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Samstag, 28. Dezember 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (14) - Vom Mahle der Lästerer (1) - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly


Vom Mahle der Lästerer

1

Der Abend fiel über die vom Herbstnebel erfüllte Stadt *** herein, und in der Kirche dieses kleinen
echt normannischen Ortes war es schon ganz dunkel. Die Nacht ist in den gotischen Kirchen immer zuerst da. Es mag dies am Gewölbe liegen, das man mit der Wipfeldecke des Waldes verglichen hat, oder daran, daß die bunten Glasfenster das Licht verzehren, oder weil die vielen hohen Pfeiler überallhin ihren Schatten werfen. Aber trotz der frühen Finsternis werden die Kirchentüren nicht geschlossen. Sie bleiben gewöhnlich bis nach dem Angelusläuten offen; manchmal sogar noch länger, besonders am Vorabend hoher Feiertage, wo in den frommen Kleinstädten eine Menge Leute zur Beichte gehen, um sich für das Abendmahl am nächsten Morgen zu rüsten. Und überhaupt kommen in weltfernen Gegenden zu keiner Tageszeit mehr Besucher in die Kirche als um die Dämmerstunde, wo die Arbeit ruht und die Nacht anbricht, die der Christen Seelen an den Tod gemahnt. Um diese Stunde fühlt man so recht, daß der christliche Glaube ein Kind der Katakomben ist und daß ihm noch immer etwas von seiner trübseligen Wiege anhaftet. Die Dunkelheit ist aber überhaupt ein Bedürfnis für andächtige Herzen, und in ihr glaubt selbst das Weltkind noch am ehesten an die Erfüllbarkeit eines Gebetes.
Es war ein Sonntag. Die Vesper war bereits zwei Stunden vorüber, und die blaue Weihrauchwolke, die wie ein Baldachin lange am Deckengewölbe gehangen hatte, war schon fast verflogen. Die Rippen und Sterne krochen in die Falten des breiten Schattenmantels, der von den Spitzbogen herabwallte. Nur die Flammen zweier Kerzen an zwei ziemlich weit voneinander entfernten Pfeilern des Mittelschiffes und das Laternenlicht am Hochaltar, das wie ein winziger Stern aus dem Dunkel des Chores hervorstarrte, warfen durch die Nacht, die sich im Mittelschiff und in den beiden Seitenschiffen breitmachte, einen gespenstischen Schimmer. In diesem ungewissen Halbdunkel vermochte man Gestalten wohl im Umriß zu sehen, aber nicht klar zu erkennen. Hie und da hoben sich in der Dämmerung verschwommene Gruppen ab, noch dunkler als der Hintergrund, gebeugte Rücken, die weißen Hauben von knienden Frauen aus dem Volk, Gestalten in Mänteln mit heruntergeklappten Kapuzen; aber mehr war nicht zu unterscheiden. Eher hörte man mancherlei. Alle die Lippen, die leise beteten, erfüllten den weiten, stark hallenden Raum mit seltsamem Gesumm, einem Geräusch, das den Ohren Gottes wie das Gesumm eines Ameisenhaufens von Seelen tönen mag. Dieses fortwährende leise Murmeln, zuweilen von Seufzern durchklungen, dieses im Dunkel einer schweigsamen Kirche so eindringliche Lippengeräusch, ward von nichts durchbrochen als ab und zu durch das Kreichen der Haupttür in ihren Angeln beim Eintritt Kommender und durch das danach Wiederzuklappen des schweren Flügels, oder durch den hellen harten Aufschlag der Holzschuhe eines an den Seitenkapellen entlang Gehenden, oder durch den Fall eines Stuhles, gegen den jemand in der Dunkelheit angestoßen war, oder bisweilen durch ein zwei- oder dreimaliges Husten, das verhaltene Husten der Frommen, das aus Respekt vor dem heiligen Echo musiziert, geflötet wird. Aber alle diese Laute verflüchteten sich rasch, ohne die im fortdauernden Gesumm sich sammelnden Gebete zu stören.
Und darum achtete auch niemand aus der Schar der Andächtigen auf eine Mannesgestalt, die sicherlich manchen in Erstaunen gesetzt hätte, wenn es hell genug gewesen wäre, um ihn deutlich zu erkennen. Er war nämlich nichts weniger als ein eifriger Kirchengänger. Man sah ihn nie im Gotteshaus. Seit seiner Rückkehr in die Vaterstadt, von der er jahrelang fern gewesen war, hatte er sie keinmal betreten. Warum war er an diesem Abend erschienen? Welche Empfindung, welcher Gedanke, welche Absicht hatte ihn bewogen, die Schwelle zu überschreiten, an der er Tag um Tag ein paarmal vorüberging, als wäre sie nicht vorhanden?
Er war in jeder Hinsicht ein höherer Mensch und hatte seinen Stolz wie sein Haupt beugen müssen, um durch die niedrige kleine Nebenpforte zu kommen, deren sandsteinerner Rahmen in der feuchten Luft der Normandie grün geworden war. Übrigens fehlte es seinem Feuerkopf durchaus nicht an Romantik. Beim Betreten des ihm ungewohnten Ortes berührte ihn der gruftartige Raum ganz eigentümlich. Dieser Eindruck wird gerade bei dieser Kirche von vornherein dadurch erweckt, daß der Fußboden des Schiffes tiefer liegt als draußen der Platz, auf dem das Gebäude steht. Zu den Türen führen etliche Stufen hinab. Nur der Hochaltar ist höher angelegt. Offenbar unter diesem Eindruck, seiner selbst ungewiß und im Bann alter Erinnerungen, blieb er in der Mitte des Nebenschiffes, durch das er schritt, stehen. Offenbar fand er sich zunächst nicht zurecht. Als sich seine Augen aber einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und er die Umrisse der Dinge besser wahrnahm, entdeckte er eine,alte Bettlerin, die in der Ecke der Armenbank mehr hockte denn kniete und ihren Rosenkranz ableierte. Ihr auf die Schulter klopfend, fragte er sie, wo die Kapelle der Muttergottes und der Pfarrer eines Sprengels sei, den er ihr nannte. Auf den Weg gewiesen von dieser Alten, die seit einem halben Jahrhundert genauso zur Kirche gehörte wie die Fratzen der Wasserspeier, schritt der Suchende nun ohne weiteres durch die während des Gottesdienstes in Unordnung geratenen Stuhlreihen und blieb schließlich vor dem Beichtstuhl stehen, der sich ganz hinten in der Kapelle befand. Er verschränkte die Arme, wie das Männer meist tun, die nicht zum Gebet in eine Kirche geraten sind, aber eine schickliche und würdige Haltung zur Schau tragen wollen. Einem Beobachter wäre der Mann nicht durch Unehrbietiges, aber durch das Unfromme in seiner Haltung aufgefallen.
Gewöhnlich brannte an den Beichtabenden am bändergeschmückten Sockel der Madonna eine gewundene gelbe Wachskerze, die der Kapelle Licht spendete. Aber da sich niemand mehr im Beichtstuhl einfand, hatte der Priester die Flamme ausgeblasen und seine Andacht in der Zelle im Dunkeln fortgesetzt. War es Zufall, Laune, Sparsamkeit oder irgendeine Absicht, daß dies geschehen war? Jedenfalls hatte es der unfromme Gast diesem Umstand zu verdanken, daß er unerkannt blieb, gleichgültig, ob ihm daran gelegen war oder nicht. Als ihn der Priester durch die Gittertür erblickte, öffnete er sie, ohne seinen Sitz im Beichtstuhl zu verlassen. Der Draußenstehende gab seine bisherige Haltung auf und überreichte dem Geistlichen ein Päckchen, das er aus einer Brusttasche gezogen hatte. Was darinnen sein mochte, konnte man nicht erkennen.
»Nehmen Sie das, Ehrwürden!« sagte er mit leiser, aber vernehmlicher Stimme. »Ich schleppe es nachgerade lange genug mit mir herum.« Weiter ward nichts gesprochen. Als wüßte er, worum es sich handelte, nahm der Priester das Päckchen entgegen und schloß dann wieder die Tür seines Beichtstuhles. Vielleicht glaubte irgendein Zuschauer, der Mann werde nun hinknien und beichten; aber zu seinem Erstaunen mußte er sehen, daß jener rasch die Stufen der Kapelle hinabschritt und im Seitenschiff wieder verschwand, woher er gekommen war. Und noch erstaunlicher war es, daß er mitten im Seitenschiff plötzlich von zwei kräftigen Armen umfaßt wurde, unter einem lauten Auflachen, das an einem so frommen Ort arg lästerlich klang.
»Der Teufel soll mich holen! Du, Mesnil?« rief der Lacher halblaut, aber doch deutlich genug, daß man den Landsknechtsfluch ringsherum vernehmen mußte. »Was hast du Narr um diese Zeit im Tempel zu suchen? Wir sind doch nicht mehr in Spanien wie Anno dazumal, wo wir den Klosterschwestern von Avila die Schleier zerknüllten!«
Der »Mesnil« Genannte machte eine zornige Bewegung.
»Schweig!« sagte er mit gedämpfter Stimme, obgleich er den anderen am liebsten laut angegrobst hätte. »Bist du bezecht? Du fluchst hier in der Kirche wie in einer Wachtstube! Komm mit! Benimm dich! Wir wollen uns beide mit Anstand entfernen!«
Er beschleunigte seinen Schritt. Der andere folgte ihm. So schritten beide durch die niedrige kleine Pforte, und als sie im Freien waren, wo sie wieder laut sprechen konnten, begann dieser von neuem:
»Zum Donnerwetter noch einmal, Mesnil! Willst du Kapuziner werden? Am Ende gar Abendmahlgänger! Du, der Herr von Mesnilgrand, Rittmeister von den Chambordschen Husaren, Betbruder! Pfui Deibel!« »Du warst ja selber dort«, erwiderte Mesnilgrand gelassen.
»Nur, weil ich dir nachgegangen bin. Ich sah dich hineingehen und war baff. Was sucht der Kerl in der Pfaffenscheune? fragt' ich mich. Sitzt eine Maus im Unterrock da in dem Steinhaufen? Kurz und gut, ich wollte mich mit eigenen Augen überzeugen, ob ein Ladenmädchen oder eine Prinzessin hier deiner harre.«
»Mein Vehrtester, nur für mich war ich drinnen«, sagte Mesnilgrand, kühl und geringschätzig. Es war ihm sichtlich ganz gleichgültig, was andere über ihn dachten.
»So! Dann muß ich mich um so mehr wundern!«
»Mein Lieber«, entgegnete der Rittmeister, indem er stehen blieb. »Menschen meines Schlages sind nun einmal von jeher in der Welt, um Leute wie dich in Erstaunen zu setzen.« Ihm den Rücken wendend, ging er rasch wieder weiter, wie einer, der allein bleiben will, durch die Gisors-Gasse nach dem Thurin-Platz, an dessen einer Ecke er sein Heim hatte.
Er wohnte im Haus seines Vaters, des alten Herrn von Mesnilgrand, der als reicher Geizhals verschrien war. Selbiger lebte lange Jahre völlig zurückgezogen, bis auf die drei Monate, die sein Sohn, der in Paris lebte, alljährlich bei ihm zubrachte. Dann aber pflegte der alte Herr, zu dem sonst keine Katze kam, die alten Freunde und Regimentskameraden seines Sohnes einzuladen und auf das üppigste zu bewirten. Die bösen Zungen der Stadt lästerten natürlich auch darüber; aber »der Tisch des alten Knickers« – wie sie sich ausdrückten – war in der Tat vorzüglich.
Der greise Vater war sehr stolz auf seinen Sohn, aber ebenso betrübt über ihn. Und dazu hatte er allen Anlaß. War doch das Leben seines Jungen, wie er den Vierzigjährigen immer noch nannte, durch denselben Schlag zertrümmert worden, der das Glück des Kaisers zerbrochen hatte. Mit achtzehn Jahren war der junge Mesnilgrand Husar geworden und hatte die Feldzüge der Kaiserzeit mitgemacht. Zu den höchsten Hoffnungen berechtigt, denn er war aus dem Holz geschnitzt, von dem die Marschälle Napoleons waren, hatte das Finale von Waterloo seine ehrgeizige Laufbahn ein für allemal vernichtet. Er war einer von denen, die von der Restauration nicht wieder in Dienst genommen wurden, weil er wie so mancher der Besten während der Hundert Tage im alten Bann den neuen Eid vergessen hatte. Und so kam es, daß er, der bis zum Eskadronchef in einem Regiment von geradezu fabelhafter Tapferkeit gebracht hatte, und obgleich man von ihm sagte: »Man kann tapfer wie Mesnilgrand sein, aber unmöglich tapferer!« – daß er nun zusehen mußte, wie Kameraden von ihm, deren Führungsliste sich in keiner Weise mit seiner messen konnte, Oberste und Kommandeure von Garderegimentern wurden. Er kannte keinen Neid, aber er ärgerte sich doch gräßlich darüber.
Mesnilgrand war ein zügelloser Draufgänger gewesen. Nur die soldatische Zucht einer beinahe römischen Zeit hatte es vermocht, den Sturm und Drang in ihm einigermaßen einzudämmen. Das Gerücht seiner leidenschaftlichen Abenteuer war bis in seine biedere Vaterstadt gedrungen, die sich darob arg entsetzte, zumal als er sich – vor nunmehr achtzehn Jahren – durch sein tolles Leben ein schweres Rückenmarksleiden zuzog, das er nur durch einen ungeheuerlichen ärztlichen Eingriff und dank seiner eisernen Natur überwand.
Diese besaß er wirklich, so daß er nach dieser höllischen Kur allen den Mühsalen und Wunden des Krieges von neuem zu trotzen imstande war. Dieser ehrgeizige Kraftmensch, der im besten Mannesalter seinen Säbel an den Nagel hängen mußte, war fortan zum Nichtstun verdammt, ohne Aussichten und ohne Hoffnungen. Er raste vor Wut. Obgleich nur der Sohn eines schlichten niedernormannischen Krautjunkers, ähnelte er, durch geheimnisvollen Zufall Karl dem Kühnen, dem Herzog von Burgund, den die Geschichte auch »den Schrecklichen« genannt hat. Er besaß dessen nie nachlassende wilde Leidenschaftlichkeit und bitterlich bösen Ingrimm.
Als der »verkrachte Rittmeister« – wie ihn die alles herabwürdigende Allgemeinheit nannte – heimkam, glaubte man zunächst, er werde sich umbringen oder den Verstand verlieren. Aber er beging weder Selbstmord, noch wurde er verrückt. Letzteres ging nicht, denn er war es schon immer, meinten die Spötter. Daß er bei seiner Natur am Leben blieb, war verwunderlich, indessen er war nicht der Mann, der sich vom Geier das Herz auffressen ließ, ohne den Versuch zu machen, dem Geier den Schnabel zu zerbrechen. Der unglaublich willensstarke Vittorio Alfieri, der nichts verstand als wilde Pferde zuzureiten, hat mit vierzig Jahren noch die Sprache Homers zu lernen begonnen und es so weit gebracht, daß er griechische Verse geschrieben hat. Nach diesem Vorbild warf sich Mesnilgrand auf die Malerei, das heißt auf etwas, was ihm am fernsten lag, denn er hatte zunächst keine Ahnung von den handwerksmäßigen Erfordernissen dieser Kunst. Er arbeitete, stellte in Paris seine Bilder aus, fand keine Beachtung, verzichtete auf die öffentliche Anerkennung, zerstörte seine Werke und schuf wieder neue, mit immer gleichem Feuereifer. Dieser Offizier, der bis dahin nur seinen Säbel zu handhaben verstanden und auf seinem Gaul ganz Europa durchquert hatte, verbrachte sein Leben fortan vor der Staffelei. Sein Widerwille vor dem Krieg und seinem alten Beruf, der Groll eines heimlich Liebenden war so groß, daß er nur Landschaften malte, also Dinge, die er ehedem verwüstet hatte. Beim Malen rauchte er stets, und seinem Tabak mengte er Opium bei. Aber kein Betäubungsmittel war imstande, das grimmige Ungeheuer einzuschläfern, das er seinen »Drachen am Brunnen« nannte. Leute, die ihn nur oberflächlich kannten, hielten ihn für einen Carbonaro; aber wer ihn besser kannte, wußte, daß er ein viel zu selbständiger Denker war, als daß er dem Freisinn jener Zeit verfallen konnte, der im Grunde nur hohles und dummes Geschwätz war.
Trotz seiner maßlosen und unsinnigen Leidenschaftlichkeit wahrte sich Mesnilgrand doch den nüchternen klaren Sinn für das Wirkliche, der den Bewohnern der Normandie eigentümlich ist. Er war alles andere denn Umstürzler. Das Demokrätentum, auf das sich die Bonapartisten während der Restauration stützten, war ihm stark zuwider. Mesnilgrand war durch und durch Aristokrat. Er war es nicht nur nach Geburt, Stand und Rang, sondern von Natur. Er war eben er, und wenn er der ärmste kleine Mann gewesen wäre: ein Herrenmensch, das Gegenstück zum Spießbürger. Äußerliche Auszeichnungen, auf die der Emporkömmling soviel Wert legt, verachtete er. Seine Orden pflegte er nicht zu tragen. Sein Vater hatte ihm vor dem Zusammenbrach des Kaiserreichs, als seine Ernennung zum Stabsoffizier bevorstand, ein Majorat gegründet, so daß er berechtigt war, den Baronstitel zu tragen; aber auf seinen Besuchskarten wie für alle Welt blieb er »Le Chevalier de Mesnilgrand«.
Es gibt in allen Jahrhunderten fahrende Ritter. Heutzutage kämpfen sie für das, was sie als recht und richtig ansehen, und gegen das, was sie hassen, nicht mehr mit Lanze und Schwert, sondern mit Spott und Hohn. Mesnilgrand war ein solcher Ritter. Er besaß die dazu nötige geistige Überlegenheit. Die war übrigens nicht die einzige Gabe, die ihm der Gott der Kraft verliehen hatte. Wie in allen Männern der Tat herrschte bei ihm der starke Wille vor; nur stand dem ein scharfer Verstand zur Seite, eine Macht für ihn gegen die anderen. Wahrscheinlich wäre er als glücklicher Mann nicht besonders geistreich gewesen, aber als Nichtglücklicher hatte er das Feuer der Verzweifelten, und, wenn er gute Laune hatte, auch den Galgenhumor solcher Menschen. Dazu war ihm eine ungewöhnliche Beredsamkeit eigen. Was man von Mirabeau sagte: Man muß ihn gehört haben! – das galt auch von ihm. Byron begann damals in die Mode zu kommen. Wenn sich Mesnilgrand einigermaßen beherrschte, glich er den Helden der Dichtungen des Lords. Er besaß nicht die regelmäßige Schönheit, die den kleinen Seelen gefällt. Er war sogar grundhäßlich. Aber sein blasses verlebtes Gesicht, dazu das jugendlich gebliebene kastanienbraune Haar, seine früh durchfurchte Stirn, gleich der des Lara oder des Korsaren, seine Leopardennase, seine grünschimmernden Augen, die ein wenig blutrot durchädert waren wie die feuriger Rassepferde, verliehen ihm einen Ausdruck, der selbst die größten Spötterinnen der Stadt beunruhigte. In seiner Gegenwart mäßigten die schlimmsten ihr Mundwerk. Groß, stark, gut gewachsen, nur ein wenig vorgebeugt in seiner Haltung, als bewege er sich in einer zu schweren Rüstung, hatte Mesnilgrand die in unseren Tagen so selten gewordene stattliche Herrenhaftigkeit, die wir aus den Bildnissen der alten Zeit kennen. »Er ist ein wandelndes Ahnenbild!« sagte einmal eine junge Dame von ihm, als sie ihn zum ersten Male im Salon eintreten sah. Überdies krönte er alle diese Vorzüge durch einen, der in den Augen der Frauen unübertrefflich ist. Er war immer tadellos angezogen. War dies die letzte Eitelkeit eines homme à femmes, dessen Persönlichkeit ein abgetanes Stück Leben überdauerte, wie die untergehende Sonne den Saum der Wolken durchglüht, hinter denen sie versunken ist? War dies ein Überbleibsel des fürstlichen Aufwandes, den die Eroberer Europas sich ehedem geleistet hatten, wo Mesnilgrand eine Paradedecke aus Tigerfellen unter dem Sattel trug, die seinem Vater, dem Geizhals, zwanzigtausend Franken gekostet hatte? Wie dem auch sei, kein junger Mann in Paris oder London konnte diesen Menschenfeind, der die große Welt verlassen hatte, in der Erlesenheit seiner Kleidung übertreffen.
Während der drei Monate, die er in *** zuzubringen pflegte, machte er nur wenige Besuche; den Rest des Jahres keine. Wie in Paris lebte er auch in seiner Vaterstadt bis in die späte Nacht nur seiner Malerei. Manchmal erging er sich ein wenig in der sauberen, anmutigen kleinen Stadt, die etwas Verträumtes an sich hatte, als sei sie für Dichter da, obwohl wahrscheinlich kein einziger in ihr hauste. Wenn er durch die Straßen ging, flüsterten die Leute einander zu: »Das ist der Herr Rittmeister von Mesnilgrand!« Und wer ihn einmal gezeigt bekommen hatte, der vergaß ihn sein Leben lang nicht wieder. Er machte Eindruck auf die Leute, wie alle Menschen, die nichts mehr vom Leben verlangen. Wer das nicht mehr tut, der steht immer über ihm; und dann ist es das Leben, das sich uns hündisch zu Füßen legt. Mesnilgrand ging nicht in das Kaffeehaus, zu den anderen Offizieren, die von der neuen Regierung aus der Rangliste gestrichen waren; aber auf der Straße verfehlte er nicht, wenn er einen traf, ihm die Hand zu drücken. Die kleinstädtischen Kaffeehäuser waren nichts für ihn, den Aristokraten. Eines zu betreten, wäre ihm ein Verstoß gegen den guten Geschmack gewesen. Es nahm ihm dies niemand übel. Seine Kameraden konnten ihn ja jederzeit im Haus seines Vaters aufsuchen. Die üppigen Gastmähler, die er ihnen, wie schon erwähnt, gab, nannten sie in Anlehnung an die Bibel, in der sie nie lasen, die »Belsazar-Mähler«.
Bei diesen Tafeleien saß der Vater dem Sohn gegenüber, und trotz seines Alters merkte man gar wohl, daß auch er ein ganzer Mann gewesen, würdig seines Sohnes, auf den er so stolz war. Groß und hager, gerade gewachsen wie ein Mastbaum, beugte er sich dem Alter lange noch nicht. Er ging stets im schwarzen Gehrock, in dem er noch größer erschien, als er ohnehin war. Er sah ernst aus wie ein nachdenklicher Mensch, der aller Eitelkeit der Welt entsagt hat. Seit Jahren pflegte er immer eine veilchenblaue gestrickte Zipfelmütze zu tragen, ohne daß sich der Spott an diese herkömmliche Kopfbedeckung des »Eingebildeten Kranken« gewagt hätte. Über die Jugend dieses Geronten wußte niemand etwas. Sie lag zu weit zurück, als daß man sich hätte daran erinnern können. Er hatte zu den Umstürzlern gehört, sagte man, obwohl er ein Vetter von Vicq d'Azir war, dem Arzt der Königin Marie Antoinette. Aber das dauerte nicht lange. Der Mann der Wirklichkeit, der Besitzende, der Gutsherr, war schließlich doch stärker als der Mann der Idee. Nur war er aus der Umsturzzeit, in die er als Ungläubiger in kirchlichen Dingen geschritten war, auch als Ungläubiger in Staatsdingen hervorgegangen. Dieser doppelte Unglaube ergab einen Erzzweifler, vor dem Voltaire erschrocken wäre. Übrigens verhielt er sich bei den zu Ehren seines Sohnes von ihm veranstalteten Gastmählern ziemlich schweigsam; nur wenn er auf Wahlverwandtschaft stieß, ließ er sich Meinungen und Gedanken entlocken, die das rechtfertigten, was man in der Stadt über ihn munkelte. Für die Frommen und Adligen, von denen es am Ort wimmelte, war er der alte Ketzer, mit dem man nicht verkehren konnte und der sich selber verdammte, indem er sich von der Welt abschloß.
Er führte ein sehr einfaches Leben. Niemals ging er aus. Die Grenze seines Hofes und seines Gartens waren für ihn die Grenzen der Welt. Im Winter saß er vor dem großen Kamin in der Küche, in einem hohen Lehnstuhl mit rotbraunem Utrechter Samt, stumm inmitten seiner Dienstboten, die, von seiner Gegenwart bedrückt, kaum zu flüstern wagten. Im Sommer befreite er sie von diesem Zwang und blieb im Eßzimmer, wo es kühl war, las in den Zeitungen oder in irgendeinem alten Buch aus einer Klosterbibliothek, die er bei einer Versteigerung erstanden hatte, oder ordnete Geschäftspapiere an einem kleinen Schreibtisch aus Ahornholz mit Messingbeschlägen, den er sich aus dem Oberstock hatte herunterschaffen lassen, um nicht hinaufgehen zu müssen, wenn einer seiner Pächter kam, obwohl dies Möbelstück gar nicht in ein Eßzimmer paßte. Ob ihn noch andere Dinge als seine Geschäfte bewegten, wußte kein Mensch. Sein fahles, von Blatternarben zerrissenes Gesicht mit der kurzen, ein wenig aufgestülpten Nase, verriet nichts von seinem Innern. Es war rätselhaft wie das einer am Herd schnurrenden Katze. Infolge der Blattern hatte er gerötete Augen und nach innen gekehrte Wimpern, die ab und zu gestutzt werden mußten. Er blinzelte infolgedessen, und wenn er mit jemandem sprach, legte er die eine Hand an die Brauen, um das Licht zu dämpfen, wobei er den Kopf etwas zurückbog. Dies verlieh ihm den Anschein von Dünkel und Hochmut. Der Gebrauch eines Augenglases, um schärfer zu sehen, hätte nicht so anmaßend gewirkt. Seine Stimme, die eines Mannes, der an das Recht des Befehlens gewohnt ist, war mehr eine Kopf- als eine Bruststimme, gleichsam ein Zeichen, daß er selbst mehr Hirn als Herz hatte. Aber er machte selten von ihr Gebrauch. Er war mit seinen Worten genauso sparsam wie mit seinen Talern. Wenn er sprach, geschah dies in der knappen Art des Tacitus. Er drechselte an seinen Worten, und so hatte seine Rede Wert und Wucht. Seine Witzworte trafen wie Steinwürfe.
Ehedem hatte er über die großen Ausgaben und die tollen Streiche seines Sohnes gejammert, wie dies alle Väter tun, aber seit Mesnil – wie er ihn nannte – unter den Trümmern des Kaiserreiches begraben war wie ein Titan, hatte er. vor ihm die Achtung des Weisen, der das Leben auf der Goldwaage der Verachtung wägt und gefunden hat, daß es im Grunde nichts Schöneres gibt als vom sinnlosen Schicksal zerbrochene Menschenkraft. Er bewies ihm dies auf seine Art. Wenn sein Sohn das Wort hatte, leuchtete die vollste Aufmerksamkeit in seinen Zügen. Der größte Beweis, wieviel er ihm galt, lag übrigens darin, daß er während seiner Anwesenheit, wie schon bemerkt, seinen Geiz völlig vergaß.
Die Gelage in seinem Haus waren in der ganzen Stadt berüchtigt. Man raunte sich zu, es ginge dabei gottlästerlich her. Und wirklich, echte Gottesleugner und wütende Pfaffenfeinde waren sie alle miteinander, die da versammelt saßen. Die Gottlosen der damaligen Zeit waren von ganz besonderer Art. Es war das Heidentum von Kraftmenschen und Männern der Tat, die alle Greuel des Umsturzes und alle Kriege der Kaiserzeit durchgemacht hatten. Das war eine völlig andere Gottlosigkeit als die des achtzehnten Jahrhunderts, aus der sie hervorgegangen war. Diese war von Wahrheitsliebe und Geistesfülle durchdrungen. Sie war scharfsinnig, grüblerisch, gespreizt und vor allem frech, aber nicht so roh wie die der Königsmörder von 1793, wie die der Landsknechte des Kaisers. Auch wir, die wir eine neue Zeit vorstellen, haben unser Heidentum, ein eisiges, gelehrtes, innerlich starkes, unerbittliches, unduldsames und zielbewußtes Heidentum. Aber weder dieses noch sonst eines vermag einen Begriff zu geben von der leidenschaftlichen Gottlosigkeit der Männer zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in Frankreich. Und so war es Tatsache, daß nach drei oder vier Stunden des Schlemmens und Zechens das Eßzimmer im Haus am Thurin-Platz von den gottlosesten Reden dröhnte.
Die Teilnehmer an diesen schändlichen Gelagen sind tot, und reichlich tot; aber damals waren sie am Leben, und zwar auf der Höhe ihres Lebens. Die ist nicht dort, wo die Kräfte abzunehmen beginnen, sondern dort, wo das Ungemach am größten wird. Alle diese Freunde Mesnilgrands, alle die Gäste im Haus seines Vaters, waren im Besitz ihrer ganzen Kraft, um so mehr, da sie diese geübt und erprobt hatten, als sie in maßloser Gier noch am vollen Faß der ungezügelten Lebensfreuden saßen, ohne daß sie am berauschenden Trank zugrunde gegangen waren. Aber so krampfhaft ihre Hände den Becher umklammerten und ihre Zähne in ihn bissen, um nicht von ihm zu lassen: er war ihnen doch entrissen worden. Die Umstände hatte sie vom Quell verjagt, an dem sie geschlürft hatten, ohne sich satt zu trinken; und nun waren sie um so durstiger, weil sie davon getrunken hatten. Sie hatten wie Mesnilgrand ihre »schlimme Zeit«, aber es fehlte ihnen die Seelengröße dieses rasenden Rolands, dessen Ariost, wenn er einen gefunden hätte, ein Shakespeare hätte sein müssen. Für ihre Seelen, ihren Geist und ihre Sinne war das Leben schon vor dem Tod zu Ende. Noch waffenfähig, waren sie entwaffnet. Alle jene Offiziere sahen sich nicht nur an als Verabschiedete der Loire-Armee, sondern auch als Verabschiedete des Lebens und der Hoffnung. Nachdem das Kaiserreich vernichtet, nachdem die Revolution getilgt war durch die Reaktion, die sie nicht niederzuhalten vermochten wie der Erzengel Michael den Drachen, waren sie, ihrer Stellung, ihrer Ämter, ihres Ehrgeizes und der Ernte ihrer Vergangenheit beraubt, in ihre Vaterstadt heimgekehrt, machtlos, arm und gedemütigt, um dort – wie sie grimmig sagten – gleich Hunden zu verrecken. Im Mittelalter wären sie Wegelagerer,Freibeuter oder Entdecker geworden. Aber man kann sich sein Jahrhundert nicht aussuchen; und da sie an den Ketten der Gesittung hingen, die alles in Schranken und Gesetzen hält, so mußten sie still halten, in die Kandaren beißen, auf der Stelle treten, sich selbst verzehren und den Unmut darüber hinunterschlucken. Höchstens konnten sie ihren Blutdurst in Zweikämpfen austoben.
Man kann sich danach einen Begriff machen, wie das Vaterunser gelautet hat, das diese Haudegen zum Himmel emporsandten, wenn die Rede auf den lieben Gott kam. Wenn sie selber auch nicht an ihn glaubten, so glaubten doch andere Leute an ihn, ihre Feinde; und das genügte ihnen, um in ihren Reden alles, was auf Erden für hoch und heilig gilt, zu verlästern, zu verspotten und niederzutreten.
Wie allwöchentlich hatte sich also auch am Freitag nach jenem Sonntag, an dem Mesnilgrand von seinem alten Kameraden zu dessen Verwunderung und Ärger in der Kirche angehalten worden war, die Tafelrunde im Mesnilgrandschen Hause pünktlich eingestellt. Jener alte Kamerad war der Rittmeister Rançonnet, ehemaliger 8. Dragoner. Er erschien diesmal als einer der ersten, weil er sich vorgenommen hatte, den Freund, den er die ganze Woche nicht wiedergesehen, um Aufklärung über den Vorfall zu ersuchen und über die Art, wie er dort von ihm behandelt worden war. Dies sollte in Gegenwart aller Gäste geschehen, um sie zu unterhalten. Rançonnet war durchaus nicht der Schlimmste der Schlimmen an der Freitagstafel. Aber er war ein Polterer und ein allzu urwüchsiger Feind der Kirche. Wenn nicht geradezu ein Narr, so war er hierin ein Tor. Der Gottesbegriff ärgerte ihn wie eine Fliege auf der Nase. Im übrigen war er vom Scheitel bis zur Sohle ein Offizier seiner Zeit, mit allen Fehlern und Vorzügen, einer, der den Krieg um des Krieges willen liebte, ein echter Säbelraßler. Von den fünfundzwanzig Zechkumpanen war er wohl der, der den Rittmeister Mesnilgrand am liebsten hatte; nur war er ihm seit dem Vorfall in der Kirche unverständlich geworden.

Montag, 2. Dezember 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (12) - Hinter den Karten (3) - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly



Hinter den Karten

3

»Das einzige« – fuhr der Erzähler fort –, »was Leben, Begierden, starke Wallungen in die stille Stadt brachte, war das Glücksspiel, die letzte Leidenschaft verbrauchter Seelen. Das ›Jeu‹ war die große Sache unter diesen altmodischen Edelleuten, die sich einbildeten, als Grandseigneurs zu leben, während sie wie blinde alte Weiber dahinsiechten. Sie waren vom Spielteufel besessen wie die alten Normannen, die Eroberer Englands.
Ihr Lieblingsspiel war das Whist, wohl darum, weil sein Wesen schweigsam und gemessen ist wie die Diplomatie der alten Zeit. Auch kam ihre Engländerei dabei zum Ausdruck. Dies Spiel mußte die bodenlose Leere ihrer faden Tage ausfüllen. Sie spielten alle Abend nach der Hauptmahlzeit bis zwölf oder ein Uhr. In den Augen der biederen Bürger waren so lange Sitzungen etwas Wüstes.
Am berühmtesten waren die Spielabende beim Marquis von Saint-Alban. Dieser Edelmann war gewissermaßen das Oberhaupt aller Adeligen. Man zollte ihm die höchste Achtung und Rücksicht. Er war ein Meister im Whist. Mit wem hatte er in seinem langen Leben nicht gespielt? Er war neunundsiebzig Jahre alt. Maurepas, der Graf von Artois, der Fürst von Polignac, der Kardinal Ludwig von Rohan. Cagliostro, Fox, Dundas, Sheridan, der Prinz von Wales, Talleyrand, vielleicht der Teufel selber hatten mit ihm am Spieltisch gesessen. Er war jedem Partner gewachsen. Jetzt fand er unter den Engländern ebenbürtige Gegner.
Eines Abends spielte man im Hause der Frau von Beaumont. Man erwartete einen Mister Hartford, der sich am berühmten Tisch des Marquis betätigen sollte. Dieser Gast besaß eine Baumwollspinnerei in Pont-aux-Arches, beiläufig gesagt, eine der ersten in der Normandie, diesem Lande, das allen neuen Dingen unzugänglich ist, weniger wegen der Dummheit und Schwerfälligkeit der Bevölkerung, vielmehr zufolge ihrer Vorsicht, des Grundzuges der normannischen Rasse. Die Menschen der Normandie gleichen den Füchsen, die, wenn sie übers Eis laufen, ihre Pfoten nur dorthin setzen, wo es fest ist.
Besagter Hartford – wie ihn die Jugend kurzweg nannte –, ein Fünfziger mit silberschimmerndem kurzgeschorenem Haar, das wie eine seidene Mütze aussah, ward vom Marquis sehr geschätzt. Kein Wunder, denn er war ein großartiger Spieler, der eigentlich nur lebte, wenn er die Karten in der Hand hielt. Er behauptete, das größte Glück sei, im Spiel zu gewinnen, das zweitgrößte, im Spiel zu verlieren. Ein prächtiger Ausspruch, den er von Sheridan hatte; aber diese Entlehnung verzieh man ihm, weil er das Wort so glänzend zur Tat machte. Übrigens besaß er, abgesehen von dem Laster des Spiels – in Hochschätzung dessen ihm der Marquis die hervorragendsten Tugenden nachgesehen hätte –, alle die Pharisäereigenschaften, die man in England mit dem handlichen Sammelnamen Honorability bezeichnet. Er galt als Gentleman ohne Tadel. Der Marquis nahm ihn öfters auf Wochen mit nach seinem Schloß, dem ›Vanillenhof‹, und in der Stadt kam er alle Abende mit ihm zusammen.
An diesem Abend verspätete sich der sonst peinlich pünktliche Hartford zur Verwunderung der ganzen Gesellschaft, vor allem des Marquis. Es war im August. Durch die offenen Fenster blickte man hinaus nach einem herrlichen Garten, wie ihn nur eine Landstadt haben kann. Die jungen Damen saßen beisammen in den Fensternischen und plauderten über ihren Stickereien. Der Marquis hatte sich bereits am Spieltisch niedergelassen, die dichten weißen Brauen gerunzelt, die Ellbogen aufgestützt. Sein herrisches Antlitz, das in seiner Würde dem Ludwigs des Vierzehnten glich, zumal im Unmut darüber, daß man ihn warten ließ, ruhte auf seinen greisenhaft schönen Händen.
Endlich meldete der Diener Herrn Hartford. Er erschien, tadellos wie immer gekleidet, in blendend weißer Wäsche, Ringe an allen Fingern (was damals nicht als unvornehm galt), ein Taschentuch aus indischer Seide in der Hand, ein duftendes Kügelchen im Mund, um den Nachhaucht der Anschovenpaste, der Harveytunke und des Portweins zu tilgen.
Er kam aber nicht allein. Er begrüßte den Marquis und stellte ihm – wie zur Abwehr jedweden Vorwurfs – einen seiner Freunde vor, einen Schotten, Herrn Marmor von Karkoël, der ihm (so berichtete er) wie eine Bombe gerade bei Tisch ins Haus geflogen wäre. Nebenbei bemerkt, sei er der beste Whistspieler der drei Königreiche.
Diese Empfehlung entlockte den fahlen Lippen des Marquis ein liebenswürdiges Lächeln. Alsbald war die Partie im Gange. In seinem Eifer vergaß Karkoël seine Handschuhe auszuziehen, die in ihrer Vollkommenheit an die berühmten Handschuhe Brummells erinnerten, die bekanntlich von drei besonderen Handwerkern hergestellt wurden, zweien für die Finger und einem für die Daumen. Der Schotte war der Partner des Marquis. Die verwitwete Gräfin von Hautcardon hatte ihm diesen Platz überlassen, der sonst der ihre war.
Dieser Herr von Karkoël, meine Damen, war nach seiner Erscheinung ein Mann von etwa achtundzwanzig Jahren. Aber die Tropensonne, mir unbekannte Überanstrengungen, vielleicht auch Leidenschaften, hatten seinem Gesicht das Gepräge eines Fünfunddreißigjährigen aufgedrückt. Es war nicht schön, aber ausdrucksvoll. Sein schwarzes starkes Haar war aufrecht gebürstet und ziemlich kurz geschnitten. Merkwürdig oft fuhr er mit der Hand über die Schläfen und strich es zurück. Diese Bewegung war ungemein, aber auch unheimlich beredt. Man hatte die Empfindung, als wolle er einen reuevollen Gedanken verscheuchen. Dies fiel einem im ersten Augenblick auf, und wie alles Geheimnisvolle immer wieder. Ich bin mehrere Jahre lang viel mit diesem Karkoël zusammengekommen, und ich muß sagen: diese düstere Geste, die er wohl zehnmal in der Stunde wiederholte, erweckte bei jedermann stets den nämlichen Gedanken. Seine regelmäßig geformte, aber niedrige Stirn verriet Verwegenheit, und die Unbeweglichkeit seiner Oberlippe hätte Lavater in Verzweiflung gebracht, der bekanntlich behauptet, in den beweglichen Linien des Mundes eines Menschen ständen seine verborgenen Gedanken besser zu lesen als im Ausdruck seiner Augen. Er trug keinerlei Bart. Wenn er lächelte, tat er es, ohne daß seine Blicke daran teilnahmen, und es zeigte sich der Perlenglanz seiner Zähne. Sein Gesicht war länglich, in den Wangen eingefallen, von der matten Farbe der Olive, aber durchglüht von der Sonne, und zwar von einer feurigeren als der des Nebellandes. Seine lange gerade Nase trat zwischen zwei schwarzen Macbethaugen hervor, die überaus finster und unverhältnismäßig eng aneinandergerückt waren, was ein Zeichen von seelischer Ungeheuerlichkeit oder Geisteskrankheit sein soll. Er war erlesen gekleidet. Wie er in seiner nachlässigen Haltung am Spieltisch saß, erschien er nicht so klein wie vordem stehend, was daher kam, daß sein Oberkörper im Vergleich zu seiner ganzen Gestalt zu lang war. Abgesehen von diesem Fehler war er gut gebaut und, ich möchte sagen, tigerhaft-geschmeidig in seinen samtnen Bewegungen. Was schließlich sein Französisch anbelangt, überhaupt seine Sprechweise, so weiß ich heute nicht mehr, ob seine Stimme (der goldene Griffel, mit dem wir unsern Willen in die Herzen unserer Zuhörer eingraben, um sie zu verführen) im Einklang stand mit der schon geschilderten häufigen Gebärde der Hand nach dem Kopf. Eines ist mir nur noch erinnerlich. An jenem Abend klangen seine Worte kein bißchen schauerlich. Was er sagte, hatte keine besondere Betonung. Er sprach nichts als die beim Whist nötigen Worte, die in gleichmäßigen Abständen in die weihevolle Stille des Spiels fielen.
Außer seinen Spielgenossen schenkte keiner der zahlreichen im geräumigen Salon Anwesenden dem hereingeschneiten Whistspieler Beachtung. Die Gegenwart eines Engländers war ja nichts Auffälliges. Die jungen Mädchen wandten nicht einmal den Kopf nach ihm. Sie waren der immer wieder auftauchenden Ausländer längst überdrüssig, da sie doch allesamt nichts als die Karten im Kopf hatten. Selbst die Spieler an den anderen Tischen hatten ihm nur bei seiner Ankunft einen flüchtigen Blick gegönnt und sich alsbald, kopfüber wie Schwäne auf dem Teich, von neuem in ihren Whist versenkt.
Zwischen dem Marquis von Saint-Alban und Herrn Hartford, dem neuen Spieler gegenüber, hatte die verwitwete Gräfin von Tremblay-Stasseville ihren Platz, während ihre Tochter Hermine, die holdeste Blume im Kranz der jungen Mädchen in den Fensternischen, mit Fräulein Ernestine von Beaumont plauderte. Nach der Mutter schauend, fiel ihr Blick auch auf den Schotten.
»Sieh einmal, Ernestine«, sagte sie leise zu ihrer Freundin, »wie dieser Mensch die Karten gibt!«
Karkoël hatte inzwischen seine Handschuhe abgestreift und verteilte mit seinen aus ihrer parfümierten Gemslederhülle befreiten weißen wohlgeformten Händen (mit denen eine Mondäne, wenn sie sie besessen hätte, sich selbst vergöttert hätte) die Karten, jede einzeln, wie dies beim Whist Vorschrift ist, und zwar mit wirklich unheimlicher Gewandtheit, die man bewundern mußte wie die Finger Liszts. Einer, der mit solcher Fingergeschwindigkeit die Karten gibt, ist unbedingt ihr Meister. Ein so vielsagendes Geschick erwirbt man sich nur, wenn man zehn Jahre lang in Spielhöllen verkehrt hat.
›Ein Handwerk‹, meinte Ernestine in verächtlichem Ton, ›das ich nicht comme il faut finde.‹
Comme il faut sein war der hochmütigen jungen Dame das höchste. Es galt ihr mehr als noch so geistreich sein. Sie hatte ihren Beruf verfehlt, diese Ernestine von Beaumont; und ich glaube, sie ist vor Herzeleid gestorben, weil sie nicht die Camerera major der Königin von Spanien geworden ist.
Fabelhaft wie sein Kartengeben war Karkoëls Spiel. Er zeigte darin eine derartige Meisterschaft, daß der alte Marquis vor Vergnügen berauscht war. Mit einem solchen Partner hatte er sich seit langem nicht gemessen. Jede Art Überlegenheit ist Verführung. Wer sie besitzt und wirken läßt, zieht sein Opfer unwiderstehlich in seinen Bann. Mehr noch! Ein solcher Verführer macht auch andere fruchtbar. Man denke an die großen Plauderkünstler! Sie reden und säen zugleich die Gegenrede aus. Wenn sie zu sprechen aufhören, fallen die Dummköpfe, beraubt des Schimmers, der sie vergoldete, matt in den flachen Strom der Unterhaltung zurück, wo sie wie tote Fische schwimmen, den schuppenlosen Bauch nach oben. Karkoël aber regte diesen Mann, dem das Leben keine Reize mehr bot, nicht nur an. Er steigerte die Hochschätzung, die sein Gegenspieler von sich selber hegte, indem er dem feinlinigen Obelisken, den sich dieser ›König des Whistes‹ schon längst in der verschwiegenen Einsamkeit seines Dünkels erbaut hatte, noch eine Krone aufsetzte.
Trotz der Erregung, die ihn verjüngte, beobachtete der Marquis den Fremden während des Spiels aus den Winkeln seiner Krähenfüße – so nennen wir unverschämterweise das Brandmal, das uns die freche Klaue der Zeit in die Gesichter schlägt! –, die seine geistfunkelnden Augen zügelten. Der Schotte konnte nur von einem ganz hervorragenden Spieler gewürdigt, geschätzt und genossen werden. Er besaß jene tiefe nachdenkliche Aufmerksamkeit, die während der Wechselfälle des Spiels über Berechnungen grübelt, sie aber mit prächtiger Unerschütterlichkeit verschleiert. Neben ihm hätten sich im Flugsand der Wüste kauernde Sphinxe wie Sinnbilder der Redseligkeit ausgenommen. Er spielte, als habe er drei Paar Hände zur Verfügung, die ihm wie von selbst die Karten hielten.
Die letzten Lüftchen des Augustabends trugen leisen Duft zu den bloßen Köpfen der dreißig jungen Mädchen, um beladen mit neuem Wohlgeruch und dem Balsam der Jungfräulichkeit von den leuchtenden Scheiteln zurückzuwallen und schließlich an jener bronzenen breiten niedrigen Stirn, dieser Klippe aus lebendigem Marmor, hängenzubleiben. Karkoël spürte es nicht. Seine Nerven waren stumm. In diesem Augenblick mußte man ihm zugestehen, daß er den Namen Marmor mit vollem Recht trug. Es braucht nicht hinzugefügt zu werden, daß er der Gewinner war.
Der Marquis zog sich stets gegen Mitternacht zurück. ›Er ist wirklich der König der Karten, dieser Karkoël!‹ sagte er voll Begeisterung, noch immer überrascht, zu Hartford, der ihn ehrerbietigst an seinen Wagen geleitete, nachdem er ihm den Arm geboten hatte. ›Sorgen Sie dafür, daß er uns nicht sobald wieder verläßt.‹
Der Engländer versprach es, und der alte Edelmann nahm sich, seinen Jahren und seinem Geschlecht zum Trotz vor, dem schottischen Odysseus gegenüber die Rolle der gastfreundlichen Sirene zu spielen.

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Dienstag, 12. November 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (4) - Don Juans schönste Liebschaft - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly


Don Juans schönste Liebschaft
Unschuld ist des Teufels Leckerbissen

3

Es war also spät, das heißt: früh. Der Morgen graute. An der Decke und an etlichen Stellen der dicht zusammengeschlossenen rosaseidenen Vorhänge des Boudoirs schimmerten hereingekrochene Tageslichter wie immer größere neugierige Augen, die gern wissen möchten, was in der Lichtfülle des Gemaches vor sich geht.

Die erst so starke Erregung der Ritterinnen der Tafelrunde war matt geworden. Der keinem Fest fehlende letzte Gast, die Müdigkeit, war leise eingetreten. Die gesteigerte Lebhaftigkeit sinkt vor ihm zusammen. Er wirft seine Schleier über alles, über das sich lösende Haar, über die entflammten oder erbleichten Wangen, über die bläulich-umschatteten Augen und die schwergewordenen Lider, und sogar über die flackernden Flammen der Kerzen in all den vielen goldenen Armleuchtern und glitzernden Hängekronen.

Die allgemeine Plauderei, die so lange munter und eifrig war, dieses Ballspiel, bei dem jede im rechten Augenblick ihren Schlag getan, verfiel in Bruchstücke, in Splitter, in kleine Teile. Kein Leitmotiv herrschte mehr im klangreichen Gesumme dieser rassigen Stimmen, das auf und nieder tanzte wie das Gezwitscher der Vögel in der Morgendämmerung am Waldessaum, bis sich urplötzlich eine Kopfstimme erhob, herrisch und beinahe unverschämt, eine echte anspruchsvolle Herzoginnenstimme, über alle anderen hinweg, die dem Grafen von Ravila ein paar Worte zurief, offenbar die Fortsetzung und die Folge eines Gespräches, das sie bisher leise mit ihm geführt hatte und das keine der sich miteinander unterhaltenden anderen gehört hatte:

»Graf, der Sie für den Don Juan unserer Zeit gelten, Sie sollten uns die Geschichte derjenigen Eroberung zum besten geben, die Ihrer Eitelkeit als vielgeliebter Mann am meisten geschmeichelt hat, und die Sie im Licht dieser Stunde für die schönste Liebschaft Ihres Lebens erklären!«

Sowohl die Stimme wie ihr Verlangen durchschnitt wie mit einem Schlage das Gewirr aller Kreuz- und Quergespräche und schaffte sofort Stille. Es war die Stimme der Herzogin von ***. Ihren Namen will ich hier nicht nennen. Ich begnüge mich zu sagen, daß sie die hellste Blondine mit den schwärzesten Augen der ganzen Vorstadt St. Germain ist. Sie saß, wie ein Gerechter zur Rechten Gottes, zur Rechten des Grafen, des Gottes dieses Festes, der an diesem Abend keinen seiner Feinde zum Schemel seiner Füße gemacht hätte. Sie war schlank und fein wie eine Arabeske, wie eine Fee, in ihrem grünen Samtkleid, das von der Seite wie Silber glänzte und dessen lange Schleppe, gewunden um ihren Stuhl, aussah wie der lange Schlangenschwanz, in dem der süße Leib der schönen Melusine endet.


»Ein glänzender Gedanke!« jubelte die Gräfin von Chiffrevas, um in ihrer Eigenschaft als Dame des Hauses den Wunsch und die Anregung der Herzogin zu unterstützen. »Ja, Graf, die Geschichte derjenigen Liebe von allen, die Sie je gespendet oder geerntet, die Sie, wenn dies möglich wäre, noch einmal von Anfang bis Ende erleben möchten!«

»Oh! Ich möchte sie alle noch einmal erleben!« beteuerte Amadee mit der Unersättlichkeit eines römischen Cäsaren, die genußmüden Menschen zuweilen eigen ist. Dabei erhob er sein Sektglas. Es war dies keine der heute vielfach üblichen plumpen und bäuerischen Schalen, sondern das schlanke, hohe Spitzglas unserer Väter, das einzig-wahre Glas für den Champagner, das man »Flöte« genannt hat, vermutlich in Hinsicht auf die himmlischen Melodien, die uns aus solchem Glas zuweilen in das Herz fließen. Mit einem schweifenden Blick umfing er den ganzen Kreis der Damen, des Tisches köstlichsten Kranz.

»Und doch ...«, fügte er hinzu, indem er das Glas wieder vor sich hinstellte, mit einer Wehmut, die einem Nebukadnezar wie ihm, der noch kein anderes Gras als die Salate im Café Anglais gegesssen hatte, seltsam stand. »Und doch ist es die Wahrheit: unter allen Herzenserlebnissen eines Lebens gibt es eines, das auf unserem weiteren Erdengang in der Erinnerung, alle anderen Eindrücke mächtig überstrahlt. Für die Wiederkehr dieses einen würden wir gern alle anderen nicht erlebt haben wollen, und wären sie noch so schön gewesen!«

»Die Perle im Gold!« flüsterte die Gräfin von Chiffrevas verträumt vor sich hin und freute sich am weißen Schimmer der großen Perle ihres Lieblingsringes.

Und die Fürstin Isabel setzte hinzu:

»Der Diamant in dem schönen Märchen meiner Heimat, der erst rosenrot glüht, dann aber schwarz und schwärzer wird und immer feuriger funkelt!« Sie sagte das in der morgenländischen Anmut der kaukasischen Frauen, deren schönste sie war. Ein Polenfürst, einer der Flüchtlinge, hatte sie aus Liebe geheiratet, sie, die seitdem selber so aussah, als sei sie vom Stamm der Jagellonen.

Nun gab es einen wahren Sturm. »Ach ja!« riefen alle in Begeisterung. »Erzählen Sie uns das, Graf!« Und die ganze Runde umbettelte ihn, im Vollgenusse der Schauer der Wißbegier, die ihnen die Nacken durchrieselten. Sie rückten zusammen; ihre Schultern berührten einander fast. Die eine stützte den Kopf mit der schlanken Hand; eine andere lehnte den vollen Arm gegen den Tisch; die dritte drückte den Fächer gegen die runde Lippe. Aber alle richteten ihre durstigen Blicke hochnotpeinlich auf den Grafen.

»Wenn Sie das durchaus wollen, meine Damen ...«, sagte Ravila, in der lässigen Art eines Mannes, der genau weiß, wie sehr die Erwartung das Verlangen steigert.

»Durchaus!« erklärte die Herzogin, indem sie die goldene Schneide ihres Nachtischmessers betrachtete wie ein Türkensultan die Schneide seines Krummsäbels.

»So hören Sie also!« fuhr er fort, noch immer in lässiger Weise. Seine Zuhörerinnen vergingen vor Spannung, indem sie auf ihn schauten. Sie verschlangen ihn mit ihren Augen und schlürften seine Worte. Jede Liebesgeschichte fesselt die Frauen, und – wer weiß das? – vielleicht war hier noch ein ganz besonderer Reiz im Spiele, denn jede einzelne in der Runde dachte wohl bei sich: Vielleicht erzählt er jetzt sein Erlebnis mit mir! Daß dieser Kavalier und Mann der großen Welt keine Namen nennen und verräterische, aber unumgängliche Einzelheiten verschleiern werde, des waren sie alle sicher. Und dieses Bewußtsein, diese Gewißheit stärkte das Begehren nach der eigenen Geschichte. Sie begehrten nicht allein danach. Sie erhofften es.

Aus Eitelkeit waren sie eifersüchtig auf eine Erinnerung, die ein Mann aus dem Schatz vieler und schöner Erinnerungen als die schönste seines Lebens aus dem Gedächtnisse wieder heraufbeschwor. Der alte Sultan sollte noch einmal das Taschentuch werfen. Keine hätte es aufnehmen wollen, aber jeder, der es zuflog, wäre es an das Herz gegangen.


Was davor geschah, lesen Sie hier.

Sonntag, 17. November 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (7) - Die Rache eines Weibes - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly


Die Rache eines Weibes

Fortiter!


Eines Abends gegen das Ende der Zeit Ludwig Philipps durchschritt ein junger Mann die Rue Basse-du-Rempart in Paris, die damals ihren Namen mit Recht führte, denn sie lag tiefer als der Boulevard und bildete einen stets schlecht beleuchteten finsteren Hohlweg, in den man vom Boulevard aus auf zwei Treppen hinabstieg, die einander sozusagen den Rücken zuwandten. Heutzutage besteht der Hohlweg nicht mehr, der sich ehedem von der Chaussee d'Antin bis zur Rue Cau- martin erstreckte, wo er die Höhe der Hauptstraße wieder gewann. Dieser Stadtgraben, wie man ihn hätte nennen können, in den man sich kaum bei Tage wagte, war nachts eine ganz üble Gegend. Im Dunkeln herrscht der Teufel. Er hatte dort eine seiner Standesherrschaften.
Ungefähr in der Mitte des Hohlweges, der auf der einen Seite von dem hoch sich hinziehenden Boulevard und auf der anderen von großen stummen Häusern mit verschlossenen Einfahrtstoren und etlichen Trödelläden umsäumt wurde, mündete ein enger ungedeckter Durchgang, wo der Wind, wenn er nur ein bißchen wehte, wie auf einer Flöte pfiff. Dieses Quergäßchen führte an einer Mauer und einigen Neubauten entlang zur Rue Neuve-des-Mathurins.
Der besagte, übrigens gewählt angezogene junge Mann, der den Hohlweg betrat, wandelte in diesem Augenblick selbstverständlich nicht auf dem Weg der Tugend. Er betrat ihn, weil er einem weiblichen Wesen nachging, das ohne Zaudern und ohne Verlegenheit vor ihm im verdächtigen Dunkel der Gasse verschwunden war.
Er war ein vornehmer junger Lebemann, ein gant jaune, wie man damals solche Leute nannte. Er hatte im Café de Paris umständlich zu Abend gegessen, sich sodann bei Tortoni (jetzt nicht mehr vorhanden) an das Geländer gesetzt und dort lässig die Weiber betrachtet, die den Boulevard hingingen. Eine nun war mehrere Male vorübergekommen, und ungeachtet dieses Umstandes und trotz der auffälligen Kleidung dieser Frau und ihrem gespreizten Gang, der sie hinlänglich kennzeichnete, und obgleich der junge Mann, der sich Robert von Tressignies nannte, schrecklich verlebt war und überdies gerade von einer Reise im Osten heimgekehrt war, wo er das Tierchen Weib in allen Rassen und Abarten reichlich kennengelernt hatte, war er der abendlichen Spaziergängerin doch beim fünften Vorbeigange gefolgt, wie ein Hund einer läufigen Hündin. Er verspottete sich selber mit diesem Vergleich, denn er besaß die Fähigkeit, sich zu beobachten und sein eigenes Tun und Lassen zu beurteilen, ohne daß seine Gedanken, so häufig sie mit seinen Taten nicht übereinstimmten, diese gehemmt hätten. Andererseits trübten seine Handlungen durchaus nicht seine Urteilskraft. Ein gräßlicher Doppelzustand!
Tressignies war über die Dreißig. Seine erste Jugend war in jener Oberflächlichkeit dahingegangen, die den Mann zum verliebten Affen, den Weibern gegenüber wenig wählerisch, machen. Darüber war er hinaus. Allmählich war er ein kühler und vielerfahrener Wüstling geworden, ein stark vergeistigter Genußmensch, der genug Betrachtungen über seine sinnlichen Schwächen angestellt hatte, um nicht mehr der Narr seiner Gelüste zu sein, aber auch weder Angst noch Abscheu vor irgendwelcher Empfindung verspürte. Eben hatte er den leisen Eindruck gehabt, etwas noch nicht Erlebtem nahe zu sein. Neugierig hatte er seinen Platz verlassen, gewillt, schließlich auch nur einem sehr alltäglichen Abenteuer nachzulaufen. In der Tat war das Frauenzimmer, das vor ihm herstolzierte, nichts weiter als eine Dirne der niedrigsten Klasse, aber sie war von so sichtlicher Schönheit, daß man sich wundern mußte, daß sie ihr nicht geholfen hatte, ein paar Sprossen höher zu klettern, daß sie keinen Verehrer gefunden, der sie dem Pfuhl der Straße enthoben hatte. Denn wo der liebe Gott in Paris ein hübsches Weib hinstellt, da setzt der Teufel rasch einen Narren dicht daneben, der es aushält.
Tressignies hatte aber noch einen besonderen Grund, daß er dem Frauenzimmer folgte. Es war nicht bloß die gebieterische Schönheit, die anderen Parisern vielleicht entging, weil sie nichts von wahrhaftiger Schönheit verstehen und ihr demokratisch gewordener Schönheitssinn jedweder Vornehmheit entbehrt. Diese weibliche Gestalt hatte eine Erinnerung in ihm erweckt. Sie war ihm wie jener Spottvogel über den Weg gehüpft, der so tut, als sei er eine Nachtigall, wie Byron wehmütig einmal in seinem Tagebuch sagt. Sie erinnerte ihn an eine andere Frau, die ihm anderswo einmal begegnet war. Es war sicher, ganz sicher, daß nur eine Ähnlichkeit vorlag, aber die eine glich der anderen zum Verwechseln, wenn sie auch nie in die Lage kommen konnten, miteinander verwechselt zu werden. Übrigens reizte ihn diese Ähnlichkeit mehr, als daß sie ihn verwunderte, denn er war ein viel zu erfahrener Beobachter, um nicht zu wissen, daß sich das menschliche Antlitz, dessen Formen sich in den Grenzen fester unbeugsamer mathematischer Gesetze bewegen, in einigen wenigen Grundarten immer wiederholt. Die Schönheit ist einheitlich; die Häßlichkeit vielgestaltig.
Aber selbst deren Mannigfachheit ist beschränkt. Unendlich ist nur der Ausdruck; denn dieser ist eine Offenbarung der Seele, die sich in den regelmäßigen wie unregelmäßigen, in den klaren wie in den wirren Zügen der Menschengesichter spiegelt. An derlei dachte Tressignies flüchtig, als er dieser Frau nachging, die den Schwall des Boulevard durchschnitt wie eine Sense, stolzer noch als die Königin von Saba des Tintoretto, in ihrem goldgelben Atlaskleid, dessen Falten beim Gehen raschelten und herausfordernd aufleuchteten. Umgetan hatte sie einen prächtigen türkischen Schal mit breiten weißen, scharlachroten und goldgelben Streifen; und von ihrem weißen protzigen Hut wehte bis auf die Schulter herab eine große rote Feder, eine »Trauerweide«, wie die damalige Mode sie nannte. An dieser Frau drückte diese Feder indessen alles andere denn Trübsal aus. Tressignies hatte erwartet, daß sie mit all ihrem Kokottenprunk in die hellerleuchtete Chaussee d'Antin einschwenken werde. Zu seinem Erstaunen betrat sie aber die Rue Basse-du-Rempart, den damaligen Schandfleck des Boulevards. Nicht so unerschrocken wie die Voranschreitende, zögerte der elegante junge Mann, aber nur kurz, ihr in seinen Lackstiefeln »dahinein« zu folgen.
Ein paar Augenblicke blieb das grelle Goldkleid im Dunkel des finsteren Loches verschwunden, aber alsbald, an der einzigen Straßenlaterne, der ersten lichten Stelle der Gasse, flackerte es wieder auf. Tressignies beeilte sich, die vor ihm Schreitende einzuholen. Das kostete wenig Mühe, denn sie ging langsamer, in Gewißheit, daß er ihr nachkäme. Als er nun ihr zur Seite war, wandte sie ihm ihr Antlitz zu und sah ihn an, scharf und dreist, wie Frauenzimmer ihrer Art dies zu tun pflegen. Er war tatsächlich wie geblendet von der Formenschönheit dieses Gesichts, das trotz der stark aufgetragenen roten Schminke im kärglichen fahlen Laternenlicht den warmen goldbraunen Ton der Haut darunter recht gut wahrnehmen ließ.
»Sie sind Spanierin?« fragte Tressignies, der in ihr eine hervorragende Vertreterin ihrer Rasse erkannte.
»Si!« gab sie zur Antwort. Spanierin sein, war zu jenen Zeiten (um 1825) etwas Besonderes. Das war gangbare Münze. Die Romane von damals, das Theater der Clara Gazul (von Prosper Mérimée), die Dichtungen Alfreds von Musset, der Tanz von Mariano Camprubi und Dolores Serral hatten die pfirsichfarbenen Frauen mit den Granatwangen in Mode gebracht. Nicht alle, die Spanierin zu sein vorgaben, waren welche. Diese hielt offenbar auf ihr Spaniertum nicht mehr als auf ihren sonstigen Staat. Ohne Übergang fügte sie dem einen spanischen Wort auf französisch hinzu: »Kommst du mit?« Sie duzte also jedermann wie die gemeinste Dirne aus der Rue de Poulies. Der Ton, die bereits heisere Stimme, die verfrühte Vertraulichkeit, dies göttliche Du – der Himmel im Munde einer geliebten Frau, aber üble Unverschämtheit in der Rede eines Weibes, der man nur der Erstbeste ist – hätte genügt, um Tressignies mit Ekel zu erfüllen und von dannen zu treiben, aber der Satan hielt ihn gefangen. Seine Abenteuerlust, im Verein mit grober Sinnlichkeit, beide geweckt beim ersten Anblick dieser Dirne, die ihn mehr reizte als bloß ein prächtiger, in Atlas schillernder Leib, hätten ihn in diesem Augenblick zu wer weiß was Tollem verleitet.
»Beim Teufel, ja!« sagte er. »Natürlich komme ich mit!« Und in Gedanken setzte er hinzu: Wie kann sie noch fragen? Ich werde mich morgen tüchtig abduschen.
Sie kamen an das Ende des Durchganges, wo man zur Rue-des-Mathurins gelangte. In diese gingen sie. Zwischen hohen Haufen von Ziegelsteinen und im Entstehen begriffenen Gebäuden türmte sich ein freistehender einzelner Bau. Offenbar hatte dieses schmale häßliche verfallene und trübselige Haus schon manche Sünde und manches Verbrechen in seinen grauen mürrischen Mauern beherbergt; und wohl war es nur erhalten geblieben, um ihrer noch mehr in sich zu bergen. Kaum hob es sich vom schwarzen Himmel ab. Es war ein blindes Haus, wenn man erleuchtete Fenster als die Augen eines Gebäudes ansieht. Nur eine kleine Laterne an einer langen Stange lauerte weit vorgereckt aus der Finsternis hervor, wie um die Vorübergehenden anzukrallen.
Dieses gräßliche Haus hatte die klassische halboffene Tür der üblen Orte. Drin führte ein kümmerlicher Gang zu einer Treppe, die ganz hinten begann. Man erkannte von weitem die ersten Stufen im kärglichen trüben Licht.
Das Frauenzimmer betrat den engen Gang, den es mit den üppigen Schultern und den bauschigen Falten des Rockes beinahe ausfüllte, und mit leichten, diesen Aufstieg gewöhnten Füßen erklomm es rasch die Schneckentreppe. Der Vergleich in diesem Worte paßte hier um so besser, weil die Stufen klebrig waren wie eine Schnecke. Auffällig war es, daß der abscheuliche Treppengang heller ward, je höher man kam. Das war nicht mehr der matte Schein der stinkenden Ölfunzel im Gang des ersten Geschosses, sondern ein Licht, das immer voller wurde und im zweiten Stock geradezu eine Lichtflut spendete. Zwei kerzentragende Wandleuchter aus Erz waren der prunkende Quell der verschwenderischen Strahlen vor einer Tür von gewöhnlichem Aussehen, an der eine jener Karten befestigt war, wie sie die Dirnen bei sich führen.
Überrascht von dieser Herrlichkeit, die im Widerspruch mit dem ganzen Hause stand, denn die Laternenträger verrieten eine gute Künstlerhand, achtete Tresignies mehr darauf als auf die Karte mit dem Namen der Frau, den er zu wissen nicht nötig hatte, denn er begleitete sie ja. Während er die Dinge betrachtete und das Frauenzimmer die so sonderbar geschmückte und so reichlich beleuchtete Tür aufschloß, fielen ihm die »Überraschungen« der Kleinen Häuser in den Zeiten Ludwigs des Fünfzehnten ein. Diese Person, dachte er bei sich, hat vermutlich etwelche Romane oder Denkwürdigkeiten aus jener Zeit gelesen und darnach den Einfall bekommen, eine hübsche Wohnung voll wollüstiger Romantik an einem Orte einzurichten, wo man dergleichen niemals vermutet. Aber als sich die Tür öffnete, sah er sich zu seiner erneuten Überraschung getäuscht.
Es war tatsächlich nur die gewöhnliche unordentliche Behausung einer Kokotte. Auf allen Möbeln lagen Kleidungsstücke herum, und aus dem Alkoven leuchtete ein Riesenbett, das Manövergelände, mit schamlosen Spiegeln im Hintergrund und oben an der Decke. Man sah, wo man sich befand. Auf dem Kaminsims standen kleine Flaschen, in der Eile des Weggangs zum abendlichen Raubzug unverstöpselt gelassen, und durchdufteten die schwüle Luft des Raumes, in dem der Rest männlicher Standhaftigkeit nach drei Atemzügen verfliegen mußte. Zu beiden Seiten des Kamins brannten Kerzen in Armleuchtern nämlichen Stils wie die draußen vor der Tür. Überall lagen Tierfelle als Teppiche über dem Teppich. Es war für alles gesorgt. Endlich konnte man durch eine offene Tür, durch Vorhänge hindurch, in ein geheimnisvolles Ankleidezimmer blicken, in das Allerheiligste dieser Venuspriesterin.
Alle diese Einzelheiten nahm Tressignies erst später wahr. Zunächst sah er nur die Dirne, zu der er mitgekommen war. Da er wußte, bei wem er sich befand, machte er keine Umstände. Er zog sie ohne weiteres zu sich auf das Sofa und nahm sie zwischen die Knie. Sie hatte Hut und Schal abgelegt und auf einen Sessel geworfen. Beide Hände um ihre Taille gekrallt, betrachtete er sie von oben bis unten, wie ein Trinker, der das Glas gegen das Licht, hält, ehe er es an seine Lippen setzt.
Der Eindruck, den sie ihm auf dem Boulevard gemacht hatte, war keine Täuschung gewesen. Sie war so recht ein Leckerbissen für einen verlebten Lüstling und groben Weiberhengst. Auch die Ähnlichkeit, die ihm sofort im flimmernden Helldunkel des Boulevards aufgefallen war, verflüchtete sich nicht im vollen ruhigen Lampenlicht. Nur besaß »Die andere«, an die sie ihn so stark gemahnte, nicht den Ausdruck des zielbewußten, fast schrecklichen Hochmuts, den der Teufel, der große Spaßmacher und Sozialist, einer Herzogin verweigert und zur Abwechselung einmal einem Weibe der Gasse verliehen hatte. Ohne Hut, mit ihrem schwarzen Haar, dem gelben Kleid, den üppigen Schultern und den noch üppigeren Hüften erinnerte sie an die Judith des Horaz Vernet, nur war ihr Wuchs venusinischer und ihre Gesichtszüge düsterer. Ein schreiender Widerspruch: Sie besaß den Körper, aber nicht den Kopf einer Dirne! Dieser Kurtisanenleib, dessen Rundungen Hände und Mund herausforderten, war mit einem Gesicht verbunden, dessen Hoffart die entflammten Sinne in Eis getaucht und Geilheit zu Respekt gewandelt hätte, wenn den hehren Linienschwung nicht schlüpfriges Kokottenlächeln entheiligte. Auf der Straße war solch schamloser Sirenengruß von ihrem roten Mund genug geflossen, aber jetzt, auf den Knien des Besuchers, war ihr Gesicht ernst und von so seltsamer Feindseligkeit, daß sie nur einen Krummsäbel in die Hand hätte zu nehmen brauchen, um Tressignies in die Rolle des Holophernes zu versetzen.
Er erkannte ihre fürstliche Schönheit. Sie ließ die Prüfung ihrer Reize stumm über sich ergehen, aber auch sie musterte ihn ihrerseits, und zwar betrachtete sie ihn nicht mit der habgierigen einseitigen Neugier ihresgleichen, das den Mann wie ein verdächtiges Geldstück abwägt; sondern offenbar dachte sie an ganz andere Dinge als an Gewinn und Genuß. Sie sah aus, als sei sie im Begriff, ein Verbrechen zu begehen. Ein glückliches Abenteuer, dachte Tressignies bei sich, der sie prüfte wie einen Gaul, ehe man ihn in Besitz nimmt. Wenn ihre Wollust nur so wild wäre wie ihr Gesicht! Er, der vielerfahrene Weiberkenner, der auf dem Marktplatz von Arianopel die schönsten Jungfrauen erhandelt hatte und sich auf den Preis eines Frauenleibes von solcher Form und Farbe verstand, warf für diesen auf zwei Stunden ein halbes Dutzend Goldstücke in eine blaue Kristallschale, die er mit der Hand gerade erreichen konnte und die vermutlich noch nie soviel Gold aufgenommen hatte. »Ich gefalle dir also!« rief sie angesichts des Geldes frech und zu allem bereit, vielleicht auch ungeduldig über die Musterung, die ihr mehr Neugierde als Begehrlichkeit zu verraten schien. Zeitvergeudung gilt Dirnen als Verlust oder Beleidigung. »Laß mich das ablegen!« fügte sie hinzu, als sei ihr das Kleid lästig, und begann die Knöpfe daran aufzuknöpfen. Dabei entwandte sie sich seinen Knien und ging in das Ankleidezimmer nebenan.
»Will sie ihr Kleid schonen?« fragte sich Tressignies. »Verfluchte Alltäglichkeit!« Eben hatte er eine unersättliche Messalina vor sich zu haben geträumt; jetzt sank er in die gemeine Wirklichkeit zurück. Er fühlte sich wieder bei der Dirne, der Pariser Dirne, die sie trotz der Göttlichkeit ihres Körpers war. Hol mich der Teufel! dachte er weiter. Romantik steckt in diesen Menschen nicht. Man muß sich bei ihnen an die Haut halten! Und er nahm sich vor, sich damit zu begnügen. Da kam sie zurück aus dem Nebengemach, gerüstet zum Tournier, in einem Anzug, der keiner ist, eine Gladiatorin der Lust. Tressignies war wie geblendet von einer Pracht, die selbst sein kennerisches Auge, der Bildhauerblick des homme à femmes, auf dem Boulevard unter den verheißungsvollen Umrissen ihrer Kleider und dem Schwung ihrer Glieder beim Gang im voraus nicht erschaut hatte. Sie war nicht ganz nackt, aber ärger denn dies, schamloser, als sei sie einfach nackt gekommen. Empörend schamlos. Bloße Nacktheit ist keusch. Es ist die tapfere Nacktheit. Diese über alle Grenzen schamlose tiefverdorbene Dirne hingegen, die, um die Sinne der Männer heißer zu entflammen, sich am liebsten selber in Brand gesetzt hätte, wäre sie auch dabei wie eine der lebenden Fackeln Neros zugrunde gegangen, verhüllte die kühne Fleischesblöße in die vergängliche Halbnacktheit durchsichtiger dünner Schleier, Diese Mischung von Berechnung und schlechtem Geschmack in ihrer frech herausfordernden Pracht erinnerte Tressignies an eine damals bei allen Kunsthändlern im Schaufenster stehende unbeschreibliche Statuette, die auf dem Sockel den geheimnisvollen Namen »Madame Husson« trug. Hier war jene Gestalt geiler Träume zur Wirklichkeit geworden.
Völlig sicher der Erregung, die sie in diesem Aufzug zu verursachen gewohnt war, stürzte sie unbändig auf ihn los und bot seinem Mund ihren prangenden Busen dar, mit der Gebärde der Phryne, die den Heiligen in Versuchung bringt, auf dem Gemälde des Paolo Veronese. Tressignies war kein Heiliger. Heißhungrig nahm er, was sich ihm bot. Er riß die tierische Verführerin in seine Arme mit einem Feuer, dem ihrem gleich.
Wirft sie sich so in alle Arme, die sie umschließen? fragte sich Tressignies. Mochte sie noch so erfahren in ihrem Dirnenhandwerk oder in ihrer Kurtisanenkunst sein: ihre rasende tobende Glut spottete der Erklärung durch unnatürliche oder krankhafte Sinnlichkeit. Es war mehr als das. Befand sie sich noch im Anfang ihrer Hetärenlaufbahn, daß sie sich mit so viel Wollust hingab?
Es war etwas wirklich Wildes und Gieriges in ihrer Art, als ob sie bei jedweder Zärtlichkeit ihr Leben lassen oder das des Partners in sich saugen wollte. Zu jener Zeit liebten es die Pariser Dirnen, denen der nette Name »Loretten« nicht mehr genügte, den ihnen die Literatur beigelegt und den Gavarni verewigt hat, nach morgenländischer Art »Panther« genannt zu werden. Auf keine ihrer Genossinnen paßte diese Bezeichnung trefflicher als auf diese Spanierin. Sie hatte die Biegsamkeit, die Sprunghaftigkeit einer Pantherkatze; sie wand sich, kratzte und biß wie sie. Tressignies konnte nicht umhin, sich zu gestehen, daß ihm noch nie ein Weib zu eigen gewesen war, das ihm einen so ungeheuerlichen Sinnesgenuß bereitet hatte wie diese Frau, deren Wollustrausch sich ihm in der Berührung mitteilte. Und doch hatte Tressignies wahrhaft geliebt.
Es gibt – ungewiß, ob zum Ruhm oder zur Schande der menschlichen Natur – in dem, was man wohl allzu verächtlich »Liebesfreuden« nennt, ebenso tiefe Abgründe wie in der Leidenschaft. In einen solchen Abgrund fühlte sich Tressignies versinken wie in den Strudel eines wilden Stromes, in dem kein Schwimmen hilft. Er sah sich weit über den Grenzen seiner sündhaften Erinnerungen, ja über den Träumen seiner starken und verdorbenen Phantasie. Er vergaß, wer sie war und warum er hergekommen war, das Haus und die Umgebung, bei deren ersten Anblick ihm übel geworden war. Er hatte seine Seele verloren an ihren Leib. Seine sonst schwer besiegbaren Sinne waren völlig berauscht, betört.
Sie war so verschwenderisch in ihren Zärtlichkeiten, daß er in einen Zustand geriet, wo er, der Liebesleugner, der große Zweifler, dem tollen Gedanken verfiel, in dieser erkauften Frau, die doch unmöglich zu jedem so sein könne, zum mindesten eine verliebte Anwandlung erweckt zu haben, denn sonst mußte sie sich doch binnen kurzem körperlich zugrunde richten. Diesen Wahn hegte Robert von Tressignies, dem wie seinem berühmten Namensvetter Robert Lovelace (dem Helden in der »Klarissa«, dem heute vergessenen Roman von Samuel Richardson) eiskaltes Blut in den Adern rann. Ein paar Minuten lang war dieser Herrenmensch Narr genug, daran zu glauben. Aber dieser eitle Wahn, entzündet an den Flammen der Wollust, die hier so glutvoll waren wie die der wahren Leidenschaft, hatte es sehr bald mit dem Zweifel zu tun, der ihn in der Zwischenzeit von einer Liebesraserei zur anderen überfiel. Aus der Tiefe seines Ichs rief ihm eine Stimme zu: »Du bist es nicht, dem sie sich mit dir hingibt!«
Er hatte sie nämlich beobachtet, in einem Augenblick, wo diese Pantherkatze ihn am glühendsten umwand und am zärtlichsten umkoste, wie sie, in ferne Erinnerung verloren, ein Armband betrachtete, auf dem er das Bildnis eines Mannes erkannte. Ein paar spanische Worte, die Tressignies in seiner Sprachunkenntnis nicht verstand, im Gemisch mit bacchantischen Schreien, galten wohl ebenso einem Abwesenden. Daß er der Stellvertreter eines anderen war, daß er einen anderen vorstellte, daß er das bloße Werkzeug eines Truggenusses war, des Ersatzes von etwas Unerreichbarem, zu dem verzweifelte Seelen ihre Zuflucht nehmen – dieser Gedanke übermannte seinen Geist auf das heftigste und ertötete mit einem Schlage alle seine Verrücktheit.
In einem Anfall von sinnloser Eifersucht und wilder Eitelkeit, in dem der Mann nicht mehr Herr seiner selbst ist, packte er die Daliegende rasch am Arm, um das Armband genauer zu sehen, das sie so innig angeschaut hatte, in einem Augenblick, da er geglaubt, sie müsse ihm ganz und gar angehören.
»Zeig mir das Bild!« sagte er mit einer Stimme, die noch roher war als seine Hand.
Sie wußte, was das besagte, aber ohne Stolz wies sie ihn zurecht.
»Wie kann man auf eine ... eifersüchtig sein wie ich eine bin?« Sie gebrauchte nicht das Wort »Dirne«, sondern ein gröberes. Tressignies war starr. »Du willst es sehen?« fuhr sie fort. »Hier!« Ihr voller, noch vom Schweiß der rasenden Wollust nasser Arm kam ihm nahe.
Es war das Bild eines häßlichen schmächtigen Mannes mit olivenfarbener Hautfarbe und gelblich-schwarzen Augen, einer finsteren, aber nicht unvornehmen Erscheinung, offenbar ein Straßenräuber oder ein Grande Spaniens. Nein, zweifellos ein Grande, denn er trug die Ordenskette des Goldnen Vlieses um den Hals.
»Wo hast du dir das angeeignet?« fragte Tressignies, in sicherer Erwartung, daß sie ihm jetzt einen Roman auftischen werde, die übliche Verführungsgeschichte, die bekannte Historie vom ersten, die sie alle erzählen.
»Angeeignet?« wiederholte sie empört. »Por Dios! Von ihm selbst geschenkt bekommen.«
»Von ihm? Wohl deinem Geliebten?« meinte Tressignies. »Dann hast du ihn betrogen. Er hat dich zum Teufel gejagt, und so bist du abgerutscht bis hierher?«
»Es ist nicht mein Geliebter«, sagte sie kühl, gegen Kränkung und Verdacht unempfindlich wie Stahl.
»Dann war er es!« sagte Tressignies. »Aber du liebst ihn noch immer. Vorhin an deinen Augen habe ich es gesehen...«
Sie lachte höhnisch auf.
»Dann verstehst du also nichts weder von Liebe noch von Haß!« rief sie. »Diesen Mann lieben? Ich verabscheue ihn. Es ist mein Gatte!«
»Dein Gatte?«
»Ja, mein Gatte!« wiederholte sie. »Einer der größten Herren Spaniens. Dreifacher Herzog, vierfacher Marquis, fünffacher Graf, Grande verschiedener Grade, Ritter vom Goldnen Vlies! Und ich bin die Herzogin Arcos von Sierra-Leone.«

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Samstag, 2. November 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (Kap. 2) von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly

Das Fenster mit den roten Vorhängen (1874)

Es ist schrecklich lange her, als ich mich eines Tages zur Jagd auf Wasserwild nach den Sümpfen des Westens aufmachte. In der Gegend, nach der ich wollte, gab es damals noch keine Eisenbahn. Ich setzte mich also in die Post, die am Wegkreuz bei dem Schloß Rueil vorbeifuhr.
Ein einziger Reisender saß im Abteil erster Klasse, und zwar ein in jeder Hinsicht ganz besonderer Mensch. Ich kannte ihn, wie man sich so kennt. Er war mir in der Gesellschaft öfters begegnet. Sagen wir, er hieß Graf von Brassard.
Es war nachmittags gegen fünf Uhr. Die Sonne warf nur noch matte Strahlen auf den Staub der Landstraße, hinter deren Pappelreihen sich die weiten Wiesen dehnten. Unsere vier starkkruppigen Gäule trabten flott vorwärts, vom Peitschenknall des Postillions getrieben.
Brassard, der, nebenbei bemerkt, in England erzogen war, stand damals längst auf der Höhe des Lebens, aber er gehörte zu jener Sorte von Menschen, die, schon dem Tode verfallen, sich dies nicht anmerken lassen und bis zum letzten Augenblick behaupten, sie dächten nicht an das Sterben. Im gewöhnlichen Leben und auch in der Literatur spottet man über Leute, die jung zu sein vermeinen, obgleich sie über die glückliche Zeit der Torheiten beträchtlich hinaus sind. Der Spott ist am Platze, wenn solches Jung-bleiben-Wollen in lächerlicher Form zutage tritt. Zuweilen jedoch wirkt dieses Nichtlassen von der Jugend geradezu großartig. Stolze Naturen lassen sich nicht werfen. Im Grunde freilich ist auch das sinnlos, denn es ist vergebliches Bemühen. Aber es ist schön, wie so vieles Sinnlose. Wer so dem Alter trotzt, in dem lebt der nämliche Heldengeist wie in der Alten Garde bei Waterloo, die eher starb, als daß sie sich ergab. Und für ein Soldatenherz ist das Nie-und-nimmer-sich-Ergeben doch die Losung in allen Dingen des Lebens.
Der sich nie ergebende Brassard – er lebt übrigens noch; wie er lebt, das geht aus dem Folgenden hervor – war damals, als ich zu ihm in die Postkutsche stieg, im Lästermunde der Welt ein sogenannter »alter Schwerenöter«. Wem hingegen Zahlen und Urkunden über das Alter eines Menschen nicht viel bedeuten, weil jedermann just so alt ist, wie er aussieht, dem war und blieb der Graf einfach »ein Schwerenöter«, oder besser ausgedrückt – denn diese Bezeichnung klingt zu kleinbürgerlich – ein Prachtmensch. Entschieden war er das zum Beispiel in den Augen der Marquise von V***, einer Kennerin in punkto Mannestugend, einer echten Dalila, die so manchen Simson unter ihrer Schere gehabt hatte. Alte Schwerenöter sind zumeist lüsterne, magere, dürftige, gezierte Erscheinungen. So darf man sich aber den Grafen von Brassard ja nicht vorstellen. Da bekäme man ein grundfalsches Bild. Leib, Geist, Haltung, Bewegung, alles an ihm war stattlich, verschwenderisch, vornehm, herrenhaft-gelassen. Mit einem Wort, er war ein echter Dandy wie Georg Brummell in seiner besten Zeit. Wäre er weniger ein Dandy gewesen, so hätte er es zweifellos bis zum Marschall von Frankreich gebracht. Er war einer der glänzendsten Offiziere des ersten Kaiserreichs. Regimentskameraden von ihm haben mir des öfteren seine Tapferkeit gerühmt. Sie sei so groß gewesen, wie die von Murat und Marmont zusammengenommen. Dazu hatte er viel Witz und viel Kaltblütigkeit. Somit hätte er als Soldat rasch sehr hoch kommen können, wenn er nicht eben so sehr Dandy gewesen wäre. Einem Offizier müssen Gehorsam, Pünktlichkeit und allerlei andere Diensttugenden in Fleisch und Blut übergegangen sein. Das ist aber mit dem Dandytum unvereinbar. Man kann nicht Berufssoldat und zugleich Dandy sein. Offiziere wie Brassard sind in einem fort nahe daran, um die Ecke zu gehen. Und Brassard wäre während seiner Soldatenzeit zwanzigmal um die Ecke gegangen, wenn er nicht wie alle Lebenskünstler Glück gehabt hätte. Mazarin hätte ihn brauchen können; seine Nichten auch, freilich aus anderen Gründen. Brassard war wirklich ein Prachtmensch.

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Mittwoch, 13. November 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (5) - Don Juans schönste Liebschaft - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly


Don Juans schönste Liebschaft
Unschuld ist des Teufels Leckerbissen

4


Graf Ravila begann:
»Ich habe mir von einem großen Kenner des Lebens sagen lassen, unsere allerstärkste Liebe sei nicht die erste, nicht die letzte, wie so viele glauben, sondern die zweite. Nun, in Dingen der Liebe ist alles wahr und alles falsch, und überdies stimmt es nicht bei mir. Was ich Ihnen heute abend erzählen will, meine Damen, liegt zurück in der schönsten Zeit meiner Jugend. Ich war schon nicht mehr ein sogenannter junger Mann, aber doch noch als Mann jung, wenn ich auch – wie ein älter Onkel von mir, ein Malteser, diese Zeit des Lebens nennt – meine ›Kreuzzüge‹ hinter mir hatte. Ich stand in der Blüte meiner Kraft und war der Herzensfreund einer Dame, die Sie alle kennen und die Sie alle bewundert haben ...«
Bei diesen Worten, die der alte Fuchs so hinwarf, tauschten seine lauschenden Zuhörerinnen einander Blicke aus, alle zu gleicher Zeit, jede jeder anderen. Es war ein Schauspiel, nicht in Worte faßbar.
Ravila fuhr fort:
»Diese Dame war das vornehmste Geschöpf, das es geben mag, im vollen Sinne des Wortes. Sie war jung, reich, hochgeboren, schön, geistreich, kunstsinnig und dabei so natürlich, wie ein Weltkind es eben sein kann. Sie hegte damals hienieden nur einen einzigen Ehrgeiz: mir zu gefallen, mir zu gehören, mir die zärtlichste Geliebte und die beste Freundin zu sein.
Vermutlich war ich nicht der erste Mann, den sie liebte. Sie hatte schon einmal geliebt. Nicht ihren Gatten. Aber diese Neigung war so tugendsam, überirdisch und himmlisch gewesen, daß sie ihr wohl einen Vorgeschmack gewährt, nicht aber die Liebe in ihrer Fülle geschenkt hatte. Die Kräfte ihres Herzens waren dabei geschult worden für die große Leidenschaft, die bald darauf kommen sollte. Es war ein Liebesversuch gewesen, vielleicht zu vergleichen mit der ›leeren Messe‹, wie angehende Priester sie lesen, um sich zu üben, damit sie dann keine Fehler machen bei der wirklichen, der heiligen Messe. Als ich in das Leben dieser Frau eintrat, befand sie sich noch auf der Vorstufe. Ich sollte ihre heilige Messe werden, und ich habe sie zelebriert mit Prunk und Pracht wie ein hoher Kirchenfürst...«
Bei diesem Vergleich weitete sich molliges, leises Lächeln – vergänglich, aber köstlich – um die zwölf schweigenden Lippenpaare wie runde Wellenkreise auf dem stillen Spiegel eines Sees, wenn ein paar Tropfen vom Himmel fallen.
Der Graf erzählte indessen weiter:
»Sie war wirklich ein Wesen von eigener Art. Selten habe ich so wahre Güte, so warmes Mitleid, so erhabene Gefühle gesehen, selbst noch in der Leidenschaft, bei der, wie Sie wissen, die Menschen meist keine Engel sind. Und nie habe ich weniger Unnatur gefunden, weniger Ziererei und Zimperlichkeit, zwei Dinge, die manches Frauenherz so verwirren, daß es wie ein Garnknäuel ausschaut, mit dem Katzenpfoten gespielt haben... Katzenhaft war überhaupt nichts an ihr. Sie war das, was die vertrackten Romanschreiber, die uns mit ihrem Zunftgeschwätz die Begriffe verdrehen, eine ›primitive Natur mit einem Hauch von Kultur‹ nennen. In der Tat, sie hatte davon nur den schimmernden Schmelz, keine einzige aber jener kleinen Verdorbenheiten, die manchem reizvoller dünken als die reine Schönheit...«
»War sie brünett?« unterbrach die Herzogin unvermittelt und ungeduldig die Erzählung, die sich ihr zu sehr vom Kernpunkt zu entfernen schien.
»Ah, ich bin nicht deutlich genug«, sagte Ravila verschmitzt. »Jawohl, sie war braun im Haar. Es war schwarzbraun, mit dem Glanz glatten Ebenholzes, just der rechte Schmuck eines feingeformten Frauenkopfes. Dem Teint nach war sie aber eine Blondine. Und der Teint, nicht die Haarfarbe ist es, was entscheidet, ob eine Frau brünett oder Blondine ist...«
Hier sprach ein Kenner, der mit den Frauen mehr angestellt hatte als bloß Bildnisstudien.
»... Sie war eine Blondine mit schwarzem Haar ...« Durch alle Blondinen der Tafelrunde, die blondes Haar hatten, zitterte unmerkbar eine Bewegung. Es war klar, daß die Geschichte für sie nun weniger Reiz hatte.
Sie ging weiter:
»Sie hatte das Haar der Nacht, aber im Antlitz die Morgenröte. Aus ihrem Gesicht leuchtete eine seltene strahlende Frische, die dem Nachtleben von Paris getrotzt hatte, in dessen Lichtermeer so viele Rosen verblassen. Es war ihre Heimat schon jahrelang, aber ihre Wangen und ihre Lippen bewahrten noch immer die volle Farbe, Ihr Glanz stand im Einklang mit dem des Rubins auf der Mitte des Stirnreifens, den sie mit Vorliebe trug. Damals war die Haartracht der Belle Ferronière Mode. Und mit dem funkelnden Rubin wetteiferten ihre beiden glutvollen Augen. Ein Dreigestirn!
Schlank, aber kräftig, ja junonisch, wäre sie die passende Frau für einen Kürassier-Obersten gewesen. Ihr Mann war Eskadronchef nur in einem Husaren-Regiment. Eine große Dame mit der Gesundheit einer Bauersfrau, die mit der Haut die Sonne trinkt. Voll Sonnenglut, so war sie, und zwar im Blut wie in ihrer Seele, überall und immer bereit... Aber hier gerade beginnt das Merkwürdige! Dieses kraftvolle und ursprüngliche Geschöpf, diese Purpurnatur, war – glauben Sie es? – eine Stümperin der Liebe...«
Es senkten sich etliche Augen; aber sie öffneten sich rasch wieder, um spöttisch zu leuchten.
»Ja, eine Stümperin im Lieben wie im Leben«, wiederholte Ravila, ohne Bestimmtes hinzuzufügen. »Der Mann, den sie liebte, mußte ihr immerfort zwei Dinge predigen, die sie, nebenbei bemerkt, niemals begriffen hat: sich zu verschließen vor der Welt, der ewig lauernden und unerbittlichen, und insgeheim die große Kunst der Liebe zu betätigen, ohne die jede Leidenschaft zum Tode verurteilt ist. Die Art ihrer Liebe entbehrte der Meisterschaft. Sie war das Gegenstück zu so vielen Frauen, die nichts als diese besitzen. Ja, um die Lehren des Fürstenspiegels zu verstehen und anzuwenden, muß man schon ein Borgia sein. Borgia war vor Machiavell da. Jener war der Meister und dieser der Darsteller.
Eine Borgia war meine Freundin nicht, sondern eine ehrliche, sinnliche, unerfahrene Frau trotz ihrer überwältigenden Schönheit. Ich habe irgendwo einmal ein Bild gesehen, auf dem ein kleines Mädchen am Quell den Durst löschen will, aber das geschöpfte Wasser rinnt ihm durch die Finger, weil es nicht versteht, sie fest zusammenzupressen. Verwirrt steht es da...
Diese Mischung von Wollust und Unschuld hatte gewiß ihren Reiz. Aber bei aller Fähigkeit, Liebe zu geben und sogar Glück zu spenden, besaß sie doch nicht die Kraft, sich in ihrer Hingabe dem Gegenspieler anzupassen. Leider war ich damals noch nicht beschaulich genug, um mich an der Schönheit an sich zu erfreuen. Und so kam es, daß sie an gewissen Tagen Anlaß bekam, ruhelos, eifersüchtig und heftig zu werden. Dies ist man ja, wenn man liebt. Und sie liebte wahrhaftig! Aber Eifersucht, Unruhe, Heftigkeit, alles das verlor sich in der unerschöpflichen Güte ihres Herzens beim ersten Leid, das sie einem zufügen wollte oder zugefügt zu haben glaubte. Ebenso ungeschickt im Grausam- wie im Zärtlichsein, war sie eine Löwin unbekannter Art, die sich einbildet, Tatzen zu haben, aber wenn sie damit zuschlägt, wundervolle Samtpatschen zeigt...«
»Was soll das alles?« fragte die Gräfin von Chiffrevas ihre Nachbarin. »Das kann doch wirklich nicht Don Juans schönste Liebschaft gewesen sein?«
Alle die Liebeskünstlerinnen um ihn zweifelten an der Möglichkeit solcher Einfalt.
Ravila entwickelte sein Erlebnis weiter:
»Wir lebten also in einer Intimität, die hin und wieder eines Unwetters nicht entbehrte, aber Zerwürfnisse nicht kannte. Unser Verhältnis war in der Spießbürgerstadt, Paris genannt, ein öffentliches Geheimnis. Die Marquise – sie war nämlich Marquise ...«
Es saßen ihrer drei Marquisen am Tisch, und alle drei waren brünett. Keine zuckte mit der Wimper. Sie wußten alle drei, daß er nicht von ihnen sprach. Von Samt war an ihnen nichts zu spüren, höchstens an der Oberlippe der einen von den dreien, einer lüstern aufgeworfenen Oberlippe, die in diesem Augenblick reichliche Geringschätzigkeit zum Ausdruck brachte.
»... ja, eine dreifache Marquise«, fuhr Ravila fort, der nach und nach in Schwung gekommen war, »wie man Pascha mit drei Roßschweifen sein kann. Die Marquise war eine von denen, die nichts zu verbergen verstehen; die es nicht können, auch wenn sie es wollen. Sogar ihre Tochter, damals ein Kind von dreizehn Jahren, merkte trotz ihrer Unschuld nur zu gut, welche Gefühle die Mutter für mich hegte. Ich weiß nicht, welcher Dichter die Frage getan hat, was die Töchter der Frauen, die wir lieben, wohl von uns denken. Eine schwere Frage, die ich mir oft vorgelegt habe, wenn ich die großen, dunklen, drohenden Späheraugen des kleinen Mädchens auf mir ruhen sah.
Dieses scheue Kind verließ den Salon zumeist, sooft ich eintrat; wenn es aber darin verbleiben mußte, hielt es sich so weit wie möglich von mir fern. Offenbar empfand es eine geradezu leidenschaftliche Abneigung vor mir, die zu verbergen ihm bei aller Anstrengung nicht gelang. Die Marquise, die doch wahrlich keine scharfe Beobachterin war, mahnte mich immer wieder: ›Lieber Freund, wir müssen uns in acht nehmen. Ich glaube, die Kleine ist eifersüchtig auf dich.‹ Ich nahm mich viel mehr in acht als sie. Und wäre das kleine Ding ein leibhaftes Teufelchen gewesen, ich hätte mir nicht in meine Karten blicken lassen. Bei der Mutter war das leicht möglich. Ihr rosiges Gesicht war wie ein Spiegel, aus dem man alles ersehen konnte. Jeder Hauch blieb darauf haften.
Aus dem unverkennbaren Haß der Kleinen mußte ich schließen, daß sie das Geheimnis ihrer Mutter aus einer verräterischen Erregung, aus einem unbewußt allzu zärtlichen Blick erfahren hatte. Es war ein unscheinbares Geschöpf, kein bißchen das Abbild der Prachtformen, der es entstammte, geradezu häßlich, was selbst die Mutter eingestand, so zärtlich sie ihr Kind liebte. Neben einem Diamanten ein kleiner Rauchtopas. Mir fällt der treffende Vergleich nicht ein. Der Entwurf zu einer Bronze. Eine kleine Hexe mit großen Augen, die dann ...« Er hielt inne, als hätte er schon zuviel gesagt; wie eine Kerzenflamme, die mit einem Male kleiner wird.

Die Anteilnahme an seiner Geschichte war wieder allgemein geworden. Auf allen Gesichtern lag abermals Spannung und Neugier. Und durch die schönen Zähne der Gräfin zischelte ein »Endlich!« als Frohlocken der erlösten Ungeduld.