Alleinerziehend - sieben Kinder. Ein Fall für Streetworker Busch
Ein modernes Märchen von Siglinde Goertz
Seufzend klappte Willi Busch die Akte zu, über der er gerade gebrütet hatte. Er stand auf und ging ans Fenster um hinauszuschauen. Max und Moritz warfen gerade die prall gefüllten Müllsäcke in den Container. Waren echt fleißig gewesen, die zwei.
Willi öffnete das Fenster und rief. „Lasst gut sein, Jungs! Macht euch weg hier, sonst schafft ihr es nicht mehr zum Ball heute Abend!“ Die beiden strahlten ihn an, schmetterten ein kräftiges „Danke“ und trollten sich. Lächelnd schaute er ihnen nach. Wie die sich gemacht hatten, in den letzten Wochen. Was waren das für Rabauken gewesen, kaum zu glauben. Und als Kinderstreiche konnte man beim besten Willen nicht bezeichnen, was die sich geleistet hatten. Diebstahl, Sachbeschädigung und Körperverletzung. Sie standen schon mit einem Bein im Jugendknast. Rapunzel und Theo zuliebe hatte er dann alle Hebel in Bewegung gesetzt, um das in letzter Minute noch abzuwenden.
Hatte ja auch geklappt! Nachdem er sich die Bürschchen mal ordentlich zur Brust genommen und ihnen den Marsch geblasen hatte, leisteten sie brav ihre Sozialstunden ab. Ja, sie baten sogar darum, nach dem Ende der Strafe weiter machen zu dürfen. Die Arbeit machte ihnen Spaß und sie waren gern draußen im Wald. Schön, auch mal ein Erfolgserlebnis zu haben!
In seinem Job als Sozialarbeiter hatte er ja schon viel gesehen. Erst Recht seit er die Jugendarbeit machte. In all den Jahren, die er als Streetworker im Märchenland arbeitete, war er manchmal am Rande der Verzweiflung gewesen. Er dachte an seinen schlimmsten Fall. Hänsel und Gretel. Ärmste Verhältnisse zu Hause. Der Vater arbeitete als Tagelöhner – und auch nur, wenn er Lust hatte. Die Mutter total überfordert. Sie hatte sich dann an ihn gewandt, aber seine Bemühen waren nicht von Erfolg gekrönt. Eines Tages waren die zwei von zu Hause abgehauen. Es gab zwar Gerüchte, die Eltern hätten sie im Wald ausgesetzt, aber da war nichts Wahres dran.
Dass sie dann zu Dieben (und das Mädel sogar zur Mörderin) geworden waren, machte ihm immer noch schwer zu schaffen. Er begriff auch nicht, dass sie nicht mal zu einer Jugendstrafe verurteilt wurden. Nein, sie lebten mittlerweile wieder bei den Eltern und mussten lediglich zur Therapie. Ausgerechnet bei Dr. Allwissend. Dem traute er auch nicht über den Weg. Bemerkenswert ungebildet war der Mann – für einen Doktor! Eine gewisse Bauernschläue konnte man ihm allerdings nicht absprechen!
Willi schüttelte den Kopf und machte sich wieder an seine Akte. Wieder so ein Fall, der ihm schwer im Magen lag. Eine alleinerziehende Mutter mit sieben unehelichen Kindern im Alter von 5 bis 13 Jahren. Alle von verschiedenen Vätern. Die Mutter war dauernd mit wechselnden Männerbekanntschaften unterwegs und überließ die Kinder sich selbst. In der Hütte sah es aus, wie Kraut und Rüben und es stank wie im Puma-Käfig! Auf seine Vorhaltungen, dass das so nicht ginge, reagierte sie nur mit einem meckernden Lachen. Und lebte munter so weiter wie bisher.
Letzte Woche wollte dann der Vermieter, Herr Wolf, mal nach dem Rechten sehen. Natürlich waren die Kinder wieder allein zu Haus. Die Mutter hatte ihnen zwar mit Prügel gedroht, wenn sie jemand Fremdes in die Wohnung ließen (weniger aus Sorge um die Kinder, sondern weil sie befürchtete, es könne jemand vom Jugendamt sein), aber Herrn Wolf war es mit einem Trick gelungen, sich Einlass zu verschaffen. Er verstellte seine Stimme, so dass sie fast wie die der alten Ziege klang. Die Kinder dachten, es wäre die Mutter, die den Schlüssel vergessen hätte, und öffneten. Als sie den Vermieter sahen, brach natürlich das Chaos aus! Sie sprangen wild durcheinander, über Tische und Bänke. Eins kroch sogar in den Kasten der Standuhr. Als der Mann versuchte, die Blagen zu bändigen, ging der Älteste mit einer Schere auf ihn los und verletzte ihn schwer.
Als dann die alte Geiß nach Hause kam, fasste sie einen abenteuerlichen Plan, um die Tat ihres Filius zu vertuschen. Die Kinder sollten behaupten, Wolf habe sie gefressen und die Mutter habe sie aus seinem Bauch herausgeschnitten, um ihnen das Leben zu retten. Danach hätte sie ihm Steine in den Bauch getan, damit er nicht merken sollte, dass er immer noch hungrig war – und ihn wieder zugenäht. Im Menschenreich wären bei so einer Geschichte gleich die Männer mit dem Ich-hab-mich-lieb-Jäckchen angerückt. Aber im Märchenland konnte man ja die dollsten Dinger erzählen – irgend jemand glaubte sie immer!
Herr Wolf hatte diese Attacke leider nicht überlebt und wurde im Nachhinein auch noch als Bösewicht dargestellt. Die alte Geiß und ihre sieben „Geißlein“ kamen ungeschoren davon – was für eine Welt!
Willi Busch schüttelte den Kopf. Darüber wollte er heute nicht mehr nachdenken. Er war schließlich auch zu dem Ball eingeladen und würde auch hingehen. Einfach mal ein bisschen Spaß haben. Lecker essen, ein paar Bierchen trinken und vielleicht sogar mal das Tanzbein schwingen.
Von Problemen wollte er an diesem Abend jedenfalls nichts mehr hören.
Auch nicht von Rotkäppchens!
© Siglinde Goertz, Uedem