Adam und Evelyn
Roman
320 Seiten, 9,95 €, dtv, München 2010
Beim Deutschen Taschenbuch Verlag ist gerade eine preiswerte und schmucke Fassung des 2008 beim Berlin Verlag erschienen Bestsellers von Ingo Schulze erschienen. Auf dem Cover eine passende Scène de l'amour namens "Dr. Demouchel" von Georg Baselitz, die schon auf der Hardcoverfassung des Berlin Verlages eingesetzt wurde.
Ingo Schulze schreibt schöne Geschichten aus dem Alltag, die immer ein bisschen knistern, ein bisschen wortkarg, aber immer vielsagend sind. Auch in diesem Roman, der im August 1989 bis zum Mauerfall im November spielt, Reiseströme in die CSSR und nach Ungarn, Wartende, auf Freiheit Spekulierende, die Öffnung der Grenzen in Ungarn Richtung Westen und schließlich die Leipziger sanfte Revolution, die die ganze DDR erfasste, der Fall der Mauer, Auflösung der DDR, dient dieser wichtige deutsche Wendepunkt der Geschichte als Hintergrund zu einer Liebesgeschichte zwischen Lutz, dem Damenschneider, und seiner Freundin Evelyn. Die an Arthur Schnitzlers "Liebesreigen" erinnernde Kreisbewegung wird erweitert um Mona, Michael und Katja, sowie andere Frauenfiguren in der Nebensache, darunter auch die Wirtin in Ungarn, bei der sie sich später aufhalten werden. Mit auf dem Weg ist auch Elfriede, die Schildkröte.
Ein ganz wertvolles Buch, es spricht einen an, lässt einen Zeitzeugen hautnah erleben. Es wird wohl seinen festen Platz neben der Chronologie der "sanften Revolution" in Ostdeutschland finden.
Lutz, der von Evelyn Adam genannt wird, wegen seines typischen Markenzeichens, einem ausgeprägten Adamsapfel, der sie magisch angezogen hat, der vor- und zurückweicht, sein Eigenleben hat, obwohl Adam eigentlich klein und hager ist, was sie nicht begeistert hätte. Aber so findet sie ihn schön. Er nennt sie Evi. Evelyn weiß vieles aus seiner Vergangenheit nicht, was am Ende des Romans klar wird, aber sie ist schon länger mit ihm zusammen und liebt ihn. Adam liebt sie auch, aber nicht alleine, denn sein Job hat diese verhängnisvolle Nähe zu Frauen, der er nicht mehr widerstehen kann, wenn er bei der Anprobe den weiblichen Halswirbel sieht, der wie ein Anschaltknopf in seinem Gehirn wirkt, und den Stoff der Kleider fühlt. Seine Kleider machen Frauen erst begehrenswert und der erste größere Test der Attraktivitätswirkung geschieht bei ihm. Die Frauen wissen das und lieben seine Schnitte, der genüssliche Zigarrenraucher ist gefragt.
So auch am 19. August 1989, als Lilly
auf seine Empfehlung den BH unter dem Stoff weglässt, weil er ihn stört. Adam kann nicht mehr widerstehen... Dummerweise erwischt ihn Evelyn in flagranti und verlässt ihn. Sie entschließt sich mit Freundin Mona und Michael aus dem Westen, der zu Mona kam, nach Ungarn zu fahren. Michael tritt hier pars pro toto gegen Adam an. Auch auf anderer Ebene: Adams 1961er Wartburg, genannt "Heinrich", gegen einen alten roten Passat, Kilometerstand 300.000. Der Vergleich Ost-West beginnt hier auf einfachem Niveau, wird jedoch durchgehalten bis zum Schluss und kehrt in vielen Dialogen wieder. Das Spiel der Liebe, der Reigen geht weiter. Adam kann nicht ohne seine Evelyn und folgt in seinem Auto. Evelyn, Mona und Michael merken es, Evelyn will ihn loswerden, zurückschicken, aber er ist nicht abzuschütteln. Mona ist bald überflüssig, denn Evelyn rückt bei ihrem Freund vor. Sie fährt verärgert in die DDR zurück.
Zu Adam steigt unterwegs Katja ein, die völlig abgebrannt und abgerissen in Adams Kofferraum über die Grenze geschmuggelt wird und mit ihm bis Budapest reist. Katja hat versucht die Donau zu durchschwimmen, was beinahe schief ging. Adam mag sie, pflegt sie, aber es läuft bis auf kleine Anklänge nichts. Hier ist Adam primär der Retter, nicht der Verführer. Auf dem Weg über Prag nach und in Budapest finden Adam und Evelyn sich immer wieder, wohnen zusammen in einer Budapester Pension. Adam bleibt wie ein Spürhund auf ihrer Fährte, zeltet schließlich im Garten der betreffenden Pension.
Evelyn lässt sich mit Michael ein, verliebt sich, schläft mit ihm, versucht ihren Adam zu vergessen und ist fast geneigt, mit Michael in den Westen zu gehen. Die Botschaft geht um, dass die Grenzen für immer aufgehen werden. Es beginnt eine Wartezeit, die Diskussion für und wider das Abhauen, mit wem und warum. Evelyn besinnt sich jedoch eines anderen. Michael und sie erleben einen Einbruch in sein Auto, die Scheibe kaputt, alles geklaut, auch ein Wendepunkt in ihrer Freundschaft, sie entfernen sich voneinander.
Adam näht einer Braut und der Wirtin Frau Angyal zwischenzeitlich ein Kleid, was ein ungeheuer großes Geschenk für die Ungarin ist und ihn einige lange Momente in diese typische verführerische Situation des Begehrten und Begehrenden bringt.
Evelyn bewegt sich wieder auf ihn zu, sie reden und verbringen mehr Zeit miteinander. Als die Grenzen aufgehen, fahren Michael und Katja schnurstracks mit dem demolierten Passat mit halber Windschutzscheibe in den Westen, sind bei den ersten Grenzgängern, die mit Kameras empfangen werden. Michael ist schon überfällig am Arbeitsplatz, er hat seine Urlaub bis zum Anschlag ausgedehnt. Er fährt Richtung Hamburg weiter, Katja bleibt in Bayern. Adam und Evelyn erörtern den Ernstfall und fahren dann auch in die Freiheit, über Österreich, Graz, nach Bayern - in die Nähe von Rosenheim. Der Wartburg hat auch einen Macken, der Anlasser ist defekt. Adam möchte seine Freundin heiraten. Sie landen in einer bayrischen Pension, entdecken die westliche Freundlichkeit und finden eine Bibel in der Nachttischschublade. Der Sündenfall Adam und Evas wird hier symbolisch für den Fall der beiden, das Fremdgehen in der Beziehung und das Verlassen der Heimat, von ihnen erörtert. Sie kommen zum Schluss, dass diese Bibellösung, die Verheißung, dass sie in Schuld und verstoßen, außerhalb des Paradieses leben müssen, nur weil sie erkannten, was gut und was böse ist, weil sie sein wollten wie Gott und nur das ewige Leben zur Vollkommenheit noch fehlt, nicht das Wahre sein kann. Adam sieht keine Sünde darin, er empört sich über die Unverschämtheit der Bibelschreiber, den Menschen so etwas zu sagen. Dass sie nie dahin dürfen, wo sie hin wollen. Der ganze Sündenfall unglaubwürdig. Adam und Evelyn gehen zu Verwandten Adams und die Polizei verhört auch unsere beiden Einwanderer, um Spione der Stasi auszufiltern. Adam und Evelyn fühlen sich prompt an Behördenbefragungen im Osten erinnert und verstehen nicht, dass man im Westen auch verhört werden kann. Der Weg führt nach München.
Evelyn trifft sich mit Katja und erzählt ihr, dass sie schwanger ist. Sie weiß nicht, wer der Vater ist, Michael oder Adam. Seit Adam es weiß, spricht er nicht mehr mit ihr, er scheint verdattert über diese Wendung. Katja hat einen neuen Freund, Marek, der abgelegte Züricher Luxusklamotten im München auf dem Flohmarkt verkauft. Es ist November 1989. Der Roman endet mit dem Abschied von der Vergangenheit in einer ungewissen Szene. Adam verbrennt alte Fotos all seiner Geliebten im Garten, die Nachbarn laufen herbei wegen dem Feuer. Evelyn steht alleine mit sich und ihrem Spiegelbild in der Fensterscheibe im Haus und beobachtet Adam, dessen gleichmäßige Bewegungen sie erschrecken ... Als ob sie nicht angekommen wären und alle Entwicklung beendet sei.
Traurigkeit, dass jeder für sich alleine bleiben wird, getrennt, seinem Schicksal ausgeliefert, kommt auf. Ein Roman, der nicht nur die Mentalität der Bürger aus Ost und West beleuchtet, auch ihre Sorgen und Wünsche, ihre Hoffnungen und Zweifel in dieser Zeit, auf ihrem Weg in eine neue Zukunft sehr gut beleuchtet.
(fotos: cover - dtv; andere: privat)
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