Richard III Regie: Jan Bosse Heiko Raulin, Wolfram Koch Foto: Arno Declair |
Wie sich verblüffenderweise rausstellte war Richard Gloucester/III gar nicht so entstellt, wie ihn die Sage darstellte, sondern hatte nur eine starke Skoliose mit schräger Schulter. Dies konnte man nach jahrhundertlanger Ruhe in der Erde im Jahr 2012 bei einer Obduktion der Reste, die man von ihm unter dem Parkplatz des Sozialamtes von Leicester fand, bestimmen. Verrückt auch der Gegensatz von blutrünstigem Herrscher und sozialer Bedürftigkeit. Der Sozialdarwinismus hat sich schon lange in die Köpfe der Menschheit gefressen und zementiert. Heute käme ein skoliotisch Behinderter diesen Ausmaßes kaum noch in den Genuss der medienwirksamen Yellow Press-Bilderbuchthrone. Aber immerhin wäre er wohl noch finanziell abgesichert, oder ein verstoßener Kandidat fürs Sozialamt der Royals?
In Frankfurt a.M. startete das Schauspiel die neue Spielzeit unter neuer Intendanz von Anselm Weber aus Bochum mit einem heftig-schweren Brocken, verwirrend aufgrund der Komplexität des Geschehens und den Verflechtungen innerhalb des königlichen Stammbaums bei gleichbleibendem Personal des Theaters (10 Schauspieler), was Mehrfachbesetzungen bedeutet. Zum Glück gab es im Programmheft eine Übersicht, die Aktionen der Betreffenden (wer killte wen) und Verwandtschaftsgrad festhielt. Solchermaßen ausgerüstet konnte man sich in das regelrechte All-Terrain-Spiel der Schauspielcrew zwischen den beiden Thronen der Lancesters und Yorks (vereint und entzweit im Haus Anjou-Plantagenêt, das immerhin 250 Jahre Könige in England stellte, fortgeführt mit den Tudors) und immer auf, um oder im Grabhügel der Geschichte absinken lassen und 210 Minuten die Abgründe des Richard III erkunden.
Mit großem Engagement und hervorstechendem Können, verbissener und hervorragender Ausdauer tauchte uns Wolfram Koch als ruheloser Richard Gloucester, später König Richard III in die Psychopathie dieser Shakespeare- und historischen Figur, ließ das Publikum in jedem Satz und jeder Handlung die Unmenge Blut spüren, die sie vergoss, um sich nach all der erlittenen Schmach und Pein als Krüppel den wichtigsten Mann im Reich zu nennen. Wie grauenhaft muss es gewesen sein, einem solchen Wahnsinnigen ausgeliefert zu sein. Zwischen Lug und Trug, Überzeugungskunst und Bettelei hin- und herpendelnd lavierte er durch die Familie, lockte die herbei, die weg mussten, und löschte jeden potenziellen Widersacher aus, selbst der jüngste Prinz und die jüngste Prinzessin - Kinder - mussten dran glauben.
Dennoch hatte Jan Bosse, der souverän und ungewöhnlich Regie führte, alles so mit Slapstickepisoden und -komponenten durchsetzt, dass die Übertreibung eher zum Lachen brachte, das Bedrohliche, das Unmenschliche, Herzinfarktogene entschärfte. Der Sog inmitten des Kunststoffsplittberges als Altar der Opferung zog einen nach dem anderen hinab. Und dass Richard III dann auf dem Thron hoch über dem Sog positioniert wurde, bedeutete nichts anderes als dass sein Fall noch tiefer werden würde. Das feingeschnittene Gestein ist wohl auch ein Zeichen für die Zerstörung eines einst mächtigen Felses. Der machtbesessene, zeitweise in einem glitzernden spacigen Anzug/"mit Silber und funkelnden Steinen besetzter" Herrscher war schon zu Beginn mit voller Kraft lebensmüde kopfüber in den Haufen gesprungen. Eingeläutet durch gewaltige Nebel- und Rauchwolken um den letzten Herrscher der Yorks, Geschützdonner, Feuer und Kampf symbolisierend, wurde er von Richmond auf dem Schlachtfeld getötet. Am Vorabend der Schlacht schon die Botschaften der Geister Edwards, König Heinrichs und aller anderen von ihm Ermordeten, die ihm seinen Untergang prophezeien.
Und so geht es los: Richard III erklärt und rechtfertigt sein grausames Tun immer wieder, hier die Stelle gleich zu Beginn des Stücks:
"Ich, um dies schöne Ebenmaß verkürzt,
Von der Natur um Bildung falsch betrogen,
Entstellt, verwahrlost, vor der Zeit gesandt
In diese Welt des Atmens, halb kaum fertig
Gemacht, und zwar so lahm und ungeziemend,
daß Hunde bellen, hink ich wo vorbei;
Ich nun, in dieser schlaffen Friedenszeit,
Weiß keine Lust, die Zeit mir zu vertreiben,
Als meinen Schatten in der Sonne spähn
Und meine eigne Mißgestalt erörtern;
Und darum, weil ich nicht als ein Verliebter
Kann kürzen diese fein beredten Tage,
Bin ich gewillt, ein Bösewicht zu werden
Und feind den eitlen Freuden dieser Tage.
Anschläge macht' ich, schlimme Einleitungen,
Durch trunkne Weissagungen, Schriften, Träume,
Um meinen Bruder Clarence und den König
In Todfeindschaft einander zu verhetzen.
Und ist nur König Eduard treu und echt,
Wie ich verschmitzt, falsch und verräterisch,
So muß heut Clarence eng verhaftet werden,
Für eine Weissagung, die sagt, daß G
Den Erben Eduards nach dem Leben steh'.”
Er hat Langeweile, der rastlos zwischen den Welten Herumirrende! Er kann sich selbst nicht mehr ausstehen, möchte ein Bösewicht werden. Wie inhaltsleer diese Motivation. Und dann der fadenscheinigste aller Gründe, der Buchstabe G, er reicht für einen Mord. George von Clarence (völlig überrascht und ungläubig Sebastian Reiß, auch als Stanley, Bürger und Geist) ist dran, er wird Opfer dieser gestörten Kotzbrocken-Haltung und erklärt den "Grund":
“[...] ein Deuter sagt' ihm, daß durch G
Enterbung über seinen Stamm ergeh';
Und weil mein Name George anfängt mit G,
So denkt er, folgt, daß es durch mich gescheh'.
Dies, wie ich hör, und Grillen, diesen gleich,
Bewogen Seine Hoheit zum Verhaft.“
So geht das die ganze Zeit, R III (er)findet Gründe und hat einen Heidenspaß dabei die Kandidaten einzufangen. Die Hinterbliebenen beben vor Zorn und Wut und sind ohnmächtig dem Tyrann ausgeliefert. Er mimt den Reumütigen, Ergebenen und fordert Strafe für sich, wäre er denn schuldig. Gerade Königin Elisabeth (voller Hass Claude de Demo, auch Bürger und Geist), die Tochter des von ihm ermordeten Edwards IV., Nichte des Clarence, möchte er gewinnen durch Beteuerungen, dass ihm alles wahnsinnig leid täte. Sie solle sich rächen, ihn bestrafen, indem sie ihn strangulieren möchte. Sie schafft es nicht, lehnt sein Heiratsbegehren ab. Sie soll seine Nachfahren auf die Welt bringen, die Lady Anne von York, die R III auf den Thron brachte (erniedrigt Katharina Bach, auch als Prinz Richard von York, Bürger, Geist und flinker Klettermaxe Tyrell in schwindelnder Thronhöhe), nicht mehr gebären kann, weil sie im Hausarrest verstarb. Seine Mutter (mit sonorer Stimme Mechthild Großmann) verflucht die Frucht ihres Leibes. Alle sind schuldig, keiner ist reinen Gewissens, die Anjou-Plantagenêts soll keiner vermissen.
Die Regie hat alle Bühnenillusion so gut wie aufgehoben, es herrscht ein offener Raum, ein offenes Drama, eine beliebige Zeit in der Optik, modernisiert, außer dem Thron keine historischen Bezüge, Schauplätze verwaschen, nur angedeutet. Die Schauspieler bewegen sich nah am und mitten zwischen den Bürgern (was der neue Intendant auch als Motto seiner Theaterarbeit hervorhebt), integrieren die Zuschauer, lassen sie deklamieren, agieren aus den Reihen, schütteln den ein oder anderen Besucher, kehren zurück ins Off, verlassen den Theaterraum, kommen an anderer Stelle wieder herein. Ein reges Treiben belebt den Abend, hinauf, hinab Stürmende, tobender R III, reizende weibliche Ansichten bei Katharina Bach, Männermuskeln bei Sebastian Kuschmann, der als Hastings, Mörder, Bürger, Geist unterwegs war, den Zuschauerinnen in den vorderen Reihen die Hand küsste. Theatralisch laute Passagen vertreiben die Müdigkeit, wie aus dem Lehrbuch gefordert knallt, scheppert und tobt es. Blut einmal locker aufgelegt. So schafft man den langen und anstrengenden Abend gut, aber am Ende fehlt die Puste für tosenden Beifall, starker geht allerdings noch, die Besucher erschöpft und am Ende, zollen Tribut und sinken langsam um. Ein Schauspiel, das man nicht so schnell vergessen wird, es hat sich eingeprägt und beschäftigt noch viele Nächte lang ...