen machenden, aber auch aufgrund der absurden Welten und inneren Monologe, der exponierten Provokationen und dem dezidierten britischen schwarzen Humor, der sogar in der Psychose sich noch auf den Arm nimmt, verblüffend amüsierenden Aufführung unter der Regie von Daniel Foerster. 

“Have you made any plans?
Take an overdose, slash my wrists then hang myself.
All those things together?
It couldn't possibly be misconstrued as a cry for help.” 

Maike Jüttendonk, Björn Meyer und Viktor Tremmel geben ihr Bestes das psychotische Assoziationskonvolut quellengerecht darzustellen. Maike Jüttendonk mit einer großen Vielfalt an Stimmungen, die das innere Chaos sehr beeindruckend vermittelten. So auch die beiden Männer im Spiel, die eigentlich nur gespiegelte Stimmen des Ichs, Abspaltungen des Ichs, waren, noch dazu "verkompliziert" und erklärt mit einem Transvestiten, der in seiner Haut/Körperhülle gar nicht leben kann, weil er sie gar nicht will (Viktor Tremmel). Ohne Rollenverteilung oder anders gesagt mit wechselnder Rollenzuweisung unterhält sich eine Frau über ihre gescheiterte Liebe und Beziehung zu einer anderen Frau, was sie neben vielen anderen Dingen wahnsinnig macht, sie mehr und mehr den Entschluss fassen lässt, die Abkehr der Geliebten gegen sich selbst zu richten, sich an dem folgenden Tag um 4:48 Uhr, der Zeitpunkt, an dem sie täglich aufwacht in einem extrem starken Bann einer Klarheit, die aufkommt, weil die Psychopharmaka aufhören zu wirken. 


Der Suizidtanz (c) Birgit Hupfeld
Die Klarheit hat etwas Bezwingendes und gleichzeitig auch Frustrierendes, das Nichts, alles ist sehr viel stärker präsent und überwältigend als zuvor, wobei ihr Gehirn messerscharf arbeitet und alle Gründe und Ursachen glaubt zu erkennen. Sarah Kane litt an Depressionen, die sich immer mehr steigerten, und wusste aus Erfahrung, dass in den frühen Morgenstunden um 4 bis 5 Uhr diese Klarheitsmomente auftreten. Umso intensiver erlebte ihr Alter Ego dann bei erneuter Einnahme der Medikamente das Eintauchen in die delirische Rauschwelt der Psychopharmaka. Ihr Überich in diesen Rauschstunden ist einzig und allein der Psychiater, der sich mit klarer Stimme vom Rest abhebt. Ihn karikierend tanzt sie die letzten provokativen Disco Dances, einer dem Multisuizid gewidmet, der andere als Persiflage auf die Über-Ich-Stimmen, der wieder das Publikum direkt anspricht, wie auch zuvor alle Illusion vermieden oder zerstört wird.

Ihr Thema ist wichtig, dominant, es will diskutiert werden, bis hin zum Interview der Zuschauer. Die betroffene Frau ist in einem unglaublichen Zustand, in dem nichts mehr geht, nicht einmal der Sex, sie denkt gar nicht mehr daran, nicht einmal, wenn sie an ihre Geliebte denkt. Und was das Schlimmste ist, diese Geliebte existiert nicht einmal! Quasi eine lesbische Liebe des Alter Egos, eine narzistische Liebe seiner selbst, die jedoch niemals erwidert werden kann, was die Agierende in den Abgrund treibt. Die radikale Metapher für das Geworfensein des Ichs auf sich selbst, ohne sich verstehen zu können, und für die erschreckende Einsamkeit des Ichs trotz und aufgrund der Trugbilder im Kopf. Ein normales und erfülltes Leben ist nicht möglich, weil Eigenliebe nicht entwickelt werden kann. Hier sind auch frühe Kindheitserlebnisse maßgebend. Sämtliche Dialoge sind Stimmen dieses Individuums, das die Nase voll hat vom Leben und das noch die letzten Gründe sucht bleiben zu können. Es gibt keine! Konsequent selbst generierte Trug- und Vexierbilder, die keine Chance geben, weiterzumachen. Das Ich kann sich nicht selbst treffen, anfassen, "ficken", sich Sinn geben ... Logischer Schluss: Es existiert gar nicht, und was an Täuschungen da ist, muss weg.


“Fuck you. Fuck you. Fuck you for rejecting me by never being there, fuck you for making me feel like shit about myself, fuck you for bleeding the fucking love and life out of me, fuck my father for fucking up my life for good and fuck my mother for not leaving him, but most of all, fuck you God for making me love a person who does not exist.
FUCK YOU FUCK YOU FUCK YOU.” 

“I dread the loss of her I've never touched 
love keeps me a slave in a cage of tears 
I gnaw my tongue with which to her I can never speak 
I miss a woman who was never born 
I kiss a woman across the years that say we shall never meet 

Everything passes 
Everything perishes 
Everything palls 

my thought walks away with a killing smile 
leaving discordant anxiety 
which roars in my soul 

No hope No hope No hope No hope No hope No hope No hope” 




Sarah Kane (3. Februar 1971 – 20. Februar 1999),
englische Stückeschreiberin. Foto von Jane Bown

Freitag, 24. Februar 2017

Wie war's bei Sergej Prokofjews DER SPIELER in Frankfurt?



Wie überschäumend und wie elend zugleich es einem gehen kann beim Glücksspiel, zeigt herrlich die Oper DER SPIELER von Sergej Prokofjew. Alle Ausprägungen der Glücksspielsucht werden beleuchtet, die Verzerrungen der Wahrnehmung, die Versprechen, ihre Schulden bald zu begleichen, das Prahlen, bald über noch mehr Geld zu verfügen ... und die bittere Realität. Es gibt Menschen, die einfach nur gerne Glücksspiele spielen, und andere, die spielsüchtig sind oder es schnell werden. Dass sie trotz erheblicher persönlicher Nachteile, wie z.B. großen finanziellen Verlusten, bis hin zum Verlust der gesamten materiellen Existenz, weiter spielen, ist reichlich absurd und kaum nachvollziehbar. Sie geraten wie beim Trinken in einen Teufelskreis. Aufhören erst, wenn kein Geld mehr da ist, weiterspielen selbstverständlich bei Gewinn, um noch mehr zu gewinnen, und weiterspielen, wenn verloren wird, denn das verlorene Geld muss zurückgewonnen werden. Spieler können nicht mehr entscheiden, ob sie spielen wollen oder nicht, sie müssen. Die Kontrolle über ihr Verhalten haben sie schon lange verloren. Dies alles zieht Konsequenzen für die Betroffenen selbst nach sich, aber auch für die Familien, Freunde, Bekannten, Kollegen, am Arbeitsplatz. Lügen und Ausreden wegen der Zockerei, Verlust der Authentizität, die Gegenüber verlieren das Vertrauen, die Partner wenden sich oft ab. Die existenzielle Lebensgrundlage geht verloren, das Spiel bestimmt das Alltagsleben. Jede Gelegenheit wird wahrgenommen und Familie, Berufsleben und soziale Kontakte vernachlässigt. Alltagsproblemen und negativen Gefühlen weichen sie aus, indem sie spielen. Dostojewski war ein Meister im Erkennen von psychischen Eigenheiten und stellte auch hier ein klassisches Psychogramm auf.

Sämtliche Figuren aus Prokofjews Oper erscheinen einem wie Automatenmenschen, Kunstfiguren, hörig dem Spiel, gierig nach Geld, krank und blutleer. 
Der General, der mit Familie, Bekannten und Gläubigern in besagtem (erfundenen) Roulettenburg wohnt, in dessen Casino Regisseur Harry Kupfer die Handlung spielen lässt, seine Schulden durch Spielen erhöht und darauf wartet, dass die reiche Tante endlich stirbt und ihr Erbe freisetzt, damit er seine Schulden bei de Grieux, dem Kavalier von Polina, der Stieftochter des Generals, begleichen kann. Mit Geld könnte er auch die eher mittellose, aber doch reizvoll junge Mademoiselle Blanche heiraten. Aleksej Iwanowitsch wiederum, der Hauslehrer des Generals, und Erzähler des Geschehens, weiß um die Intrigen de Grieux, der auch mit Blanche liebäugelt, und möchte ihm dessen zweites Objekt der Begierde Polina ausspannen, in die er unsterblich verliebt ist. Die jedoch lässt Aleksej nur als Verehrer an der Angel zappeln, spielt mit ihm, verspottet und verachtet ihn im Grund. Das gesamte Geschehen wird durch meisterhafte Regie und Bühnenbild auf einem großen Rouletterad in der Bühnenmitte akzentuiert, die Sängerinnen und Sänger wie Kugeln purzelnde Schauspieler, einander bekämpfend, einander angenähert, miteinander spielend, dem Götzen Geld Opfer und Anbetung darbringend.

Direkt in räumlicher Nähe das Sanatorium bzw. Hotel, das eigentlich eine Psychiatrie ist, wo die ganzen Charaktere wohl auch gut aufgehoben wären. Die Zwangsjacke als Zeichen für die Fesseln der Sucht taucht im Hintergrund auf. 

Die gute Tante ist nicht tot, sondern völlig lebendig, auch anklingende Mordideen zur Erbbeschleunigung blieben erfolglos. Sie kommt aus Moskau, dominiert, bricht mit dem Neffen General, der erfährt, dass er nie etwas bekommen würde, und verspielt ein angeblich ungeheures Vermögen. Sie lädt Polina ein, bei ihr zu leben, und reist wieder ab. Der General, dem Wahnsinn und Herztod nahe, seine Erbe stark reduziert ... De Grieux verlässt die jetzt uninteressante Polina, auch Mademoiselle Blanche lässt den General links liegen.

Nun hängt sich Polina an Aleksej, der daraufhin sofort ins  Casino geht, um deren Schulden bei de Grieux zu bezahlen. Nachdem ihm dies auch tatsächlich mit einem medienträchtigen Supergewinn gelingt, scheitert eine Beziehung mit Polina daran, dass seine Spielsucht größer geworden ist als die Liebe. Der überraschende Gewinn von 100.000 bei Roulette und Trente et quarante hat ihn komplett gewandelt. Polina flüchtet zu Mr Astley, Aleksej zieht tatsächlich mit der Honigfliege Mademoiselle Blanche nach Paris. Im Roman verarmt Aleksej in Paris und schlägt sich als spielsüchtiger Lakai in Homburg und Baden-Baden durch. Er verdrängt seine geliebte Polina vollends durch seine massive Spielsucht.

Prokofjew unternahm 1927 seine legendäre erste Reise in die 10 Jahre junge Sowjetunion. Er war kein Dissident, sondern in Absprache mit Lunatscharski, Lenins Volkskommissar für Bildung und Kultur, mit offiziellem Pass ausgereist und hatte in den Vereinigten Staaten, im bayerischen Ettal und in Paris gelebt. Die Reise war eine Wiederannäherung an Russland und eine Eingliederung in das sowjetische System. Überall wurde er als wichtiger sowjetischer Komponist gefeiert, so jedenfalls seine Sicht. Wieder zurück in Paris nahm er sich den Spieler wieder vor. Die Realisierung in der Sowjetunion scheiterte trotz grundlegender Umarbeitung erneut. So kam es im Theatre de la Monnaie in Brüssel 1929 zur Uraufführung in französischer Sprache.

In der Berliner Staatsoper unter den Linden zeigten sich Kritik und Publikum zufrieden. Zwei Jahre lang hielt sich die Oper im Spielplan. 1931 erstellte Prokofjew eine sinfonische Suite, indem er die verstreuten musikalischen Charaktere der Hauptpersonen zu vier Porträts und Finale op. 49 zusammenfasste. Die Oper selbst wurde zu Lebzeiten des Komponisten nicht mehr gespielt. Die russische konzertante Erstaufführung fand 1963 in Leningrad statt und fast zwanzig Jahre nach Prokofjews Tod kam 1970 in Tartu und 1974 in Moskau "Der Spieler" in der Sowjetunion auf die Bühne.

Die Oper hat zwar einen zähen Anfang, es klingt zunächst alles gequält und kaum kommt Geschwindigkeit auf, wäre da nicht das Glücksrad in der Mitte und eine fantastische Las Vegas-Glückspielszenerie, die einen in Bann hält. Aber gegen Ende des ersten Teils erfährt man dann die gewünschte Dynamik, der Humor entwickelt sich immer stärker, die Absurdität und eine gewisse Lächerlichkeit der Süchtigen macht sich immer breiter, ihr Kranksein mit Rollis symbolisiert. Ganz exponiert das Aufeinanderprallen von Liebe und Sucht. Eine seltene und sehenswerte Oper, zumindest unter der Regie von Harry Kupfer. 




Montag, 9. Januar 2017

Wie war's bei SPECTACLE SPACES im Bockenheimer Depot?

Mauricio Kagel: Variété      (c) Barbara Aumüller
Im Rahmen der heim:spiele des Ensemble Modern@Bockenheimer Depot gab es zum Abschluss der Reihe eine reizvolle Triade aus moderner zitatenreicher und nicht leicht zuordenbarer Musik und Elementen des klassischen Variétés, der klassischen Akrobatik und der clownesken Komik. Zwei Stücke von Mauricio Kagel aus den siebziger Jahren und ein in diesem Veranstaltungsrahmen zur Uraufführung gebrachtes Stück von Martin Matalon unterhielten 70 Minuten mit außergewöhnlicher Rezeptur. Unter der Regie von Knut Gminder und einer kaleidoskopen Choreografie von Aleksei Uvarov entstand ein absolut kurzweiliger Abend.


Mauricio Kagel: Variété       (c) Barbara Aumüller
Mit Mauricio Kagel, geboren am 24.12.1931 in Buenos Aires und gestorben am 18. September 2008 in Köln, war ein ungewöhnlicher Komponist vertreten, der bereits früh mit spektakulären Werken auf sich aufmerksam machte und eine wichtige Rolle in der Kunst- und Musikgeschichte Deutschlands spielte. Er war in Köln Direktor des Instituts für neue Musik, Nachfolger von Karlheinz Stockhausen als Leiter der Kurse für Neue Musik, Professor für Musiktheater, Gründer des Ensembles für Neue Musik usw. 
Mauricio Kagel: Variété

(c) Barbara Aumüller
Kagel ist der wichtigste Vertreter des „Instrumentalen Theaters“ in Deutschland, bei dem Mimik, Gestik, Aktionen wie im Zirkus, der Clownerie, dem Theater sowie multimediale Audrucksformen mit einbezogen werden. Zu seinen Musiktheaterwerken zählt das 1971 in der Hamburgischen Staatsoper uraufgeführte "Staatstheater", das wegen eintreffender Drohbriefe unter Polizeischutz aufgeführt werden musste. Kagel entwickelte auch eigene Instrumente und Spieltechniken, etwa für den Film "Zwei-Mann-Orchester" (1973) oder das Instrumentaltheater "Exotica". Sein Film "Ludwig van. Ein Bericht" (1970, s/w, 100 Min.) bringt Joseph Beuys ins Spiel, der Flammen aus einem Gully zum 1. Satz der 9. Sinfonie von Beethoven schlagen lässt, um sie dann nach zwei Minuten mit einem Bräterdeckel zu ersticken. Sein Auftritt mit einer "Napoleonmaske" zu einer kurzen Gesangsparodie ist ebenfalls verwirklicht. Kagel lässt ferner den Künstler Dieter Roth Beethovenbüsten zerschlagen, spielt Verstecken mit Musikern auf einem Rheindampfer und andere ungewöhnliche Aktionen.

Martin Matalon ist ein weiterer wichtiger argentinischer Komponist, der ebenfalls Musiktheater unterstützt und Konzert mit anderen Genres mischt. 1958 in Buenos Aires geboren, Bachelor-Abschluss in Komposition am Boston Conservatory of Music 1984 und 1986 Master-Abschluss an der Juilliard School of Music. 1989 gründete er Music Mobile, ein in New York ansässiges Ensemble, das dem zeitgenössischen Repertoire (1989-96) gewidmet war.
Matalon erhielt wichtige amerikanische und französische Anerkennung, so auch ein Fulbrigth-Stipendium für Frankreich (1988). 1993 ließ er sich ganz in Paris nieder, schrieb eine neue Partitur für die restaurierte Version von Fritz Langs Stummfilm Metropolis, und für die legendären surrealistischen Filme des spanischen Regisseurs Luis Bunuel "Las Siete vidas de un gato" (1996) für "Un Chien andalou" (1927), "Le Scorpion" (2001) ) "Für L'Age d'or" (1931) und "Traces II (la cabra)" (2005) für "Las Hurdes (terre sans Pain)" (1932). Sein Werk umfasst auch eine große Anzahl von Kammer- und Orchesterwerken wie "Otras Ficciones" oder "Lignes de fuite" für großes Orchester, "... del matiz al color ..." für Cello-Oktett, "Monedas de hierro" für Ensemble und Elektronik sowie Stücke für ein großes Spektrum verschiedener Genres, wie musikalische Geschichten, choreografische Werke, Installationen, Musik mit Text, Hörspiele, Musiktheater, Musik mit Mimen ... Die 1997 begonnene Serie der "Spuren" spielen auch eine wichtige Rolle in seinem Schaffen. Er komponierte viel u.a. für das Orchestre de Paris, das Orchestre National de France, das Orchestre National de Lorraine und das Arsenal de Metz, auch für Ensembles und Orchester in Barcelona.


Mauricio Kagel: Variété

(c) Barbara Aumüller
In Frankfurt zu erleben und zu genießen Partituren mit einem humorvollen Grundtenor zeitgenössischer Musik, wie immer beeindruckend gespielt vom Ensemble Modern. Bisweilen komisch-originell mit Tönen und Assoziationen von Kapriolen aus der Manege, dem kindlichen Welterlebnis und Musik für Kinder, dann wieder melancholische Zwischentöne und Momente, mal synchron, mal gegensätzlich zu den artistischen Bewegungen, immer aber konsequent die Erwartungshaltung der Zuhörer auf den Kopf stellend. So wie Kagel in einem seiner Stücke den Solisten im Konzertstück für Pauken und Orchester am Ende kopfüber in sein Instrument fallen lässt, bestehen Szenen, Sketche, artistische Nummern aus einem hervorstechenden Gag oder schließen mit einem überraschenden Element. So in "Caravanserail", wo der Kontrabass final demontiert wird oder am Ende in "Variété" das Akkordeon allmählich erstirbt. Der Komiker Tom Murphy mit seiner Physical Comedy ergänzt diese Strukturelemente in "Caravanserail" durch korrespondierende Gags aus der Clownerie, nimmt Bodybuiling auf den Arm, jongliert unfallträchtig Stühle, stolpert immer wieder überraschend fast ins Publikum. Im "Morceau de Concours" schon zu Beginn der multimediale Verfremdungseffekt, ein Trompeter auf der Hebebühne des Staplers, ein Hornspieler am anderen Ende der Bühne, völlig lakonische und "überflüssige" Sprechpassagen des Trompeters, die Partitur groß zum Mitlesen auf Leinwand, und die Artisten mit ihrer äußerst bemerkenswerten Körperbeherrschung und Leistungsfäigkeit bei der individuellen Vorbereitung zu ihrem Auftritt im Backstagebereich. Etwa Walter Holecek mit einer der aktuellen hocheitlen Haartrachten Einzelhaare bändigend oder Anna Roudenko, die Kontorsionskünstlerin mit ihrem kleinen Kind, in unvorstellbaren Verbiegungen. 


Martin Matalon: Caravanserail   (c) Barbara Aumüller
Martin Matalon: Caravanserail   (c) Barbara Aumüller
Das Handy dann in "Caranvanserail" zunächst noch viel wichtiger als alles andere. Jeder hat ein Handy, reproduziert die klassischen Handyuserverhaltensmuster, dabei schnelle Akrobatik en passent. Kapriolenmusik vom Ensemble und Exponierung der artistischen Meisternummern hinter der Leinwand als Schattenspiel, als ob es Videoprojektionen wären, auch hier ein Spiel mit der Verfremdung, und zwar der Verfremdung. Die Artisten kreuzen die Wege der Musiker, üben und führen aus, verschwinden ganz schnell, erscheinen hinter der Leinwand, wirken im Bühnennebenraum im halbdunklen Off usw. In "Variété" dann eine starke Betonung der Akrobatik und Jonglage. Tom Murphy und Jongleur Vladik Myagkostupov im Team, dabei jeder in seinem Metier tätig, beide zusammen versetzten den Dirigenten Franck Ollu ein paar Meter weiter, Vladik M. ein Meister im Nackentransport von Jongleurkugeln, Anna Roudenko u.a. als Gummipuppenkunstwerk im 3D-Luftring, Rosannah Star mit einer ästhetischen Supershow mit Schlingenseilen (Multicordes), Walter Holecek noch einmal stark in Körperbeherrschung und Ausdruck als schwebender Artist in Fliegetüchern und IMAGINE / Duo Cyr Wheel neben Detailauftritten zuvor hier virtuos mit dem Künstlerreifen in Lebensgröße und einer Laternenpolenummer zu Hafenmusik- und traurig-dissonanten Musikelementen. 

Die Vielfalt der gemischten Elemente in diesen Musiken und dieser Verwirklichung führen zu einem hohen Unterhaltsgrad, fesseln Aufmerksamkeit und erheitern, ohne dass die klassische Zirkusatmosphäre jeweils länger als ein paar Sekunden aufkommt. Der Besucher erlebt eine intellektuelle Variante von Zirkus und Variété - Zirkusgeruch und Zigarettenqualm der kleinen und Glitterlook der großen Revues und Variétés transponiert in die hohe Kunst.

Dienstag, 3. Januar 2017

Wie war's bei EZIO von Christoph Willibald Gluck in der Frankfurter Oper?


Valentiniano, kontragebende Fulvia und ihr Vater Massimo
(c) Barbara Aumüller

Mit der Oper EZIO von Christoph Willibald Gluck (1714-1784) war ein interessanter Ausflug in die Anfänge der Operngeschichte im Frankfurter Opernhaus zu sehen. Diese Oper wurde 1750 in der Karnevalszeit im Teatro Nuovo, Prag, uraufgeführt. Musikgeschichtlich ist es vielleicht bereits ein postspätbarocker Versuch, die Oper neu zu gestalten, denn Gluck wollte weder die Opera seria noch Opera buffa favorisieren, das eine zu effekthascherisch, das andere zu abgeschmackt, sondern einen neuen Typ versuchen. Seine Reformen griffen allerdings erst in den letzten 20 Jahren seines Schaffens. Treu blieb er der barocken Menschendarstellung, den "Affekten" statt Historiendetails, obgleich er einen historischen Stoff aus dem römischen Reich wählte, der zwischen 1720 und 1830 an die 60-mal als Oper verwirklicht wurde, auch Händel bot u.a. einen Ezio an.

"Die Oper handelt vom römischen Heermeister Flavius Aëtius, der hier italienisch Ezio genannt wird. Dieser hatte im Jahr 451 in der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern die Hunnen unter ihrem Anführer Attila geschlagen. Nach seiner Rückkehr in Rom erkennt er im weströmischen Kaiser Valentinian III. (Valentiniano) einen Rivalen um seine Verlobte Fulvia. Der Patrizier und kaiserliche Vertraute Petronius Maximus (Massimo) organisiert ein Attentat auf Valentiniano und sorgt nach dessen Scheitern dafür, dass der Verdacht auf Ezio fällt. Valentiniano will Ezio töten lassen. Der Mord wird jedoch nicht ausgeführt. Bei einem folgenden Volksaufstand rettet Ezio Valentiniano. Die beiden versöhnen sich, und Ezio kann Fulvia heiraten." (wikipedia)

Pikant ist die Zwickmühle, in die Ezio gerät. Er muss die Hochzeit mit Onoria (stolz und ansprechend Sydney Mancasola), der Schwester des Herrschers, ablehnen, weil er Fulvia (emanzipatorisch und reizvoll Cecilia Hall) liebt, die Tochter des hinterlistigen Massimos (sehr überzeugend Theo Lebow), der ihn verrät und ihn wie auch seine Tochter Fulvia zum Spielball der persönlichen Rache machen möchte. Massimos Frau wurde vom Herrscher missbraucht, weshalb Massimo ihm nach dem Leben trachtet und ihn absetzen will. Ezio ist allerdings ein treuer Feldherr und Verehrer seines Kaisers und besteht tugendhaft alle Prüfungen. Er rettet dem Kaiser sogar das Leben, als Massimo und das aufgewiegelte Volk Valentiniano ermorden wollen. Happy End für alle: Der Kaiser vergibt, Onoria auch, Ezio heiratet Fluvia und Massimos Hass wird erkannt und besänftigt.


Valentiniano und seine Schwester Onoria
(c) Barbara Aumüller
Gluck wollte die Oper wieder zu ihrem Ursprung bringen, eine Oper, in der Leidenschaft, Schicksalsschläge und eben Gefühle im Vordergrund stehen und wo das Wort eine ebenbürtige, wenn nicht wichtigere Aufgabe als die Musik haben sollte: „prima le parole, poi la musica“. Der Komponist begann den Oberstimmen mehr Freiheiten einzuräumem. Und tatsächlich erleben Gewohnheiten, vom Regisseur Vincent Boussard unterstützt, einen Bruch in den sicher sauber ausgebauten Countertenorstimmen von Rupert Enticknap (Valentiniano) und Max Emanuel Cencic (Ezio). Der große Imperator und Diktator ebenso wie sein oberster Feldherr zwei völlig unmännliche, schwache und fast schon lächerliche Figuren der Geschichte. Der Kaiser noch dazu ein Weichling, schwach den Schutz seiner Ergebenen vor dem drohenden Attentat erflehend, vor Gram über den Abfall seiner Getreuen im Dauerlamento und -jammer. Auch Ezio verkörpert keinen Hunnenbesieger, seine Soldaten haben Attila besiegt, Ezio wohl nur im Führerzelt. Boussard stellt einen Zeitbezug zum 20. Jahrhundert her, mit einem auffälligen Anachronismus: Kampfflieger des zweiten Weltkrieges symbolisieren die Rückkehr des römischen Adlers, auf allen römischen Standarten der Heere verewigt, derselbe auch noch einmal durch ein modernes Kunstwerk allgegenwärtig angedeutet. Der Aufmarsch der Legionen, die Requisten der Diktatur, erneut eingesetzt bei der Wiederbelebung des Herrscherkultes auf den Reichsparteitagen.

Trotz allem bleibt dieser Oper eine evidente Handlungsarmut und Leere, die Texte nicht so stark, wie man sich das wünschte, eine Konzentration auf Figuren, von denen Fulvia und Onoria als starke weibliche Figuren und Massimo als Herrscherattentäter zu auffälliger Dominanz im Gegensatz zu den beiden Hauptfiguren fähig sind. Erst in der versuchten Vergewaltigung von Fulvia (einer Wiederholung der Schändung ihrer Mutter), der Verurteilung Ezios und dem kaiserlichen Mordkomplott gegen Ezio zeigt der Imperator (unerfreuliche) Stärke. Am Ende noch einmal in einem fast kitschigen und unglaubwürdigen Ende. Valentiniano vergibt alles und jedem ... Friede, Freude, Eierkuchen. Die edlen und hehren Gefühle und Geisteshaltungen werden fortlaufend besungen, was eine gewisse Sprödigkeit befördert. Im zweiten Teil der Oper kommt mehr Wind auf, dennoch bleibt ein Zuwenig.

Samstag, 31. Dezember 2016

Wie war's bei Steve Reichs MUSIC FOR 18 MUSICIANS im Bockenheimer Depot?

Im Vordergrund jeweils am Bildrand die SYNERGY VOCALS
(c) Barbara Aumüller

Im Rahmen der heim:spiele in der Frankfurter Oper - Ensemble modern@Bockenheimer Depot - hatten die Opernbesucher in den  letzten Tagen die Gelegenheit eine einmalige serielle Komposition von Steve Reich zu hören. Seine MUSIC FOR 18 MUSICIANS komponierte zwischen 1974 und 1976. Das Stück fand gleich bei seiner Premiere in New York großen Gefallen und brachte in der Folge viele zeitgenössische Komponisten dazu, es Reich gleichzutun. Wie Reich selbst sagte, entdeckte er sich bei John Adams, Phil Glass und David Lang in den Staaten wieder und bei Nyman (GB), Goebbels (D) und Andriessen (NL). 

So monoton das Spiel auch beginnt, zunächst nur den Charme einer mechanischen Klangfolge wie das kettenmäßige Umfallen von Spielsteinen offeriert, im Fortschreiten erreicht es einen intensiv ausgeprägten, weiten und reichhaltigen Level, der fasziniert und fesselt. 1996 erstmals nach Frankfurt geholt und vom Ensemble Modern einstudiert - es fehlten Partitur und ausformulierte Stimmen -, nimmt es den Zuhörer mit auf eine Reise, deren Komposition zwar ein relativ statisches Grundgerüst vorsieht, aber durch permanente Wechsel der Tonlagen und Exponierung von Instrumenten oder Stimmen eine Art sich parallel verschiebende und schließlich frei expandierende Dynamik und Belebtheit entwickelt, die einem Traumgeschehen ähnelt.

Gerade die vier weiblichen Stimmen der Synergy Vocals um eine deutlich spürbare Micaela Haslam schufen einen Sirenenteppich, der nicht nur Akzente mit orientalischem Trällern (beeindruckend und virtuos Caroline Dushanthi Jaya-Ratnam) setzte, sondern auch das geheimnisvolle Wispern, Flüstern, Raunen und noch viel mehr pflegte mit Amanda Morrison und Heather Cairncross. 

In diesem vielschichtigen Stimmennebel einmal dominant beispielsweise die vier Pianos, gespielt von Kimachi/Kretzschmar/Kruse/Wiget, und sonor das Violoncello mit Michael M. Kasper. Permanentes Wechseln der Musiker rund um die Schlagwerke/Konzertxylophone sorgten für weitere Dramatik und Spannung, die sich wellenartig steigerten oder minimierten, und eine Art Rausch oder Trance entstehen ließen, ganz stark gestützt durch die Stimmen. Das Ensemble arbeitet ohne Dirigent und künstlerischen Leiter. Wie sehr das Publikum sich auf diesen Bann, den die Musik über die Zuhörer legt, einließ und begeistert war, zeigte der rauschende Beifall am Ende. Jedes Konzert ein besonderes Konzert.

Freitag, 23. Dezember 2016

Wie war's bei STEVE REICH, BERYL KOROT - THE CAVE in Frankfurt a.M.?

THE CAVE:  Synergy Vocals (hell gekleidet),
Ensemble Modern und Musikalischer Leiter Brad Lubman

Ibrahim-Moschee bei/über der Höhle Machpela
Der 1936 geborene Musiker STEVE REICH gilt als einer der renommiertesten Komponisten der USA. Mehrfach mit hohen und wichtigen Preisen ausgestattet zählt auch seine ungewöhnliche Oper THE CAVE (Die Höhle), in Zusammenarbeit mit der Videokünstlerin BERYL KOROT (*1945), zu den Meisterwerken der Moderne. Das multimediale Oratorium in drei Teilen, entstanden zwischen 1990-1993, begründete eine neue Form des Musiktheaters mit seriellem und multimedialem Charakter in Text, Musik und Bild. Auf verschiedenen Leinwänden werden Schlüsselwörter, Zitatfetzen, Interviewsequenzen gemischt und im Rhythmus der Musik abgespielt. Synchron mit dem gesungenen Text unterliegen alle drei der Segmentierung, Wiederholung, Betonung, Hervorhebung und dienen als Gestaltungsgerüst der Botschaft über die Mythen ganz verschiedener Völker und Religionen. Je länger man alles verfolgt, desto unglaubwürdiger wird die historische Überlieferung, die Deutungen und Anschauungen gehen auseinander und behalten doch den gemeinsamen (!) Ursprung von Stämmen, Völkern und Nationen im Auge. Es klingt mehr und mehr wie fabuliert, zurechtgelegt, für eigene Zwecke verwendet. Historischer Stoff sagt man, mündlich überliefert, verändert und irgendwie wahr.


Religöse Verehrer der Geschichte/der Gräber der Patriarchen
 im Innern der Ibrahim-Moschee
Es sprechen Frauen und Männer, Fachleute und Unbeleckte (ein Indianer dabei unterbricht das Ritual, glänzt dabei mit dem achselzuckenden "I have no idea about that..."), Theologen und Ungläubige. Ein Iman singt die Suren über die Höherstellung des Islam aufgrund der Erstgeburt des Sohnes Ismael, der den Moslems als Stammvater ihrer Religion dient, denn sein Sohn war der Prophet Mohammed. Dabei haben sie rein mythologisch die schlechteren Karten. Die Mutter Ismaels war nur eine Magd, die Abraham und seiner bildschönen Sarah als Leihmutter diente, und sie muss mit ihrem Sohn von Kanaan/Palästina nach Syrien gehen, in die Wüste, den Hof des Erzeugers ihres Sohnes und der selbst mit "90" Jahren noch schwanger gewordenen Sarah verlassen. Der Zweitgeborene ist bekanntlich Isaak, und er wurde von Sarah über alles gestellt, sie wollte ihn beschützen. Isaak wiederum ist der Stammvater der Juden, die Thora behandelt dies ausführlich, und auch das Christentum zehrt vom Mythos aus Mesopotamien, Kanaan, Ägypten und Syrien. Isaak zeugte Jakob, der zwölf Söhne bekam, die Begründer der Stämme Israels. Und viele Generationen später in ägyptischer Versklavung tritt Moses auf, der den Bund mit Gott erneuert und u.a. die 10 Gebote des Christentums aufstellt. Im Zeitalter nach Moses wurden die Gläubigen endlich auch über das richtige Alter aufgeklärt: "Unser Leben währet siebenzig Jahre, und wenn es hoch kommt, sind es achtzig ..." (Psalm 91). Die abenteuerlichen Angaben davor gehen wahrscheinlich auf den Versuch zurück, "Lücken" in der Geschichte zu decken. So konnte Adam "930" und sein Sohn Seth "912" Jahre alt werden.

1. Mose 16
1 Und Sarai, Abrams Frau, gebar ihm nicht. Und sie hatte eine ägyptische Magd, und ihr Name war Hagar. 2 Und Sarai sprach zu Abram: Sieh doch, der HERR hat mich verschlossen, dass ich nicht gebäre; geh doch ein zu meiner Magd, vielleicht werde ich aus ihr erbaut werden. Und Abram hörte auf die Stimme Sarais. 3 Und Sarai, Abrams Frau, nahm Hagar, die Ägypterin, ihre Magd, nach Verlauf von 10 Jahren, die Abram im Land Kanaan gewohnt hatte, und gab sie Abram, ihrem Mann, ihm zur Frau. 4 Und er ging zu Hagar ein, und sie wurde schwanger; und als sie sah, dass sie schwanger war, da wurde ihre Herrin gering in ihren Augen. 5 Und Sarai sprach zu Abram: Das Unrecht, das mir widerfährt, fällt auf dich! Ich habe meine Magd in deinen Schoß gegeben; und da sie sieht, dass sie schwanger geworden ist, bin ich gering in ihren Augen. Der HERR richte zwischen mir und dir! 6 Und Abram sprach zu Sarai: Siehe, deine Magd ist in deiner Hand; tu ihr was gut ist in deinen Augen. Und Sarai behandelte sie hart, und sie floh von ihr weg.
7 Und der Engel des HERRN fand sie an einer Wasserquelle in der Wüste, an der Quelle auf dem Weg nach Sur. 8 Und er sprach: Hagar, Magd Sarais, woher kommst du, und wohin gehst du? Und sie sprach: Ich fliehe weg von meiner Herrin Sarai. 9 Und der Engel des HERRN sprach zu ihr: Kehre zu deiner Herrin zurück und demütige dich unter ihre Hände. 10 Und der Engel des HERRN sprach zu ihr: Ich will sehr mehren deinen Samen, dass er nicht gezählt werden soll vor Menge. 11 Und der Engel des HERRN sprach zu ihr: Siehe, du bist schwanger und wirst einen Sohn gebären; und du sollst ihm den Namen Ismael geben, denn der HERR hat auf dein Elend gehört. 12 Und er, er wird ein Wildesel von Mensch sein; seine Hand gegen alle und die Hand aller gegen ihn, und angesichts aller seiner Brüder wird er wohnen. 13 Da nannte sie den HERR, der zu ihr redete: Du bist ein Gott, der sich schauen lässt! Denn sie sprach: Habe ich nicht auch hier geschaut, nachdem er sich hat schauen lassen? 14 Darum nannte man den Brunnen: Beer-Lachai-Roi; siehe, er ist zwischen Kades und Bered.
15 Und Hagar gebar dem Abram einen Sohn; und Abram gab seinem Sohn, den Hagar geboren hatte, den Namen Ismael. 16 Und Abram war 86 Jahre alt, als Hagar dem Abram Ismael gebar.

Die Mythologie von Millionen von Menschen hat also einen gemeinsamen Ankerpunkt in der Vergangenheit: Es ist der mesoptamische Wanderer und gottesfürchtige Abraham (starb mit "175" Jahren), der die Geschichte dreier verschiedener Religionen bevölkert und ermöglicht. Perfekt gesponnen ist er der Dreh- und Angelpunkt der drei Weltreligionen Judentum, Islam und Christentum und dennoch kommt es zu katastrophalen Auseinandersetzungen und Übergriffen von den Stammeskriegen über die Kreuzzüge bis zum Holocaust. Als ob das Rivalisieren und Bekämpfen als Motor der Geschichte am Laufen gehalten werden soll.

Die Geschichte ist vielen noch bekannt aus schulischer und religiöser Erziehung, nicht alles ist in der Oper verarbeitet. Abraham soll vor knapp 4000 Jahren im heutigen Irak im babylonischen Ur gelebt haben, einer reichen Stadt in einem fruchtbaren Tal. Feindliche Truppen vertreiben Abrahams Familie weiter in den Norden nach Harran. Dort erscheint Gott Abraham und befiehlt ihm, seine Heimat zu verlassen. So beginnt die Wanderung Abrahams in das Gelobte Land Kanaan, das Gott ihm verheißen hat. Es soll das Land der Israeliten werden.

Gott teilt Abraham mit, dass dessen Nachkommen so zahlreich sein sollen wie die Staubkörner auf der Erde und die Sterne am Firmament, und schließt einen Bund mit Abraham. Dieser soll seinem neuen Gott treu sein, ebenso seine Nachkommen.

Als Zeichen des Bundes zwischen Abraham und Gott, als Beleg für den Glauben an den einen Gott, soll Abraham seine Nachkommen übrigens auch beschneiden lassen, was bei Juden und Moslems eine wichtige Rolle spielt. Im Gegenzug wird Gott dafür sorgen, dass Abrahams Sippe wachsen kann und ein Volk werden wird.

Doch Abraham und seine Frau Sarah werden älter und älter und sind immer noch kinderlos. Die inzwischen "70"-jährige Frau Abrahams (sie starb mit "127" Jahren) glaubt an keine Nachkommen mehr. Drei fremde Männer, Gott unter ihnen, sagen ihnen voraus, dass sie bald schon einen Sohn zeugen werden. Damit ihr Mann ein Kind in dieser Ehe zeugen kann, schickt sie ihre Sklavin Hagar zu ihm, die Leihmutter spielen muss.

Der Stammvater der Muslime wird gezeugt und kommt ins Spiel - vertrieben wird er zum wütenden Schwertkämpfer aus der Wüste, seine ursprünglich ägyptische Mutter gramvoll über ihren Verlust der Heimat. Von ihm stammen die moslemischen Stämme Syriens und Arabiens u.v.a. ab. "20" Jahre später bringt Sarah erst Isaak zur Welt, und Abrahams Glauben wird wieder Jahre später auf die Probe gestellt, er soll Gott seinen einzigen Sohn zum Opfer darbringen und töten. Abraham beweist seinen Gottesglauben und besteht. Von Abraham stammen die Erzväter des Judentums ab. Sein Sohn Isaak zeugt Jakob. Der muss mit Gott kämpfen, gibt nicht auf und erhält den Namen Israel, was soviel heißt wie "der, der mit Gott gerungen hat".

Ausdruck der gemeinsamen Wurzel ist die Höhle Machpela in Hephron/Gazastreifen, die ja im Titel der Reichschen Oper schon eine sehr große Bedeutung trägt. Auch im Miteinander der Religionen. Am bekanntesten ist das am 25. Februar 1994 verübte Massaker beim Freitagsgebet in der Ibrahim-Moschee von Hephron, bei dem mind. "30" (auch hier schwanken die Zahlenangaben) Palästinenser von dem jüdischen Siedler Baruch Goldstein im Zuge des Dauerkrieges gegen die Palästinenser in einer Amoktat erschossen wurden. Anführer der islamistischen Organisationen Hamas und Jihad Islami riefen damals zu "neuen Dimensionen der Rache" auf. Über/Neben der Höhle gebaut eine Kirche und später die Ibrahim-Moschee auf den zerstörten Resten.

Machpela ist quasi der Urschoß der religiösen Menschheitsgeschichte fast der Hälfte aller Nationen, der Beweis für das Wirken Gottes, ein Kultstätte der Verehrung, das Grabmal Adam und Evas, 
Eingang in die Höhle Machpela direkt
Abraham und Sarahs usw. Drei verschiedene Glaubensrichtungen besuchen diesen Ort, am stärksten Moslems und Juden und fein getrennt gehen die einen links, die anderen rechts hinein und verehren die gemeinsame Geschichte, um sich am selben Tag vielleicht noch zu beschießen. Die einen verehren die gerade Linie zu den Israeliten heute, die anderen die unterbrochene zu Mohammed, die kämpferische Stärke seines Vaters und mentale Größe seines Großvaters. Die Urvagina als Quelle des Mythos, der Fruchtbarkeit der Menschheit als eine Wiederholung der göttlichen Genesis, eine Genesis der menschlichen Völkerentstehung, lange, lange nach der Menschwerdung. Darin begraben die Patriarchen der Menschheit.

Eine wunderbare Beschäftigung von Steve Reich und Beryl Korot mit dem Stoff, spannend und humorvoll. Je mehr Amerikaner zu Wort kommen, desto heiterer wird es. Und eine wunderbare Darbietung des Ensemble Modern und der Synergy Vocals. 

Donnerstag, 24. November 2016

Wie war's bei MAYER HAWTHORNE in Mannheim? (Enjoy Jazz 2016)

(c) Stefan Vieregg

Mayer Hawthorne ... Wer das ist? Noch nie gehört? Dann wird's Zeit, allerdings nur, wenn sie so richtig US-amerikanische Musik und fast -urtypische Shows mögen. Aber der 37-jährige Musiker und Falsettsänger macht daraus natürlich eine Persiflage. Er mimt den Whisky trinkenden US-Macho, Marke Nordstaatler, den Nerd, Showmaster Mister America und viele mehr. Kein Kitsch, und schon gar keine Langeweile! 

Bei Enjoy Jazz Rhein-Neckar eingebucht, Jazz ist es nicht gerade, Elemente aus dem Funk Jazz vielleicht, aber egal, alles irgendwie neu und gut, deswegen nah an den Jazzscouts in unbekannten Gefilden, da ist er zugelassen, aber doch schon Bekanntes dabei und verführerisch zum Tanzen. Auch Liebhaber anderer Musikstile finden den gebürtigen Kaukasier gut, so die Rapper, zum Beispiel Snoopy Dog, obwohl Mayer, das ist in den USA resp. Michigan ein VORNAME, ganz andere Musik macht. Eine Mischung aus frischer aufgepeppter und veränderter Vintage Philadelphia Nostalgie der 1970er, White + Black Soul, Curtis Mayfield, ein Brise Earth Wind & Fire, Commodores und irgendwie ein bisschen den Show-Zappa.  
(c) Stefan Vieregg

Allerdings ist er auch eigen, was die Zeiten betrifft. Wer lässt schon unentschuldigt seine Fans eine Stunde in der Halle stehen, wo es nicht einen Sitzplatz gab? Die Alte Feuerwache Mannheim hatte sich in kompletter Länge auf einen Abtanz- und Fetzabend eingestimmt. Die erste Stunde war schwach, DJ Kurs spielte sich langsam warm, aber Stimmung brachte das nicht. Nicht wenige Leute aus den USA waren da, sie kennen ihren Mayer schon Jahre, viele junge Fans um die 20 bis 30, und beachtlich angetreten die guten alten Oldies aus der Gerade-schon oder Noch-nicht-Renten-Zeit.


Mayer Hawthorne verbindet, seine Nachname ist die Straße in der er in Ann Arbor, Michigan, aufwuchs, dort allerdings als Andrew Mayer Cohen. Und er gibt viel, unermüdlich turnt er über die Bühne, an der Seite seiner reizvollen Background- und Partnerstimme, seiner Musiker. Mal gibt er als Obertrommler den Ton mit Paukenschlägen bei den Drums an, mal reißt er die Gitarre mit dem Bassgitarristen um die Wette. Immer was los bei Mayer H., er bringt Stimmung mit einfachen Tricks rein, und schon machen alle mit. Auch seine Videos sind so individuell, übertrieben amerikanisch. Mit viel Humor nimmt er die dortige Gesellschaft auf den Arm.



Liebe, und was davon übrig bleibt


Montag, 7. November 2016

Wie war's bei THE COMET IS COMING in Ludwigshafen a.Rh.? (Enjoy Jazz 2016)

(c) Stefan Vieregg


The Comet Is Coming, wenn das mal kein Versprechen auf High-Speed-Urgewalt aus dem All ist. Letzen Mittwoch, 02.11. im Dôme des Ludwigshafener Kulturzentrums dasHaus trat das britische Trio im Rahmen des Festivals Enjoy Jazz 2016 an Rhein-Neckar zum tosenden Chaosflug durch die hektische Lärmzone an.

Der Saxophonist King Shabaka Hutchings hat schon Tradition bei Enjoy Jazz. Letztes Jahr gastierte er mit Sons of Kemet, dieses Jahr mit Melt Yourself Down, beide hatte ich nicht gehört, aber jetzt war es mal soweit. Wie Enjoy Jazz mitteilte, soll es wie eine Performance in der Tradition von Sun Ra sein, und das spürt man in jedem Moment. Allerdings hat das Trio einiges modifiziert. Es sind nicht die egozentrisch-priesterlichen Züge des Performance-Künstlers und Hohen Priesters einer anderen Welt seit den 70er-Jahren - auch wenn Keyboarder Danalogue The Conqueror den Anti-Priester aus dem Dunkeln, den mittelalterlichen oder einfach nur den Fantasywelten entlehnten Kapuzenfighter mimt - sondern die Idee auf britisch in die brodelnde Experimentalszene des Chaos Jazz projiziert, gemixt mit Trash, Punk, Funk, Free und mehr Noiseangebot, inklusive hektisch-groovigem Streetdance auf kleinstem Bühnenraum nach Art von John Pololo aus der Côte d'Ivoire.

(c) Stefan Vieregg

Mit unermüdlichem Druck und Energie entfesseln das monomanisch insistierende, Bässe und bohrende Eindringlichkeit betonende Keyboard und quirlig-aufgeregte, permanent staccato atemlos anklagend und eindringlich mitteilende Saxophon einen recht aggressiven beharrlichen Soundteppich, der immer wieder von kurzen harmonischen Anklängen seiner Gewalt beraubt wird. Die Drums von Betamax Killer mit zurückhaltenden Beats dennoch Taktgeber. Der Reinigung von Seele und Körper durch eine schon lange nicht mehr musisch-ästhetische Katharsis als weitere tragende Idee des Konzepts wird volle Rechnung getragen. Hier denkt man unwillkürlich an manche typisch postmoderne Extremstücke im Jazzbereich wie At Midnight von Carla Bley und Michael Mantler, die freilich kompositorisch in anderen Regionen angesiedelt sind und die mehrfache Sprengkraft entwickeln. Das Draufhalten, Ab- und Auflösen von Widerständen, Explodierenlassen, Zertrümmern und Zerstückeln als ein langatmiger Heavy Attack galaktischer Kräfte hin zur ersehnten Erschöpfung und Ruhe.