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Dichterhain, Bände 1 bis 4

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Dichterhain, Bände 5 bis 8

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Montag, 1. August 2022

Prosa-Wettbewerb vom Literarischen Verein der Pfalz e.V.: Die Juni-Gewinnerin heißt Birgit Heid

 

Die Gewinnerin vom Monat Juni heißt Birgit Heid aus Landau:




Rückkehr


Ein grauer, benebelter Novembertag. Noch einmal will ich mein Elternhaus sehen und weiß doch, dass es das letzte Mal sein wird. Vater hat von seinen Plänen berichtet, und sie sind wie alles in seinem Leben unumstößlich. In Herzogpark habe ich fünfzehn Jahre gelebt, bis zum erzwungenen Auszug. Damals, als er zu seiner Auslandsreise eingeladen wurde und nur meine beiden älteren Geschwister mitnahm, da sie ihm behilflich sein konnten, waren meine beiden jüngeren bei den liebevollen Großeltern untergebracht. Ich studierte in Lausanne Piano. Ich hatte allen Grund, mich zu vertiefen, denn die Zeiten wurden von beiden Seiten rau. Nur noch ein paar Straßen. Ich gehe nicht schnell. Die Eindrücke von damals möchte ich in meinen Erinnerungen streifen, indem ich alles betrachte, was auf dem Weg liegt. Der Weg meines ersten Schulbesuchs. Die Töchterschule mag ich nicht mehr aufsuchen, diese Zeit ist versunken. Doch ich sehe vorne bereits die zweite Kreuzung, dort, von wo unser stattliches Haus zu sehen war. Einige Autos verzieren die Straßen und Gehwege. Noch immer wohnen die reicheren Leute hier. Trotz der Ruinen und Baulücken.

Stand hier das Haus meiner Schulfreundin Elli? Ich bin mir nicht sicher. Der Baum rechts davor kommt mir auf unmittelbar vertraute Weise bekannt vor. Eine Kiefer. Wie wenige Bäume den Krieg überlebt haben mögen? Es hat sich gut gefügt, dass mein ausgewählter Tag ein nebliger ist. Im Dunst ist das Sehen herabgesetzt und das Ahnen dringt nach vorne wie Nebelfahnen, die auf einem Berg zwischen den Bäumen entlangziehen und die Blicke auf sich lenken. Zugleich legt sich das hauchfeine Wasser auf Hände und Gesicht, es zieht wohltuend in die Lungen ein, gleich einem Tee, der noch im kalten Zustand seine wohltuende Wirkung zu erwirken vermag. Eine junge Frau fährt auf ihrem Vorkriegsfahrrad an mir vorbei und grüßt. Damals, als es mit unserem Haus zu Ende ging, war ich etwa so alt wie sie. Ich grüße zurück. Die Frage nach dem Wohnhaus der Freundin Elli ist etwas beiseite geschoben.

Auf dem Rückweg werde ich wieder hier vorbeigehen. Ein Mann in grauem Mantel nähert sich von rechts, von der Mauerkircherstraße. Darauf, dass ich jemandem begegnen könnte, den ich von früher kannte und der mich wiedererkennen könne, hatte ich mich nicht vorbereitet. Ich war davon ausgegangen, dass frühere Nachbarn und die Bekannten meiner Eltern in alle Winde verstreut seien. Von den elterlichen Freunden weiß ich, dass sie auch emigrierten; von denen lebt niemand mehr hier. Aber es gab auch die flüchtigen Bekannten. Dieser Mann ist etwa in meinem Alter. Er könnte mich kennen. Was würde ich erzählen? Dass ich aus Wehmut herkomme? Würde er es mir glauben? Würde er mich für verrückt erklären und mir den Vogel zeigen? Er sieht nicht auf. Er hat es eilig. Vielleicht hat er Spätschicht im Klinikum Bogenhausen. Oder ist arbeitslos und hat ein Bewerbungsgespräch. Er geht vorüber und ich bin erleichtert.

Mein Herz klopft und in meiner Manteltasche drehe ich ein Stofftaschentuch zwischen meinen Fingern zu einer Art kleinem Schwert. Mit dem Zeigefinger prüfe ich die Standfestigkeit der Spitze und bin noch nicht zufrieden. Die Finger werden feuchter. Ich knöpfe den Mantel auf. Da tauchen die ersten Büsche im Garten auf. Ich bleibe stehen, will noch nicht mehr wahrnehmen. Taste meine Blicke zwischen den kahlen Zweigen hindurch auf die Rasenfläche. Doch sie weicht meinem Suchen aus, zieht sich zurück, wird kleiner und kleiner. Verschwindet gar. Ein Schritt weiter. Die Fläche ist tatsächlich verloren. Ein Gewirr von Sträuchern, dazwischen hüfthohes Gras. Die große Treppe ist kaum mehr zu sehen. Die Fassade deutlich beschädigt. Auch das Mauerwerk darunter. Das Dach hat vorne ein Loch und hängt auf der Seite schief. Wie furchtbar mag es innen aussehen? Sein Zustand zu erblicken ist etwas ganz anderes, als nur von ihm gehört zu haben.

Links war einmal das Arbeitszimmer des Herrn, wie er es selbst gerne nannte. Hier war er für sich gewesen. Die Vorhänge hinter dem zerbrochenen Fenster hängen halb herunter. Im Ersten Obergeschoss sind die Läden abgerissen oder hängen schief und ich meine, sie im Wind wehen zu sehen. Doch genauer will ich es mir nicht anschauen. Das ehemalige Stadtpalais, mein Kinderhaus, ist jetzt ein Geisterhaus.

Nach und nach erfuhren wir, was es in den schlimmsten Jahren erlebte. Rassegesetze wurden hier vollzogen. Der Lebensborn sollte der Villa neues Leben einhauchen. Geschändet, so erscheint mir mein altes Refugium. Ich wende mich ab. Nun habe ich auch kein Bedürfnis mehr, den Isarstrand aufzusuchen. Der Nebel lichtet sich ein wenig. Ich sehe nicht mehr zurück.

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