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Freitag, 12. April 2013

Büchners "Woyzeck" nach Robert Wilson und Tom Waits im Nationaltheater Mannheim (Besprechung)

Fotos: Hans Jörg Michel


Der Woyzeck, fast jedem Schüler aus dem gymnasialen Bereich ein Begriff, Georg Büchners unvollendetes Werk, begonnen im letzten Jahr vor seinem Tod (Büchner wurde ja nur 24 Jahre alt, er starb 1837), erschien und  wurde ebenso wie die Komödie "Leonce und Lena" erst Jahrzehnte später aufgeführt. Herausgekommen war zu Lebzeiten nur "Dantons Tod" (1835). Die erste Schriftensammlung Georg Büchners durch seinen Bruder Ludwig im Jahr 1850 nahm Woyzeck nicht auf, weil das Fragment stark verblasst war. Erst Karl Emil Franzos konnte nach chemischer Behandlung des Skripts das Stück 1879 publizieren, er stellte die Rasierszene von fünfter Stelle an den Anfang. Der Woyzeck beeinflusste die Dramen der Nachzeit in einem enormen Maß, gerade was die offene Struktur angeht.

Woyzeck hat ein uneheliches Kind mit Marie, arbeitet als Bursche eines Hauptmanns und trägt fast all sein Einkommen zur Freundin. Um noch mehr Geld zu bekommen hat er sich für medizinische Experimente bereiterklärt und wird darüber durch einseitige Erbsenkost verrückt. Ein Tambourmajor der Musikkapelle spannt Marie aus, worüber Woyzeck noch mehr verrückt und wütend wird. Er bringt seine Freundin um.


Das klassisch offene Drama wurde bei Robert Wilson und Tom Waits sowie in der Inszenierung von Georg Schmiedleitner komplett neu zu einem modernen Musical arrangiert. Die Szenenfolge, Gestaltung der Figuren gelichtet, auch verändert, was schon mit der Eingangsszene klar wird. Nicht die Laufburschenfunktion, sondern die Verwendung Woyzecks (sehr einfühlsam und überzeugend Sascha Tuxhorn) zum (Sex-)Sklaven lässt das Stück nach einem Vorspiel über die menschliche Kreatur, unter Vorführung der größten Kanaillen und niedrigsten Form der Kreatur, dem Affen, mit Büchnerscher Ironie starten. Die Ursprungsszene 3 wird zur ersten, die fünfte zur zweiten. Exemplarisch für die Erniedrigung der arbeitenden Bevölkerung zu Büchners Zeiten, auch deren Einsatz zur Befriedigung der ganz offen gelegten sadomasochistischen Gelüste des Hauptmannes (Reinhard Mahlberg mimt den verkommenen und reichlich brutalen Hauptmann hervorragend) ... "Peitsch' er langsam. Was soll ich mit den 10 Minuten anfangen, die er früher fertig ist?" Es folgt ein ausführliches Gepräch über Moral und Tugend, worin Woyzeck ironischerweise beschuldigt wird, dass er keine Moral habe.


Die Sprache der Personen zeigt mehr hessischen Akzent und Ausdruck der einfachen Weise als manche Vorlage. Wahrscheinlich auch als  Brückenfunktion zum "Hessischen Landboten", Büchners politischer Kampfschrift gegen die sozialen Missstände, derentwegen er steckbrieflich in Darmstadt gesucht wurde und weswegen er 1835 nach Straßburg floh. Der Dialekt ist die Sprache des Volkes, der Arbeiter gewesen. Sein Helfer Minnigerode wurde verhaftet, später noch der beteiligte Pfarrer Weidig. 


Das gesamte Geschehen läuft im Mannheimer Woyzeck wie auf einer Drehscheibe ab, deren Segmente in der Folge die offenen Szenen darstellen, dennoch fast zum Illusionstheater zurückkehren. Die Figuren Andres, ein Kumpel, ebenfalls Knecht, wird ein beinamputierter flippiger farbiger Freund aus der Szene (Peter Pearce), Karl, der Idiot (Thorsten Danner), scheint unverändert, und Margret, die Nachbarin (sehr aufreizend Ragna Pitoll als Lustsklavin), erscheint als Laszive aus dem Milieu. Der Tambourmajor (enthusiastisch gespielt von Michael Fuchs) eine Spur Elvis Presley, in einem expressiven Tanz verewigt. Marie (hervorragend gespielt von Dascha Trautwein) die brave Mutter, die später zur Prostituierten mutiert und den Major nicht abweisen will.

Die Songs von Waits und seiner Frau Kathleen Brennan stellt Robert Wilson kontrastierend oder erläuternd den klassischen Szenen zur Seite. So bei der Freimaurerszene, in der Woyzeck die Welt als hohl erlebt, sich betrogen fühlt. Andres, versucht ihn abzulenken, als er merkt, dass Woyzeck bereits verrückt ist. "Always keep a Diamond in your Mind" ... Maries Wiegenlied - das deutlich ihre latente Abneigung des Kindes zeigt, bis hin zu Aggressionen, kontrastiert mit "Lullaby": Sun is red; moon is cracked / Daddy's never coming back / Nothing's ever yours to keep / Close your eyes, go to sleep / If I die before you wake / Don't you cry, don't you weep. Ebenso die Szene mit dem Doktor, der skrupellose Menschenexperimentator  - "God's away on Business". Das Lied des Tambourmajors an Marie: "(...) She's my princess, my everything (...)" mündet in die erste Affärenszene der beiden, der Vorhang als Bettdecke und Samtkleid, sie einem Abenteuer nicht mehr abgeneigt. Im folgenden rhythmischen Kopulationstanz - "(... ) when a man wants everything he comes to hell (...)" sind wie im ganzen Stück der Narr und die Hure Zeuge. Marie danach entehrt, das Rot des Milieus als Farbe bevorzugend, ihre Tugend über Bord. Woyzeck unterdessen bedroht und vereinnahmt durch den Hauptmann, der ihm die Pistole an die Schläfe hält,  und den Doktor (reichlich perfide und skrupellos durch Ralf Dittrich bestens dargestellt), nur noch reines Objekt der Erniedrigung und des Versuchs, erfährt, dass Marie eine Affäre begonnen hat. Sein Leid im Schreigesang seiner Erinnerungen an die Liebe. Marie denkt über Ehebruch nach und sucht eine Legitimation - sie zitiert Bibelstellen, ob sie wohl passen könnten. Woyzecks Plan erreicht sein Ziel, er ersticht sie. Die Bluttat stark in Szene gesetzt durch Perspektivenänderung. Über allem der Song über ein Mädchen, das in den Himmel kam. Es traf auf goldene Fliegen, kehrte zurück zur Erde und stellte fest, dass die Erde nur ein Pisspott ist.


Eine sehr überzeugende Darbietung, bei der gelegentlich die Stimmen etwas zurückbleiben. Ansonsten das Stück "Woyzeck" ganz herrlich anders, expressiv, deutlich und lasziv, mit Brecht-Elementen, schwebender Musikkapelle und aufwändigem Technikeinsatz und last not least der Aura von Tom Waits Songs.

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