Aribert Reimanns Oper Melusine wird derzeit im
Bockenheimer Depot in Frankfurt a.M. aufgeführt und bietet eine
faszinierende Gratwanderung zwischen Naturmärchen, Futurismus und
Postmoderne. Die Oper, die ursprünglich 1971 bei den Schwetzinger
Festspielen uraufgeführt wurde, basiert auf der französischen Sage
und dem Drama von Yvan Goll (siehe weiter unten).
 |
Cecilia Hall (Madame Lapérouse) Foto: Barbara Aumüller
|
Die Handlung dreht sich um Melusine, eine junge Frau, die sich
gegen die fortschreitende Zerstörung der Natur stellt. Sie lebt mit
ihrer Mutter Madame Lapérouse und ihrem Ehemann Max Oleander in
einer Villa am Rand eines alten Parks. Während Melusine sich mit den
Geistern des Parks verbunden fühlt, steht ihre Mutter den weltlichen
Dingen näher. Als der Park verkauft wird und einem Schloss weichen
soll, fordert Pythia, Schutzgeist des Parks, Melusine auf,
dies zu verhindern. Pythia verleiht ihr mit einem Fischschwanz eine
magische Anziehungskraft auf Männer und ringt ihr das Versprechen
ab, sich jedoch nie zu verlieben. Doch Melusine trifft auf den Grafen von
Lusignan, und das Geschehen nimmt seinen tragischen Verlauf. Sie schmilzt dahin, auch er ein Opfer der Liebe. Pythia macht ihre Drohung war und steckt das mittlerweile gebaute Schloss an, in dem sich Melusine und der Graf aufhalten. Pythia hat noch einmal gesiegt, der weitere Verlauf bleibt offen.
Die Inszenierung im Bockenheimer Depot hebt die zentrale
Liebesszene besonders hervor und zeigt Melusines inneren Konflikt
zwischen individueller Behauptung, Verlangen und Begehren sowie gesellschaftlichem
Druck. Besonders herausragend ist die Leistung der russischen
Sopranistin Anna Nekhames, die mit ihrer außergewöhnlichen Technik
und emotionalen Tiefe die Titelrolle verkörpert.
 |
Liviu Holender (Graf von Lusignan) und Anna Nekhames (Melusine) |
Regisseurin Aileen Schneider wollte mit dieser Inszenierung einen
Denkprozess anstoßen: Worauf ist der Einzelne bereit zu verzichten,
um die Natur zu erhalten? Doch letztlich kann kein noch so hohes
Ideal der Verführung durch menschliche Liebe etwas entgegensetzen.
Die Regisseurin
schafft es meisterhaft, klassische Mythologie mit futuristischen
Elementen und dunkler abstrakter Dystopie zu verbinden. Sie nutzt die
musikalische Sprache von Reimann, die zwischen expressiver Atonalität
und fast schon hypnotischen Klangflächen wechselt, diese
Vielschichtigkeit szenisch perfekt erlebbar zu machen.
Das Licht, die an ein Raumschiff oder völlig futuristische
Stadtgestaltung erinnernde, hypermoderne kreisförmige
Bühnenarchitektur und die surrealen und dadaistischen Anspielungen in der
Kostümgestaltung erinnern an eine Welt, in der Mensch und Natur
schon lange entfremdet sind. Nicht nur die Figur der Melusine mit
ihrem hybriden Wesen – halb Mensch, halb Wasserwesen – auch der
Landvermesser, die Maurer spiegeln dieses Spannungsverhältnis
zwischen Traum, Künstlichkeit, Groteskheit und extremer Moderne
perfekt wider. Dada und Expressionismus, Futurismus und Science Fiction halten Äußeres und Inneres zusammen.
Aileen Schneider hat wirklich ein Händchen dafür, klassische
Stoffe in ein neues, aufregendes Licht zu rücken. Ihre
Inszenierungen fordern das Publikum intellektuell heraus und reißen
es zugleich emotional mit. Gerade bei Melusine hat sie es
geschafft, die Balance zwischen Mythos und moderner
Gesellschaftskritik auf eine visuell beeindruckende Weise zu
gestalten. Neben Melusine im Bockenheimer Depot hat sie
unter anderem Philip Glass’ In der Strafkolonie nach Franz
Kafka am Staatstheater Augsburg sowie The Sound of Voice,
ebenfalls von Philip Glass, an der Hamburger Staatsoper inszeniert.
Ihre Arbeiten zeichnen sich durch eine starke visuelle Ästhetik und
tiefgehende gesellschaftliche Reflexionen aus.
Besonders spannend ist ihre Herangehensweise an klassische Stoffe:
So transferiert sie diese oft in futuristische oder dystopische Szenarien,
um aktuelle Themen wie Umweltzerstörung, soziale Ungleichheit oder
technologische Entwicklungen zu beleuchten. Ihre Inszenierungen sind
nicht nur visuell beeindruckend, sondern regen auch zum Nachdenken
an. Sie ist außerdem Hessenmeisterin
2022 und Rheinland-Pfalz Vizemeisterin 2024 im Poetry Slam,
Dramatikerin und Moderatorin.
 |
Anna Nekhames (Melusine; Bildmitte) und Ensemble Foto: Barbara Aumüller |
Wer Yvan Goll nicht einordnen kann:
Er war eine faszinierende literarische Figur, die sich zwischen
mehreren Strömungen bewegte, sowohl als Vertreter des deutschen
Expressionismus als
auch eine prägende Stimme des französischen
Surrealismus. Seine
Werke spiegeln die avantgardistischen Bewegungen des frühen 20.
Jahrhunderts wider, insbesondere den Dadaismus
und die Neue
Sachlichkeit.
Goll war ein Kosmopolit, der sich in verschiedenen literarischen
Kreisen bewegte – von den Dadaisten in Zürich bis zu den
Surrealisten in Paris. Sein Werk umfasst Lyrik, Dramen und Prosa.
Seine Gedichte, darunter Johann Ohneland, zeigen eine
tiefgehende Reflexion über Identität und Entfremdung. Er war zudem
ein wichtiger Exilliterat, der während des Zweiten Weltkriegs nach
New York floh und dort weiter publizierte.
Golls literarische Bedeutung liegt in seiner Fähigkeit,
verschiedene Stile und kulturelle Einflüsse zu vereinen. Er war in
den 1920er Jahren eng mit avantgardistischen Theaterbewegungen
verbunden und beeinflusste das experimentelle Theater dieser Zeit
maßgeblich. Seine Werke zeigten eine Vorliebe für das Absurde,
Satirische und Symbolhafte, was ihn in die Nähe von Autoren wie
Brecht, Artaud und Piscator brachte.
Gerade sein Drama Methusalem oder Der ewige Bürger war
ein Paradebeispiel für die innovative Bühnenästhetik der Zeit. Es
nahm viele Elemente des späteren absurden Theaters vorweg und war
eine scharfe Kritik an der fortschreitenden Technokratisierung und
Bürokratisierung der Gesellschaft.
Claire Goll war eine faszinierende und kontroverse Figur in
der Literaturgeschichte. Sie war nicht nur die Ehefrau von Yvan Goll,
sondern auch eine eigenständige Schriftstellerin, Journalistin und
Übersetzerin. Ihre Werke bewegten sich zwischen Expressionismus und
Surrealismus, und sie war eng mit der Pariser Avantgarde verbunden.
Besonders bekannt wurde sie durch ihre Gedichtsammlungen, die sie
oft im Wechselgesang mit Yvan Goll schrieb, sowie durch ihre Romane
wie Der Neger Jupiter raubt Europa. Nach Yvan Golls Tod
widmete sie sich intensiv seinem literarischen Erbe, allerdings nicht
ohne Kontroversen – sie manipulierte nachweislich Texte und war in
einen berüchtigten Streit mit Paul Celan verwickelt, die sogenannte
„Goll-Affäre“.
Ihre Memoiren Ich verzeihe keinem sind eine literarische
Chronique scandaleuse, die viele Persönlichkeiten ihrer Zeit
kritisch beleuchtet. Trotz ihrer umstrittenen Aktionen bleibt sie
eine bedeutende Stimme der deutsch-französischen Literatur.
Die Goll-Affäre war eine literarische
Kontroverse, die sich um Paul Celan und Claire Goll drehte. Nach Yvan
Golls Tod im Jahr 1950 war Celan zunächst in die Herausgabe von
dessen Werken involviert. Doch Claire Goll begann später, Celan
öffentlich des Plagiats
zu beschuldigen, indem sie behauptete, er habe Gedichte ihres
verstorbenen Mannes übernommen und als seine eigenen ausgegeben.
Diese Vorwürfe führten zu einer langjährigen Auseinandersetzung,
die Celan zutiefst erschütterte. Die Affäre hatte weitreichende
Folgen für sein Ansehen und seine psychische Gesundheit. Trotz
zahlreicher Unterstützer, darunter Ingeborg Bachmann und Peter
Szondi, blieb der Schatten der Anschuldigungen über Celans Werk
bestehen. Claire Goll führte eine regelrechte Kampagne gegen ihn,
die sich bis in die 1960er Jahre erstreckte und in verschiedenen
Publikationen und Briefen weitergeführt wurde.
Die Affäre wird oft als Beispiel für die Schwierigkeiten von
Exilliteraten und die Macht von Diffamierungskampagnen im
Literaturbetrieb gesehen. Celan selbst betrachtete die Vorwürfe als
einen persönlichen
Vernichtungsfeldzug,
der antisemitische Untertöne hatte.