Christa Wolf
Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud
Suhrkamp Verlag 2010
„Du bist dabei gewesen. Du hast es überlebt. Du kannst davon berichten.“
Wo lebten wir? In welchem gesellschaftlichen System prägten sich unsere Erfahrungen? Was macht unser Leben aus? Müssen wir uns für ein Leben entschuldigen? Diesen philosophischen Grundfragen geht die Autorin Christa Wolf, die drei deutsche Staats- und Gesellschaftsformen erlebte, in ihrem Buch "Stadt der Engel" nach.
Rezensenten schrieben, das Buch wäre schwer zu verstehen, larmoyant und voller Selbstmitleid. Wer sich nie die Frage nach dem Lebenssinn gestellt hat, nach Stärken und Schwächen seines eigenen und des Lebens aller, wird dem Buch vorwerfen, es sei kein Roman.
Die bundesdeutsche Öffentlichkeit verlangte und fordert von Christa Wolf mehr und mehr das Eine: das Bedauern, in dem kleinen Land geblieben zu sein, Enthüllungen über ihre Tätigkeit für die DDR-Staatssicherheit, Fehler in ihrer Arbeit im Schriftstellerverband. Sie verlangt eine Verzerrung der eigenen Erinnerungen. Erneut wird die deutsche Spaltung und Einheit zum Thema.
Das Buch handelt in der Stadt der Engel, in Los Angeles, in der die Autorin einige Wochen verbrachte. Hier trifft sie auf die Spuren von Feuchtwanger, Brecht, Eisler, Mann, jener deutschen Exilschriftsteller, das damals auf der Flucht vor den Nazis in der Stadt lebten. Schon sie wollten einen Staat, in dem „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist".
Christa Wolf entwirft eine zweites Ich, das ihr ähnlich ist. Sie betrachtet sich von außen mit eigenen Augen und beschreibt einen ständigen Gesprächspartner, einen Sohn von Emigranten, der ihre Verzweiflung über den Hohn des Lebens in der DDR ebenso ernst wie spöttisch aufnimmt und reflektiert. Gleichzeitig geht sie in ihrem Forschungsprojekt im Getty Center mit den Briefen einer verstorbenen Kommunistin auf Spurensuche nach der Hoffnung aus der Zeit des Widerstandes gegen die Nazis, dem scheinbaren Beginn einer gerechteren Welt. Diese Hoffnung zerrinnt mit der fortschreitenden Entwicklung der DDR. Der Prozess wird erneut beleuchtet, den Christa Wolf eine Revolution und andere Schriftsteller nur eine „Wende“ nennen : Die Erhebung der DDR-Bürger, um Meinungs- und Reisefreiheit zu erzielen, um danach resigniert festzustellen, dass ihre Meinung wenig wert ist und das einzige, „was bleibt“, die Verbitterung und die Vergleichsmöglichkeit zweier Gesellschaftssysteme ist.
Mit Wehmut erinnert sich die Christa Wolf an die Tage der Volkserhebung, an denen sie selbst, auf dem Berliner Alexanderplatz sprechend, beteiligt war und „die Staatsmacht es als schlimmste Drohung empfand, als die Massen auf den Straßen die Losung riefen: Wir bleiben hier!" Sie hat auch nicht jene Offiziere der DDR-Armee vergessen, die ihr erzählten, wie sie in dieser Zeit die Munition der Truppe einsammelten, denn: „Einen Volksarmee schießt doch nicht auf das Volk". Und, an einer anderen Stelle des Textes erzählt sie im Gegensatz dazu wieder von der „Gerechtigkeit“, der besseren Sache, die es verteidigen wollte, dieses kleine Land. Am 17. Juni 1953 wird sie, die junge Genossin, in der Leipziger Innenstadt vom Pöbel aufgefordert, ihr Parteiabzeichen abzulegen. „Nur über meine Leiche“, antwortet sie überzeugt. Unbelehrbar wird die Presse tönen. Viele werden die Überzeugung nicht verstehen, dass es Gemeinschaftliches, Gerechteres, Besseres geben muss und es sich lohnt, dafür zu kämpfen.
Wie verletzlich das Individuum ist, wie schnell aus Begeisterung und Einsatz Verletzlichkeit und Hoffnungslosigkeit entstehen? Um sich nicht immer mehr verletzen zu lassen, benötigt man den „Overcoat" des Dr. Freud, der aber immer wieder sein Inneres nach außen kehrt. Am Ende des Buches hilft nur noch ein schwarzer weiblicher Engel, die Selbstzweifel hinweg zu tragen...
„Im Übrigen ist die Zeit der Klagen und Anklagen vorbei, und auch über Trauer und Selbstanklage und Scham muss man hinauskommen, um nicht immer nur von einem falschen Bewusstsein ins andere zu fallen. „Im Winde klirren die Fahnen“ – Welcher Farbe auch immer. Na und? Dann klirren sie eben, aber warum haben wir es so spät gemerkt. Wir müssen leben nach einem unsicheren inneren Kompass und ohne passende Moral, nur dürfen wir uns nicht länger selbst betrügen. Ich sehe nicht, wie das ausgehen soll, wir graben in einem dunklen Stollen, aber graben müssen wir halt.“
Warum einer ist, wie er ist? Diese Suche nach dem Sinn des Lebens, die Christa Wolf anspricht, ist, angesichts einer bunten, spektakulären Medienwelt längst beantwortet: Zuschauen und im Heute leben, das Gestern vergessen und auf das Morgen pfeifen. In Los Angeles erreicht die Erzählerin das Gestern in Form von Zeitungsartikeln, von Faxen, in denen die Frau, die gestern noch als Dissidentin und berühmte Schriftstellerin galt, heute zur Parteidichterin und Denunziantin wurde. Warum sie denn nicht gegangen wäre, wird gefragt. Sieger bieten immer die Unerbittlichkeit der zwei Seiten. Die Siegerseite hat man zu wählen, die Verliererseite zu verdammen. Christa Wolf verweigert sich der Wahl, nach einem Ausweg suchend, einem Weg dazwischen, jenem „dritten Weg“ zwischen gestern, heute und morgen.
Im Heute breitet sich der „Virus der Menschenverachtung“ wieder schneller aus, meint Christa Wolf.
„Wohin sind wir unterwegs? Das weiß ich nicht."
Es geht um die Aufrichtigkeit der eigenen Erinnerung. Es geht um die Kunst des Erinnerns. Eine fast unlösbare Aufgabe.
Christa Wolf wurde 1929 in Landsberg geboren. Sie arbeitete und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin, Lektorin, Redakteurin und Schriftstellerin und lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Gerhard Wolf, in Berlin. Wichtige Werke sind: „Der geteilte Himmel“ (1963), „Nachdenken über Christa T.“ (1969), „Kindheitsmuster“ (1976), „Kassandra“ (1983), „Der Störfall“ (1987), „Sommerstück“ (1989), „Was bleibt“ (1990), „Medea“ (1996), „Leibhaftig“ (2002, „Ein Tag im Jahr“ (2003) u.v.a.m..