Mieczysław Weinberg |
Auf den Straßen und in Parlamenten rechtsextreme Demonstranten der AfD, die ein Ende der Berliner Demokratieära fordern, Massenabschiebungen von Flüchtlingen werden 7 km von der historischen Wannseekonferenz zur Judendeportation in Potsdam diskutiert und geplant, kleine Nazis auf dem Land warten auf die Übernahme der Macht in den Ämtern, und Neonazis grölen mit erhobenem rechtem Arm nationalistische Parolen. Die Vergangenheit reicht weit in die Gegenwart hinein. Weinbergs „Die Passagierin“ steht da am anderen Ende. „Ich verstehe diese Oper“ so der Komponist Dmitri Schostakowitsch, „als einen Hymne an den Menschen, eine Hymne an die internationale Solidarität der Menschen, die dem fürchterlichsten Übel auf der Welt, dem Faschismus, die Stirn boten.“
„Wenn eines Tages eure Stimmen verhallt sind, dann gehen wir zugrunde.“ Mit diesen Schlussworten von Zofia Posmysz, deren gleichnamiger Roman - auf eigener Erfahrung in Auschwitz beruhend - die Grundlage zu dieser Oper darstellt, weist die Regisseurin Nadja Loschky am Ende von Mieczysław Weinbergs Oper "Die Passagierin" auf unsere Verantwortung hin, all jene nie zu vergessen, die in Konzentrationslagern ums Leben kamen, und jene, die Verbrechen begangen haben. Und hier geht es um die riesige NS-Todesmaschine Auschwitz, die mindestens 1,1 Millionen Tote, darunter 90 % Juden, zu verantworten hat.
Zofia Posmysz starb 2022. Sie hatte bis dahin alle Inszenierungen als Zeitzeugin begleitet und legitimiert. Darauf konnte Nadja Loschky nicht mehr eingehen und schuf ein weitgehend realistisches Bild der Nazischergen im KZ. Vieles blieb Andeutung und entsprechende Szenen "erstarrten" in der Handlung. Die Brutalität wurde deutlich, aber nicht vollzogen. Wie auch immer, Betroffene bzw. Nachfahren werden an diesen Stellen wieder einmal verzweifelt den Kopf geschüttelt haben. Uniformen wurden SS-typisch eingesetzt, und die Häftlingskleidung nach üblicher Vorstellung. Aber gerade die Deutlichkeit ist für alle, die sich noch nicht so intensiv mit dem Geschehen auseinandersetzten oder noch heute in völliger Zustimmung verharren, tatsächlich notwendig: (in der Pause) "Hitler war ein genialer Führer, wusste, wie man mit verarmten Massen umgeht" oder "Mein Vater sagte immer, das stimmt nicht mit Auschwitz - es scheint doch was dran zu sein."
Der polnisch-jüdische Komponist, der seine Eltern und Schwester in der Shoah verlor, stellt in seiner 1968 vollendeten, jedoch erst 2010 szenisch uraufgeführten Oper musikalische Opulenz, Zwölftontechnik, Volkslied und Tanzmusik nebeneinander, was sehr eindringlich und emotional wirkt. Verschleiern und Vergessen sollen hier keine Chance haben. In Mainz handelt es sich um eine Kooperation mit der Oper Graz (an der die Inszenierung bereits 2020 zu sehen war).
Fünfzehn Jahre nach Kriegsende reisen Lisa und ihr Mann Walter, ein bundesdeutscher Diplomat, nach Brasilien, um dort ein neues Leben zu beginnen. Die Schiffspassage stellt gewissermaßen den Handlungsrahmen dar. Alles scheint in Ordnung, rosarot die Zukunft. Doch plötzlich fährt Lisa der Schrecken in alle Glieder: In einer Frau auf dem Schiff glaubt sie Marta wiederzuerkennen, eine ehemalige polnische Insassin im KZ Auschwitz, wo sie selbst als SS-Aufseherin tätig war. Szenen aus den Jahren 1943-44 in Auschwitz werden wieder lebendig und zwingen Lisa, ihrer Vergangenheit ins Auge zu blicken. Furcht vor Bestrafung als NS-Verbrecherin mit Gefängnisstrafe, Scheidung und Entlassung ihres Manns aus dem Staatsdienst drohen.
Erinnerungen an die vergangene, dunkle Zeit werden wach. Erinnerung an Opfer, Täter, aber auch an mutige Widerständler. Angst vor Entdeckung ergreift auch ihren Ehemann Walter, der von allem nichts wusste, sich beruflich ruiniert sieht und verzweifelt über die Gefahr der Schlagzeilen und des Skandals. Seine Frau versucht ihm weiszumachen, dass Marta damals ihre Güte und Zuwendung missbraucht hätte und nur deshalb in den Todesblock kam, während ihr Verlobter Tadeusz, ein Geigenspieler, gleich nach seinem letzten Vorspielen von betrunkenen Schergen ermordet wurde. Er ließ seiner Verlobten einen Zettel zukommen, auf dem stand, dass sie durchhalten solle, die Befreier kämen täglich näher. Marta schützte ihren Verlobten, simulierte einen Liebesbrief, was von Lisa aufgedeckt wurde, und zur Verlegung in den berüchtigten Todesblock führte, aus dem fast niemand mehr herauskam.
Nadja Loschky fügt eine dritte Zeitebene ein, auf der Lisa als alte Frau auf alles seit der SS-Zeit zurückblickt, alles erinnert, Revue passieren lässt und szenisch kommentierend versucht Ordnung in das Chaos zu bringen. Sie räumt unter anderem die Kleider der Vergasten vor den "Duschräumen" weg, ordentlich und genau, räumt sie ins Lager, tritt aufdringliche Häftlinge weg, die etwas von ihr wollen. Dann wieder steht sie stumm neben der Handlung.
Am Ende triumphiert die Zeugin Marta schweigend an einem Tisch im Hintergrund sitzend. Sie könnte die Auslöserin des Skandals mit allen Folgen werden. Keiner weiß es.
Zeitgleich ist die Oper auch in München zu sehen, allerdings in einer anderen Inszenierung von Tobias Kratzer, abstrakter, zurückhaltender die Problematik, aber ebenso wirkungsvoll. 2015 war die Oper bereits in Frankfurt zu sehen, anspruchsvoll inszeniert von Anselm Weber, ebenfalls viel abstrakter, und die Fahrt nach Brasilien noch gar nicht begonnen. Und 2013 gab es schon eine Inszenierung von Falk von Traubenberg in Karlsruhe, Heute Abend in Karlsruhe: DIE PASSAGIERIN.
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