Man sah in ihm einen Robin Hood, Rinaldo Rinaldini, einen gerechten Räuber, einen Volksheld, der sogar den Franzosen trotzte. Jedenfalls wurde es so überliefert, bis die Forschung dann dem echten Schinderhannes auf die Spur kam. Sein positiver Ruf hing streng mit seinem Antisemitismus zusammen.
Schinderhannes |
Johannes Bückler alias Schinderhannes wurde 1778 als Sohn eines "Schinders", d. h. Abdeckers, Schlachters in Miehlen im Taunus geboren. Der Vater verdingte sich beim preußischen Militär zog mit Frau und Sohn in den Krieg, bis er dann desertierte und sich in Miehlen versteckte. Der Junior begann seine Karriere als Hammeldieb, raubte des öfteren Lager aus und verkaufte die Beute dann an den Eigentümer zurück. Er konnte immer fliehen und suchte die Gebiete um Rhein, Main, Neckar, Lahn heim. Dennoch wurde er auch mal in Simmern (Hunsrück) 1799 eingebuchtet, entkam wieder, heiratete Julia Bläsius, lebte mit ihr ohne kirchlichen Segen zusammen. Er sammelte Kumpanen um sich, errichtete in Kellenfels, Hahnenbach und Birkenfels bewachte Lager zum Verarbeiten der gestohlenen Waren und zum Aufenthalt. Auf Anzeige von Dorfbewohnern überfiel die Bande angebliche (zumeist jüdische) Wucherer, Geldverleiher und Händler und konnte sich so wohl auch teilweise die Beliebtheit der Bevölkerung sichern. Einbruch, Raub, Diebstahl und Erpressung war das Tagesgeschäft, angeblich schonte er Verarmte. Heimgesucht von Schinderhannes gaben hier viele Menschen (meist jüdischen Glaubens) ihre Heimat auf und zogen in die Neue Welt. Er übte eine beachtliche Macht auf die Bevölkerung aus. Julchen, seine Frau, begleitete ihn in Männertracht, wenn sie nicht gerade woanders Kurzwaren oder Beute verkaufte.
Ab 1801 fing die Bevölkerung an, Widerstand zu leisten. Wüste Schießereien und nächtliche Straßenkämpfe sind überliefert. Im Frühling 1802 gab Schinderhannes auf. In Frankfurt wurde er 9 Monate vor seinem Tod verhaftet und an die französischen Behörden in Mainz ausgeliefert. Schinderhannes wollte seinen Kopf aus der Schlinge ziehen und sagte gegen eine große Zahl von Helfern aus. Allein es half nichts...
Am 24. Oktober 1803 eröffnete ein Spezialgericht im damals französischen Mainz die Hauptverhandlung gegen 68 Angeklagte. 173 Zeugen lud die Staatsanwaltschaft, 260 Zeugen die neun Verteidiger. 53 Verbrechen wurden Schinderhannes persönlich zur Last gelegt. Gäste aus ganz Europa sollen in Mainz geweilt haben und sich täglich um die 500 Eintrittskarten gestritten, deren Preise ständig stiegen und deren Erlös der Armenkasse zufloss. Ganze zwei Tage dauerte allein die Verlesung der Anklageschrift.
Am Nachmittag des 19. November zog das Gericht seine Mitglieder zur Beratung zurück, am 20. November verkündete das Tribunal das Urteil gegen 42 Angeklagte, überwies einen zuständigkeitshalber den Gerichten zu Saarbrücken und sprach 20 Personen frei. Schinderhannes und 19 Komplizen wurden mit der Todesstrafe bedacht. Kerkerketten und Zuchthaus erwarteten die anderen, Schinderhannes' Vater erhielt eine 22-jährige Kettenstrafe. Seine Frau Julchen Bläsius (die später einen Gendarmen heiratete und als Bürgersfrau starb) musste nur für zwei Jahre ins Zuchthaus.
Jan-Christoph Gockel hat in einem sehr lebhaften, eigenwilligen und absolut kurzweiligen Theaterabend mit insgesamt 3 Stunden eine sehr sehenswerte Interpretation des neuesten Erkenntnisstandes um Schinderhannes mit reichlich Dialekt, Mainzerisch, Rheinhessisch/Hessisch, wo er eben überall wirkte, inszeniert. Mit modernen Verfremdungsmitteln, stark an Brecht orientiert, aber auch weit bis ins Comichafte, mit Slapstick- und Comedyelementen, Zeitlupentrance und Comicpsychodelik wird die Geschichte des brutalen Räubers, der mit 25 unter der französischen Guillotine in Mainz endete, erzählt, gespielt und kommentiert.
Ein sehr beeindruckendes Team mit Sebastian Brandes an der Spitze als Schinderhannes, als Widersacher privat und offiziell Adam (Johannes Schmidt), ein lockender, angeberischer und staatsergebener Polizisten-Sheriff, Ulrike Beerbaum als schlankes, reizvolles Julchen mit amerikanischen Obermaßen als Geliebte und Animiermädchen, daneben Gretchen / Leoni Schulz, als nicht minder animierend figurbetonte, zurückhaltende, verängstigte Schwester in den Krallen der Räuber Zughetto (Lorenz Klee), Iltis Jacob (Daniel Friedl), der vom Schinderhannes entmannt wurde, weil er sich an der Schwester Julchens vergriff, der Jude Benzel (Michael Pietsch), der ein Auge vom Chef im Sumpf ausgestochen bekam, weil er ebenfalls Gretchen als Freiwild sah, und Henner Momann als ausgestopfter Hünenräuber Benedum. Den Wirt/Johann Bückler sen. spielte treffend Armin Dillenberger, die Wirtin/Zoppi Monika Dortschy. Seibert (Anton Berman) war als Musiker zwischen Akkordeon, Klavier und Synthesizer immer zugegen, hüllte alles in eine lustige, gespenstige oder unwirkliche Musik, verfremdete die Stimmen elektronisch.
Schinderhannes war wohl auch ein Schalk, er verkleidete sich, gab sich als Kaufmann, Jäger oder Baron aus, dominierte in Wirtshäusern. Gockel lässt die erste Hälfte des Abends das Theaterparkett zu einem Wirtshaus umbauen, in dem Krämer Ofenloch alias Schinderhannes in einem Volksfest, einer Art Spelunkenrevue, samt seinen Gesellen inmitten der Zuschauer anwesend ist, von Gästen und seinen Gefolgsleuten kontrovers diskutiert wird. Seine Moritaten werden von verschiedenen Personen besungen, das schreckliche Ende wie in einem Mittelalterspiel angekündigt: Die Schwestern Jule und Gretchen saufen das Blut des Schinderhannes. Ofenloch erklärt unterdessen die Arbeit zur Wurzel allen Übels ... Die Kopfmasken der Räuber auf der Bühne, schön auf den Stühlen drapiert, künden bereits vom Ende. Die Masken haben ein wichtige Umschaltfunktion für die Betrachtung der Figuren: Mit Masken auf sind sie die Grausamen, die Räuber, wie sie ihre Feinde sehen, ohne Masken die Menschen in ihrer jeweiligen sozialen und psychischen Ausprägung. Ein wilder Tanz (Boogie-Woogie) beginnt, eine Slapstick-Schlägerei folgt, die Polizei im Anmarsch und Schinderhannes als John Wayne bzw. Tarzan am Kronleuchter vertreibt die Polizei durch wuchtige Tritte. Einer schießt ins Keyboard, die Bande flüchtet durchs Fenster.
Die Schauspieler fallen ständig aus der Rolle, lösen die Illusion ein Stück weit auf, erzählen die Geschichte vom Held des Abends. Seine Grausamkeit den eigenen Leuten gegenüber, dennoch folgten sie ihm. War er weg, brach die Anarchie aus, Suff, Vergewaltigung, Brutalität. Seine Biographie wird vermittelt, seine frühe komplett schulferne Verrohung, seine Liebe zu einem Fuchs an der Leine, der Noch-nicht-Jugendliche schon für Alkohol und Essen den schwulen französischen Soldaten zu Diensten.
Im zweiten Teil mit Video und Softrap schlägt Gockel die Brücke zum WK I und II. In einer Verquickung der Kriegserklärung von Kaiser Wilhelm II., dem Imperator Rex, was sich dieses Jahr zum hunderten Mal jährt, und der Bekämpfung/Hinrichtung des Schinderhannes vor 211 Jahren durch die Franzosen werden Obrigkeit, Staatsgewalt dem Anarchismus des Schinderhannes theatralisch in Form eines deutschen Panzers der Anfänge mit Soldaten in SS-Uniformen des nächsten Weltkrieges, die für Freiheit, gegen bürgerliche Enge antreten, gegenübergestellt. So auch der Jude Benzel, der für Deutschland, wie viele Juden im WK I, kämpft, die Sache des Schinderhannes in dessen Augen verrät, fast schon die Strafe der späteren Judenverfolgung auf sich zieht. Hier am Ende kommt dann eine wilde Solidarität mit der Schinderhannesbande auf, die so fast nicht nachzuvollziehen ist, es sei denn in der Anerkennung des Bandenvollzugs der Judenverfolgung lange zuvor. Heroischer Räuberanarchismus gegen wilhelminische Truppen im Zeichen der späteren Judenverfolgung? Haben die Deutschen 14-18, 39-45 nichts anderes als Schinderhannes betrieben? Es passt nicht zusammen, Satire und Ironie, Comedy und Ulk dominieren, hier bricht das politische Erklärungskonstrukt ein. Man hört nichts darüber, dass der 50er-Jahre-Film, noch einmal das nachraunt, was man als historische Erklärungsversuche sehen muss, der Schinderhannes war gar nicht so schlecht, es waren ja nur Juden ... Dennoch ein fulminantes Feuerwerk an Ideen rund um den ersten deutschen Panzer. "Ich bin nicht der aus den Romanen, und der von Zuckmayer, ich bin das alles nicht!", ruft Schinderhannes Napoleon zu, einem Kinderschauspieler. "Es war die Bande!" Bonaparte rasiert allen fein den Nacken sauber, die Guillotine saust herunter. Theatralisch beeindruckend fällt der Hanneskopf ins Körbchen, das Blut schießt. Die Glorifizierung des Schinderhannes bekommt einen Höhepunkt. Das arme Opfer der Geschichte darf als Bluttrunk in der heiligen Messe gereicht werden. Der Spott könnte in der Annahme gipfeln, dass Bückler vielleicht noch heilig gesprochen werde. Hier wie in dem unklaren Assoziationsgetümmel zuvor hätte man in der Inszenierung deutlicher werden müssen. Dennoch eine einmalige Gelegenheit, die Schinderhannesstory in einer aufwändigen und publikumsnahen Inszenierung zu sehen.
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