Die
2. Poetikvorlesung in Heidelberg hatte nach dem geheimnisvollen Titel
"Die Bild-Flamme" der ersten Vorlesung den nicht minder
bedeutungsvollen Titel "Der Stimmen-Brunnen". Gemeint sind
die Phänomene im traumvermittelten Schreibprozess, die tatsächlich
in Gestalt von Stimmen auftreten, einem sagen, was zu tun ist, oder
eine Richtung zeigen.
Gleich
nach der 1. Poetikvorlesung erlebte Patrick Roth zwei Tage später
einen bezeichnenden Traum, den der Dichter sofort für seine
Intention verwenden konnte. Es ging im Traum um ein Buch über das
Leben Jesu, das kindlich-naiv dasselbe darstellt, was ihm ganz
besonders schützenswert erschien. Das Buch begann sich aufzulösen
und konnte nur durch das Verpacken, Konservieren, Schützen mit einer
DIN-Versandtasche gerettet werden. Der kindlich-naive Glaube musste
geschützt werden, vor jenen dunklen Kräften, die in Vorlesung 1
eben klar dem Abgründig-Hässlichen und Gewalttätigen zugeordnet
wurden. Denn das Kindliche - das ist tragendes Teil der Poetik - wird
als Quelle der Träume und der Zukunft als bewahrenswertes Gut
betrachtet.
Patrick
Roth zog das 8. Buch der confessiones von Augustinius mit in
seine Überlegungen ein, denn hier wird die Psyche beleuchtet. Worauf
es im Dialog mit der anderen Seite schließlich ankommt ist das
Signal aus dem anderen Bereich. Gerade beim Schreiben muss man dem
Kindlichen, Inferioren, Unbedeutenden Ausdruck verleihen können,
jeder noch so kleine Einfall muss verfolgt werden. Zum Beispiel die
Stimme eines Kindes in dem Traum, der der Vorlesung ihren Namen gab.
Es sagte "Nimm es [das Buch], lies es!" Der
Hinweischarakter, seine Bedeutung ist mehr als evident. Auch die
Position, der Zeitpunkt sind aufschlussreich. Am meisten Aufschluss
jedoch gibt das "dead end", dort, wo kein klarer Sinn mehr
herrscht, im Unbewussten. Hier liegt der Weg, wo eigentlich keiner zu
sein scheint. Wo "das Ich sich nicht geschmeidig bewegen kann",
das Unbewusste sich breit macht ... Hier kann alles Eigene, das man
sucht oder bei anderen glaubt verwirklicht zu sehen, aufsteigen. Es
ist nichts anderes als das Vorbewusste, das uns Kontakt zu beiden
Welten gibt. Hier kann das Ich "rohe Inhalte, Aufsteigendes,
Gerufenes" verarbeiten, auch wenn es nur im "Dreck des
eigenen Bergwerkes" landet. Was wir eigentlich nicht öffentlich
wissen wollen, kann hier abgeholt werden - „der Verrat am Eigenen,
Verdrängten" ist die Conditio sine qua non für das Schreiben.
Mit einem Ausflug über John Fords Verfilmung des Lebens von Abraham
Lincoln, mit Henry Fonda in der Rolle von Lincoln wird die Poetik
erneut verifiziert, der Sessel Lincolns im Museum in
Michigan/Illinois spielt hier eine Rolle hin zur Ermordung des
US-Präsidenten damals und John F. Kennedys später, der Attentäter
Lincolns nicht im Film enthalten, eine bewusste Leerstelle,
herausgeschnittener Mr. Spooth ... nicht bearbeitet ... und später
ein Treffen mit Henry Fonda als altem Mann, mit Jeans und
Westernshirt, lakonischen Bemerkungen.
Wie
hält der Schreibwillige alles fest? Patrick Roth gab uns einen
Einblick in eine wirklich ungewöhnliche Schreibtechnik. Seine
Gedanken entwickeln sich am Besten – scheinbar voll amerikanisiert
- beim Autofahren und Spritverbrauchen des Nachts. Immer wieder hält
er an, macht eine Pause und schreibt alles nieder, was ihm in den
Sinn kommt. Die gewonnenen Absätze muss er selbst laut hören, um
sie verbessern oder akzeptieren zu können, genauso, wie er einlädt,
sein ganzes Buch zu hören, und sei es drei Tage oder länger ...
Und
ein wunderschönes Bild zum Schluss gab uns ein Zeichen, den Weg zum
tiefsten Ort des Sinns, der Schatzkammer der Bedeutung zu suchen, wie
der Junge in dem Film „Stalker“ von Andrej Tarkowskij, der sich
über den Rand beugt, um im Wasser den tiefsten Stern zu erkennen,
oder eben wie im Spiegelbild des Brunnens, der in "Sunrise"
vorkommt. In diesen Momenten des Hineinblickens wird die Stimme
ankommen, die Stimme des Unbewussten wie des Erlösers. Das Angebot
ist groß und das Benützen erlaubt, denn wer dürstet, der nehme ...
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen