Boris Vian, geboren 1920 und gestorben 1959, war eine schillernde und schräge Figur im französischen Literaturbetrieb. Als Schriftsteller, Jazztrompeter, Chansonnier, Schauspieler, Übersetzer und Leiter der Jazzplattenabteilung bei Philips behauptete er einen nicht sehr berühmten, aber doch bekannten und posthum kultigen Stand. Nicht nur sein Streit mit Sartre, der sich für Vians Frau interessierte und sie auch als Geliebte gewann, brachte neuen Schwung ins zeitgenössische Geistesleben, sondern auch der Roman "J'irai cracher sur vos tombes" / "Ich werde auf eure Gräber spucken" (1946). Als satirische Imitation der Trivialliteratur - angeboten als angebliche Übersetzung eines Sex-and-crime-Romans eines afro-amerikanischen Autors namens Vernon Sullivan - erregte er die Gemüter und holte er sich eine Verurteilung wegen "Unmoral". Später gab es einen Film dazu, der den herzkranken Vian vor der Preview schon so belastete, dass er starb. Gegen Sartres "Les Temps modernes" stellte er aus besagtem Grund (Vians Ehe wurde 1952 geschieden) eine regelmäßige ironische "Chronique du menteur" / "Chronik des Lügners".
Sein Roman "L'Écume des jours" / "Der Schaum der Tage" (1946), eine surrealistisch verfremdete, elegisch-tragische Liebesgeschichte brachte ihm erst nach seinem Tod in den 60er/70er Jahren des 20. Jahrhunderts ordentlichen Erfolg. Er wurde zum Kultbuch bei jungen Lesern. Der Roman wurde 1968, 1993 und 2013 verfilmt.
Ebenfalls Erfolg brachte ihm neben seinen 400 Gedichten sowie seinem Aufruf zur Fahnenflucht wegen Indochina und Algerien das Theaterstück "Les Bâtisseurs d'empire ou Le Schmurtz" / "Die Reichsgründer oder das Schmürz" (UA 1959).
Diese Spielzeit in Darmstadt und Kaiserslautern zu sehen. Ich habe eine Vorstellung im Pfalztheater Kaiserslautern auf der Werkstattbühne besucht.
Was sich im Laufe des Spiels als Abkömmling des absurden Theaters zeigte, mit vielen grotesken, irrealen und unsinnigen Reden und Handlungen, ist eine sehr gelungene Bühnenmetapher für die französische Situation in den 1950er Jahren. Nicht nur das Nachhallen der deutschen Besetzung im Zweiten Weltkrieg, die Kollaboration des Vichy-Regimes mit den Nazis, die vergangene und noch nachwirkende Akzeptanz des Faschismus, auch die Indochina- und Algerienkrise ließen Frankreichs Intellektuelle Stellung beziehen. Das Klima im Land war nationalistisch, konservativ, die Kolonialstaaten standen auf dem Spiel, die Linken waren für Aufklärung und Beendigung des Kolonialzeitalters. In diesen Zeiten haben sich sicher Konservative zusammengefunden, aber auch Faschismusanhänger und -täter in Frankreich zurückgezogen und bedeckt gehalten. Dass die Vergangenheit einen nicht loslässt zeigt Vian in seinem Stück anhand von Léon, dem Vater und Reserveoffizier, heimlichen Anhänger des Faschismus, wie die Regie unter Harald Demmer mit Melanie Pollmann als Dramaturgin herausarbeitet.
Die Familie, Léon und Anna als Eltern, Zénobie, die Tochter, zu Beginn noch an Bord Cruche, das Dienstmädchen, flüchten aus den unteren Stockwerken eines recht absurden Hauses. Einfallsreich die Bühne von Manfred Schneider, der ein Schranklabyrinth aufeinandergesetzt hat, in dem die Schauspieler immer wieder mal verschwinden oder sich "ablegen" können, wie Cruche, die eigentümliche Relaxstellungen einnimmt. Léon (überzeugend Henning Kohne) ist laut und dominant, schreit viel und spricht laut, er muss sich behaupten, die Vergangenheit ist hinter ihm her. Zwei Ausprägungen davon gibt es: ein unheimliches bedrohliches Geräusch und ein fast leblos herumrobbender blutig verbundener Mensch, das Schmürz. Kommt das Geräusch, wird Schmürz aktiv, stellt sich und wird von Vibrationen heimgesucht, während er auf die anderen zutorkelt. Dieses personfizierte schlechte Gewissen aus der Vergangenheit, das kollektive Opferlamm, das sich auch an Léon erinnert, bekommt unentwegt Aggressionen zu spüren. Es ist sogar für alle Familienangehörige Pflicht, es zu bestrafen, zu schlagen, zu quälen. Der Punchingball der Gefühle, der Schwächere, der alles abbekommen muss. Nur Zénobie versucht ihm Gutes zu tun, es artet in eine Art dankbaren Übergriff von Schmürz aus ...
Aber eigentlich erinnert Léon sich ja nicht. Er tut mal so. Wie seine Frau. Sie trällert Opern, strickt und ist immer guter Dinge. Dass sie früher mal in einer großen Wohnung mit 6 Zimmern, Salon, luxoriös gelebt haben, heute nur noch in 2 Zimmern, heruntergekommen. "Nur die Jungen erinnern sich, die Alten vergessen alles!", bemerkt Zénobie. Er träumt und fantasiert alles gut: "Es wird wie früher sein, nur weniger schön [...], und dann werden wir nur ein einziges Zimmer haben." Die Alten tun naiv so, als ob alles immer neu wäre, dabei ist es die immergleiche Flucht. Geräusch, Bedrohung, Flucht in die nächsthöhere Etage, das Schmürz krabbelt, bekommt Schläge, Hiebe, Tritte, Stiche mit den Stricknadeln und Cruches Geschenk, bevor sie geht, gar eine Ohrreinigung mit dem Korkenzieher. Das ist theatralisch aufbereitet und spürbar schmerzhaft.
So wie es draußen ist, deklamiert Léon, wäre alles ein Opfer der schwindenden Demagogie und verfällt zugleich in Hitlers knarzende Rhetorik. Während er eine Nazipostille liest, wird klar, dass der Sohn des Nachbarn mysteriös verstorben ist: "Weil er die Treppe hinunterging?" Die Tochter soll sich ein Bett beim Nachbarn ausleihen, der sehr interessiert an Frau Mama ist, und verschwindet auch. Mit den lapidaren Worten, dass Kinder schnell aufwachsen und manchmal auch schnell weg sind, wird das Ganze vergessen: "Irgendwann verlassen Kinder eben die Eltern. Und das ist gut so." Die Frau verlässt ihn wenig später auch, hat genug, und zurück bleibt Léon, 49, alleinstehend, Gebiss in gutem Zustand, der manchmal glaubt, dass er die Erinnerung eines anderen hat. Er erinnert das, was ein anderer erinnern könnte, und das reicht für eine Flucht. In seiner Reserveoffiziersuniform ruft er aus: "Ich habe keine Zeit für Inventur! [...] Ich habe keine Rechenschaft abzugeben! [...] Ich war immer allein! [...] Ich wusste nicht!" und stürzt sich von der letzten Station seiner Reise, dem 1-Zimmer-Raum unterm Dach, auf die Straße.
Markus Penne als Schmürz hat die undankbarste Rolle in diesem Stück und überlebt nur, weil er gut gegen Schläge gepolstert ist. Nikola Norgauer als Anna spielt frisch und lebendig die abwiegelnde, immerlustige, unterwürfige und liebevolle Frau. Zénobie, die Tochter, ist für ihren Infantilismus zu groß geraten, zu langbeinig und verführerisch, schwer regrediert und infantilisiert. Cruche, das genervte Zimmermädchen, fordernd, gerade noch genug servil für ihren Job und kess von Natalie Forester. Dominique Bals als Überbleibsel der kleinbürgerlichen Salonlöwenkultur im französischen Morgenmantel. Ein eigenwilliges Stück, mit viel paradoxem Nonsense und absurd-grotesker Leere wie bei Harold Pinter.
Sein Roman "L'Écume des jours" / "Der Schaum der Tage" (1946), eine surrealistisch verfremdete, elegisch-tragische Liebesgeschichte brachte ihm erst nach seinem Tod in den 60er/70er Jahren des 20. Jahrhunderts ordentlichen Erfolg. Er wurde zum Kultbuch bei jungen Lesern. Der Roman wurde 1968, 1993 und 2013 verfilmt.
Ebenfalls Erfolg brachte ihm neben seinen 400 Gedichten sowie seinem Aufruf zur Fahnenflucht wegen Indochina und Algerien das Theaterstück "Les Bâtisseurs d'empire ou Le Schmurtz" / "Die Reichsgründer oder das Schmürz" (UA 1959).
Diese Spielzeit in Darmstadt und Kaiserslautern zu sehen. Ich habe eine Vorstellung im Pfalztheater Kaiserslautern auf der Werkstattbühne besucht.
Was sich im Laufe des Spiels als Abkömmling des absurden Theaters zeigte, mit vielen grotesken, irrealen und unsinnigen Reden und Handlungen, ist eine sehr gelungene Bühnenmetapher für die französische Situation in den 1950er Jahren. Nicht nur das Nachhallen der deutschen Besetzung im Zweiten Weltkrieg, die Kollaboration des Vichy-Regimes mit den Nazis, die vergangene und noch nachwirkende Akzeptanz des Faschismus, auch die Indochina- und Algerienkrise ließen Frankreichs Intellektuelle Stellung beziehen. Das Klima im Land war nationalistisch, konservativ, die Kolonialstaaten standen auf dem Spiel, die Linken waren für Aufklärung und Beendigung des Kolonialzeitalters. In diesen Zeiten haben sich sicher Konservative zusammengefunden, aber auch Faschismusanhänger und -täter in Frankreich zurückgezogen und bedeckt gehalten. Dass die Vergangenheit einen nicht loslässt zeigt Vian in seinem Stück anhand von Léon, dem Vater und Reserveoffizier, heimlichen Anhänger des Faschismus, wie die Regie unter Harald Demmer mit Melanie Pollmann als Dramaturgin herausarbeitet.
Die Familie, Léon und Anna als Eltern, Zénobie, die Tochter, zu Beginn noch an Bord Cruche, das Dienstmädchen, flüchten aus den unteren Stockwerken eines recht absurden Hauses. Einfallsreich die Bühne von Manfred Schneider, der ein Schranklabyrinth aufeinandergesetzt hat, in dem die Schauspieler immer wieder mal verschwinden oder sich "ablegen" können, wie Cruche, die eigentümliche Relaxstellungen einnimmt. Léon (überzeugend Henning Kohne) ist laut und dominant, schreit viel und spricht laut, er muss sich behaupten, die Vergangenheit ist hinter ihm her. Zwei Ausprägungen davon gibt es: ein unheimliches bedrohliches Geräusch und ein fast leblos herumrobbender blutig verbundener Mensch, das Schmürz. Kommt das Geräusch, wird Schmürz aktiv, stellt sich und wird von Vibrationen heimgesucht, während er auf die anderen zutorkelt. Dieses personfizierte schlechte Gewissen aus der Vergangenheit, das kollektive Opferlamm, das sich auch an Léon erinnert, bekommt unentwegt Aggressionen zu spüren. Es ist sogar für alle Familienangehörige Pflicht, es zu bestrafen, zu schlagen, zu quälen. Der Punchingball der Gefühle, der Schwächere, der alles abbekommen muss. Nur Zénobie versucht ihm Gutes zu tun, es artet in eine Art dankbaren Übergriff von Schmürz aus ...
Aber eigentlich erinnert Léon sich ja nicht. Er tut mal so. Wie seine Frau. Sie trällert Opern, strickt und ist immer guter Dinge. Dass sie früher mal in einer großen Wohnung mit 6 Zimmern, Salon, luxoriös gelebt haben, heute nur noch in 2 Zimmern, heruntergekommen. "Nur die Jungen erinnern sich, die Alten vergessen alles!", bemerkt Zénobie. Er träumt und fantasiert alles gut: "Es wird wie früher sein, nur weniger schön [...], und dann werden wir nur ein einziges Zimmer haben." Die Alten tun naiv so, als ob alles immer neu wäre, dabei ist es die immergleiche Flucht. Geräusch, Bedrohung, Flucht in die nächsthöhere Etage, das Schmürz krabbelt, bekommt Schläge, Hiebe, Tritte, Stiche mit den Stricknadeln und Cruches Geschenk, bevor sie geht, gar eine Ohrreinigung mit dem Korkenzieher. Das ist theatralisch aufbereitet und spürbar schmerzhaft.
So wie es draußen ist, deklamiert Léon, wäre alles ein Opfer der schwindenden Demagogie und verfällt zugleich in Hitlers knarzende Rhetorik. Während er eine Nazipostille liest, wird klar, dass der Sohn des Nachbarn mysteriös verstorben ist: "Weil er die Treppe hinunterging?" Die Tochter soll sich ein Bett beim Nachbarn ausleihen, der sehr interessiert an Frau Mama ist, und verschwindet auch. Mit den lapidaren Worten, dass Kinder schnell aufwachsen und manchmal auch schnell weg sind, wird das Ganze vergessen: "Irgendwann verlassen Kinder eben die Eltern. Und das ist gut so." Die Frau verlässt ihn wenig später auch, hat genug, und zurück bleibt Léon, 49, alleinstehend, Gebiss in gutem Zustand, der manchmal glaubt, dass er die Erinnerung eines anderen hat. Er erinnert das, was ein anderer erinnern könnte, und das reicht für eine Flucht. In seiner Reserveoffiziersuniform ruft er aus: "Ich habe keine Zeit für Inventur! [...] Ich habe keine Rechenschaft abzugeben! [...] Ich war immer allein! [...] Ich wusste nicht!" und stürzt sich von der letzten Station seiner Reise, dem 1-Zimmer-Raum unterm Dach, auf die Straße.
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