Wenn Jan Gabarek im Dom zu Speyer spazieren geht, um in seinem Improvisations- und Assoziationshimmel zu schweben, ist das eine Reise wert. Um so mehr, weil der 66-Jährige das britische Hilliard Ensemble begleitet, das über ebenso exquisite Fähigkeiten verfügt wie der norwegische Altmeister.
Letzten Montag, am 17.11.2014, war ich bei Gabarek und dem Hilliard Ensemble zu ihrem Konzert im Dom, das sehr gut besucht war. Mittel- und Seitenschiffe gefüllt mit Freunden und Liebhabern seiner Musik. Selbst die dezente Gruftkälte der altehrwürdigen Gemäuer hielt nicht viele ab. Gabarek und das Hilliard Ensemble haben einige Alben zusammen aufgenommen, meines Wissens vier, und 20 Jahre gemeinsame Auftritte gehabt.
Gabarek prägte die Jazz-Szene seit den 60er Jahren. In dieser Zeit veröffentlichte er mehr als 50 Alben und stand mit allen Größen des modernen Jazz auf der Bühne oder im Studio – darunter Stars wie Don Cherry, Keith Jarrett, John McLaughlin und Chick Corea. Der Gabareksound ist allen ein Begriff, er fesselte Jahrzehnte Jung und Alt mit seiner meditativen Musik bei gleichzeitig höchster Virtuosität, in den 70er Jahren schloss er zu den wichtigsten Musikern des europäischen Jazz auf. Seine Improvisationen reichen von Volksmusik über Kammermusik bis in die Renaissance- und Kirchenmusik hinein.
Das Improvisationstalent lernte das Saxophonspielen autodidaktisch. Mit 14 Jahren begann seine Musikreise, mit 17 trat er in verschiedenen Ensembles auf und stand auch während seines Philosophie-Studiums immer wieder auf der Bühne, nahm an Musikwettbewerben und Festivals teil. 1974 mit dem Album „Witchi-Tai-To“ kam Gabarek erst richtig raus. 1994 in Lillehammer komponierte und spielte er bereits die Musik zu den Eröffnungs- und Schlussfeiern. Im selben Jahr erschien Garbareks Bestseller-Album „Officium Novum“, auf dem er das Hilliard Ensemble bei Werken aus der Renaissance und Gregorianik gleichsam als „fünfte Stimme“ auf dem Saxophon begleitete.
Nicht minder bekannt das britische Ensemble: In ihrer 40-jährigen Geschichte haben sich die vier Briten zu wahren Top10-Leadern der frühen Musik, gemischt mit Jazzgesang, entwickelt. Diese Konzerttournee mit Liedern aus der Officium-Albumwelt ist die letzte des betagten Quartetts, denn das Ensemble löst sich auf und wird aus Altersgründen so nicht mehr lange existieren. Die Sänger konzentrieren sich auf Stücke, die vor 1600 geschrieben wurden – singen aber auch neuere Werke. Aktuell besteht das Hilliard Ensemble aus David James (Countertenor), Rogers Covey-Crump (Tenor), Steven Harrold (Tenor) sowie Gordon Jones (Bariton).
Es ist ein echtes Klangerlebnis, die Welt der frühen Musik, mittelalterlichen Motetten oder gar orthodoxen Gesänge auf höchstem Niveau zu erleben, wenn die Sänger sich verstärkt am Ende des Konzerts von starren Notenständerpositionen lösen und selbst zu improvisieren beginnen. Die Stimmen hallen durch die Gewölbe, ohne den strengen Duktus der Gregorianischen Choräle anzunehmen, sie sind Erbauung, pure Emotion und Anlass zum Schweifen und Meditieren. Alles, was Gabarek an diesen Abenden in geeigneten Gotteshäusern spielt - ob es sich nun um die Eltviller Kloster Eberbach–Basilika handelt, die Kölner St.Agnes-Kirche, die Hannoversche Marktkirche, den Bremer St.Petri-Dom oder das Ulmer Münster - ist freie Improvisation, die sich so hervorragend in die Stimmlagen, Stimmungen und Tonalitäten fügt, dass es zu höchstem Genuss wird.
Garbareks Saxophon begleitete die mehrstimmigen Gesänge der Hilliards von den vierstimmigen Mariengesängen des Pérotin bis hin zu zeitgenössischen Kompositionen von Arvo Pärt. Seine ungeheure Empathie und Intuition ließen ihn frei flanierend je nach Gelegenheit sich an die Gesänge anschließen oder sich mittenrein zu drängen, den Rhythmus verstärkend oder anders zu akzentuieren. Die Klangspiele im Dom zu Speyer initiierten eine außergewöhnliche mystische Erfahrung, eine Tiefenentspannung und Gedankenreise durch die letzten 10 oder 15 Jahrhunderte oder wohin auch immer.
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