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Sonntag, 21. Dezember 2025

Ukrainische Tradition: Shchedryk (Kiew) forever!

Mykola Leontowytsch





 

Shchedryk 

ein Lied, das nicht verstummt

  

 

Mykola Leontowytsch wurde 1877 in Podolien geboren, als Sohn eines Priesters. Er studierte Theologie, Musik, Chorleitung. Nichts an seinem Lebenslauf deutet auf Weltruhm hin. Er war Lehrer. Einer von vielen. Er unterrichtete Kinder, leitete Dorfchöre, sammelte Volkslieder – nicht aus folkloristischem Ehrgeiz, sondern aus der Überzeugung, dass in diesen Melodien etwas mitklang, das sonst verloren ginge: Erinnerung, Lebensgefühl, Identität.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts arbeitete Leontowytsch in verschiedenen Regionen der Ukraine, auch im Osten des Landes, im industriellen Grenzraum des später sogenannten Donbass. Eisenbahnen durchzogen die Landschaft, Kohle und Erz bestimmten den Alltag, Dampflokomotiven schrieben ihre Wolken in den Himmel. Es war eine Zeit der Umbrüche: Industrialisierung, politische Spannungen, das langsame Auseinanderbrechen des Zarenreichs.

In dieser Welt, fernab der Metropolen, arbeitete Leontowytsch an einem alten Volkslied, einer shchedrivka – einem Neujahrsgesang, der Wohlstand verheißt. Der Text ist schlicht: Eine Schwalbe fliegt ins Haus, kündet vom kommenden Glück. Kein Christentum, kein Pathos, kein Glockengeläut. Nur Wiederholung. Kreisende Bewegung. Erwartung.

Zwischen 1901 und 1919 bearbeitete Leontowytsch dieses Lied immer wieder neu. Fünf Fassungen sind überliefert. Er reduzierte, verdichtete, verschob Akzente. Aus der volkstümlichen Melodie entstand eine strenge, fast moderne Komposition: ein obsessives Ostinato, vier Töne, immer wiederkehrend, wie ein pochender Puls.

1916 wurde Shchedryk in Kyjiw erstmals öffentlich aufgeführt.

Kurz darauf zerfiel die Welt, in der es entstanden war.

Revolution, Bürgerkrieg, wechselnde Besatzungen. 1921 wurde Leontowytsch in seinem Elternhaus von einem Agenten der sowjetischen Geheimpolizei erschossen. Er war 43 Jahre alt. Sein Werk blieb, sein Leben endete leise.

Doch Shchedryk reiste weiter.

Der Ukrainische Nationalchor brachte das Lied nach Europa und in die USA. 1921 erklang es in der Carnegie Hall. Dort hörte es der Dirigent Peter J. Wilhousky, der Jahre später einen neuen englischen Text schrieb. Aus der Schwalbe wurden Glocken. Aus einem Neujahrslied ein Weihnachtslied. Der neue Titel: „Carol of the Bells“. Die Herkunft geriet in den Hintergrund, die Melodie blieb.

Mehr als hundert Jahre später liegt über denselben Regionen, in denen Leontowytsch arbeitete, wieder Krieg. Städte wie Pokrowsk stehen für Frontnähe, Evakuierung, Zerstörung. Wo einst Kinder sangen, stehen Häuser ohne Dächer. Wo Musik geprobt wurde, horchen Menschen auf Raketenalarme. Die Geräuschkulisse hat sich verändert, nicht jedoch die Tiefe der Erinnerung.

Denn Musik ist widerständig.

Sie braucht keine Stille. Sie entsteht auch im Lärm, im Verlust, im Exil. Shchedryk hat Imperien überlebt, Ideologien, Morde, Kriege. Es klingt heute in Konzertsälen, Kirchen, Kaufhäusern – oft losgelöst von seiner Geschichte, und doch trägt es sie in sich.

Wenn in warmen Wohnungen zur Weihnachtszeit „Carol of the Bells“ erklingt, dann ist es mehr als ein festlicher Klang. Dann spricht darin eine andere Stimme mit: die eines Lehrers, der Noten schrieb, während draußen Züge fuhren und Schnee fiel; die Stimme einer Kultur, die nicht ausgelöscht werden konnte.

Shchedryk ist kein harmloses Weihnachtslied.

Es ist ein Dokument.

Ein Beweis dafür, dass aus Provinz Welt werden kann. Dass aus einem einfachen Volkslied ein globales Gedächtnis entsteht. Dass aus Schmerz Dauer wächst.


Solange diese Melodie erklingt,
lebt die Ukraine weiter -
nicht als Symbol,
sondern als Stimme:
im Lied, im Gedächtnis,
und im Atem der winterkalten Luft.



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