SV Verlag

SV Verlag mit Handy oder Tablet entdecken!
Die neue Generation der platzsparenden Bücher - klein, stark, leicht und fast unsichtbar! E-Books bei viereggtext! Wollen Sie Anspruchsvolles veröffentlichen oder suchen Sie Lesegenuss für zu Hause oder unterwegs? Verfolgen Sie mein Programm im SV Verlag, Sie werden immer etwas Passendes entdecken ... Weitere Informationen

.

.
Dichterhain, Bände 1 bis 4

.

.
Dichterhain, Bände 5 bis 8

Übersetze/Translate/Traduis/Tradurre/Traducir/переводить/çevirmek

Mittwoch, 13. Februar 2013

Gefühlsecht IV. Eine Kurzgeschichte von Gabriele Behrend

Gefühlsecht IV
THEY LIVE 6, (c) Trash/Treasure


Herb übernahm das Ruder in seinem gewohnt unantastbaren Violett. Er entschuldigte Frau Martinez’ unprofessionelles Auftreten, versicherte, dass es keinen Grund zur Sorge geben würde, dass die Probleme von geringem Ausmaß waren und überdies schnell behoben sein würden. Den Rest hörte ich nicht mehr. Meine Sorge galt Lola. Aber wo ich sie auch suchte, nirgends auch nur ein Lebenszeichen von ihr. Da war kein Licht in ihrer Wohnung, da meldete sich nur die Voicemail am Telefon.

Irgendwann saß ich alleine zu Hause in meinem Schaukelstuhl, müde und ausgelaugt von den vielen Fragen, die in meinem Kopf kreisten – ist Puchheim wirklich so sicher, wie wir es den Leuten verkaufen? Weiß Lola mehr? Wo ist sie, verdammt noch mal? Wieso meldet sie sich nicht? –, doch bevor ich ein weiteres Mal zum Telefon greifen und ihre Nummer anwählen konnte, wurde ich vom Schlaf übermannt.

Ich sitze in einem Taxi und fahre zu Herb. Der True-Emotion-Stoff färbt meine Beine in ein dunkles, dunkles Flaschengrün auf dem sich einige hellere Tropfen finden. Salzmeerblau. Über meine Wangen rinnen Tränen. Ansonsten bin ich ganz still. Nur in meinem Gedächtnis tanzen Worte umeinander. Ich habe sie von einem zerknüllten Zettel abgelesen, den mir ein Beamter in Zivil unter die Nase gehalten hat.

›Ich kann nicht mehr lügen. Ich kann nicht mehr zurück.‹

Danach durfte ich in das Schlafzimmer gehen, das die Spurensicherung gerade erst freigegeben hat. Und dort habe ich Lola gesehen, Lola in ihrem berühmten orangefarbenen Etuikleid, nur das das Kleid jetzt in einem unschuldigen Weiß erstrahlt. Wo keine Energie mehr fließt, da kann keine Farbe abgebildet werden. Da wird alles zu einem Neutrum.

Sie sieht friedlich aus. Dabei ist sie tot.

Tabletten und Alkohol, wie mir der Zivile zum Abschluss erklärt hat, kurz bevor ich aus der Wohnung gestürmt bin.

Und nun sitze ich in diesem Scheißtaxi, versuche gar nicht erst, meine Kontrolle herbeizuatmen, denn diese Tränen müssen raus. Sie sind echt und dürfen nicht verleugnet werden. Dabei ist es mir egal, ob ich den Fahrer mit meiner Trauer nötige oder nicht, da muss er durch. Entweder das oder er sieht weg, ist nicht mein Problem.

Endlich hält er vor dem Haupteingang, setzt mich ab, fährt mit quietschenden Reifen davon.

Ich marschiere durch die Lobby, vorbei an unifarbenen Frohgestalten, hin zu Herbs Büro, dem einzigen auf unserem Flur, das nicht von außen einsehbar ist. Ich klopfe kurz, warte aber nicht auf ein ›Herein‹, sondern stoße die Tür auf. Er sitzt hinter seinem Schreibtisch und schiebt ein paar Papiere von rechts nach links und zurück. Er sieht dabei aus dem Fenster, mit ausdruckslosem Gesicht. Das Hemd ist unbeirrbar violett.

Er ist der Fels, der in der Brandung stehen soll, die in mir tobt.

Und so finde ich mich ein paar Minuten später auf seiner Couch wieder, weinend, stammelnd, völlig aufgelöst. Er hat sich erhoben, ist um den Tisch gegangen, doch gerade, als ich die Hand nach ihm ausstrecke – ›Ich brauche Halt, Herb, bitte steh mir bei!‹ –, zieht er sich zurück, lehnt sich an die polierte Tischkante und betrachtet mich unter zusammengezogenen Brauen, die Arme verschränkt.

»Was soll das hier, Jade? Was ist das für eine Show?«

Der Schmerz, der in mir tobt, kommt zum Stillstand, als habe Herb mir gerade einen Kübel Eiswasser über den Kopf gekippt. Verständnislos schaue ich ihn an.

»Lola ist tot. Sie war meine beste Freundin. Die einzige wahre Freundin! Und nun ist sie tot – was soll ich denn nur machen?«

»Kontrolliere dich.« Herb nickt mir auffordernd zu.

Schon ertappe ich mich dabei, wie ich die Atemübung ausführen will, die mein Ich auf ein höheres Level bringen soll. Da wird mir speiübel. Meine Seele rebelliert.

»Das kann ich nicht. Nicht jetzt. Ich will es auch gar nicht, verdammt noch mal. Lola ist tot und du redest über Selbstbeherrschung?«

»Das ist immer noch besser, als sich dem Chaos hinzugeben.«

Herb wirkt ungeduldig. Sein Hemd nicht.

Langsam drängt sich mir eine Frage auf.

»Wie schaffst du es eigentlich, so ruhig zu sein?« Ich sehe ihm nicht in die Augen, mein Blick bleibt auf der Höhe seines Hemdkragens hängen. »Hat sie dir denn nichts bedeutet? Lola? Deine rechte Hand?«

»Darum geht es nicht.«

»Worum geht es dann?«

»Um den Konzern. Lola hat gestern unserer Credibility einen enormen Schaden zugefügt, an dem wir noch lange zu beißen haben. Aber du und ich, wir werden das Kind schon schaukeln.«

Jetzt kommt er doch zu mir herüber. Er hockt sich vor mich hin, nimmt meine Hände in seine. Sieht mir in die verquollenen Augen.

»Es wird alles wieder gut werden. Bald wird das Ganze vergessen sein.«

»Ich will nichts vergessen«, erwidere ich fassungslos. Dann fällt mir wieder die PK ein, wie er Lola hat wegrennen lassen. Wie er sie anschließend als unprofessionell bezeichnet hat. Wie er nicht ein Mal den Versuch gemacht hat, sie zu schützen.

Auf einmal ergeben ihre Sätze einen Sinn.

»Du hast sie verraten, Herb«, flüstere ich heiser.

»Sie hat uns verraten. Den ganzen Verein. Weil sie sich nicht unter Kontrolle hatte!«

Herb hat sich wieder an seine Schreibtischkante geflüchtet und bildet dort ein Bollwerk gegen meinen Zorn, der mich nun selbst auf die Füße treibt.

»Sie hatte Angst! Na und? Das ist das normalste der Welt.« Schritt für Schritt überbrücke ich die Distanz zwischen uns, die Hände zu Fäusten geballt. »Aber sie hat an ihrem Job gehangen, sie hat ihn immer gut gemacht. Darf man sich da nicht einmal eine Schwäche leisten?«

»Sie kann Angst haben, soviel sie will, sie darf sie nur nicht zeigen. Sie hat ihren Job verkackt, das hat sie allein sich selber zuzuschreiben.«

Herb schiebt sein Kinn vor. Seltsam, jetzt wirkt er fast wie eine Schildkröte. Ich stehe vor ihm und weiß nicht mehr, was ich von ihm denken soll. ›Du Arsch‹, würde ich ihm gern ins Gesicht schreien, aber da ist dieses Hemd, das soviel Vertrauen erzeugt. Schon werde ich weich, lasse die geballten Fäuste wieder sinken.

»Sag mir nur einmal, dass es dir leidtut um Lola«, flüstere ich und starre erneut auf seinen Hemdkragen. »Mehr will ich doch gar nicht hören. Ich brauche nur jemanden, der meine Trauer teilt.«

»Damit kann ich nicht dienen«, antwortet er mit seiner sonoren Stimme.

»Aber sie hat alles für den Job gegeben, für dich, für die Firma.«

»Lola hat eindrucksvoll bewiesen, wie minderwertig sie letztendlich war. Deswegen weine ich ihr keine Träne nach. Und das solltest du auch nicht. Geh meditieren, finde deine Mitte – und dann machst du ihren Job.«

Ich habe genug gehört, denke ich und betrachte stumm das eingestickte T.-H.-Logo, aus dem sich ein Faden gelöst hat. Sein Hemd. Es hat nicht ein einziges Mal seine Farbe verändert.

Ich kann das herrschaftsvolle Violett nicht mehr ertragen, das ihm den Posten als Teamleiter sichert. Diese Beständigkeit. Alles was ich bewunderte, als ich hier anfing, geht gerade den Bach runter.

Runter!

Eine gute Idee. Runter damit!

In slow motion betrachte ich, wie meine Hände zu seinem Kragen hochfahren, um daran zu zerren. Sie reißen die gesamte Vorderfront auf, die Knöpfe springen in wildem Tanz nach allen Seiten davon. Dann wird der Stoff über die Schulter geschoben, die Arme hinunter, ein weiterer Griff und der Saum rutscht aus dem Hosenbund. Er wehrt sich, aber ich fauche und kratze und ziehe und zerre solange an dem vermaledeiten Hemd, bis es nachgibt und ich ein paar Schritte zurücktaumle, beide Hände voll mit dunkelviolettem Trevor-Harris-Oberhemd, slim.

Allerdings – die Farbe bleibt. Obwohl die Sensoren nicht mehr in unmittelbarem Kontakt zum Textil stehen. Es sollte weiß sein, so wie bei Lola. Ich starre Herb an, der im weißen All-American-Baumwoll-T-Shirt vor mir steht, und mit einem Mal wird alles klar.

»Lügner«, flüstere ich. »Und du bezeichnest Lola als minderwertig? Das wagst du tatsächlich?«

Er hat keine Worte, um sich zu verteidigen. Er streckt nur die Hand nach seinem Hemd aus.

»Bitte!«

Ich schüttle den Kopf, presse das Beweisstück seines Betruges mit beiden Armen an mich. Er wird es nicht mehr zurückbekommen, soviel steht fest. Die Erkenntnis lässt mich tief Luft holen. Ich finde meine Mitte, verankere meinen Geist dort und spüre, wie ich zur Ruhe komme. Meine Beine erstrahlen in einem satten Jadegrün.

»Dafür wirst du bezahlen, Herb.« Ich lächle das Lola-Lächeln, mit dem sie stets ihre PKs eröffnete. Dann gehe ich aus der Tür, das billige violette Hemd in der Hand.

Alle können es sehen.



AUS: Gabriele Behrend - HUMANOID. Ab sofort beim p.machinery-Verlag erhältlich. Die Geschichte erreichte beim Marburg-Award 2011 den zweiten Platz.





Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen