Der Titel «Opernhaus des Jahres» geht 2020 zu gleichen Teilen an die Oper Frankfurt und das Grand Théâtre de Genève. Beide Häuser wurden in der jährlichen Umfrage der Zeitschrift «Opernwelt» unter 43 Kritikern für ihre geglückte Stück-Dramaturgie, ein stupendes Maß an Entdeckerfreude und höchst individuelle Regie-Handschriften ausgezeichnet. «Sängerin des Jahres» ist - und dies nach 2004, 2010 und 2015 zum vierten Mal - Marlis Petersen. Die Sopranistin wurde für ihre hinreißenden Darstellungen der Marietta/Marie in Korngolds Oper «Die tote Stadt» an der Bayerischen Staatsoper und der Königstochter Salome in Strauss’ gleichnamigem Musikdrama am Theater an der Wien ausgezeichnet. Zum «Sänger des Jahres» kürten die Kritiker den polnischen Countertenor Jakub Józef Orliński; Grund hierfür war vor allem seine betörende Lesart des Titelhelden in Händels «Tolomeo» am Badischen Staatstheater Karlsruhe.
Zum «Regisseur des Jahres» wurde mit deutlichem Vorsprung Tobias Kratzer gewählt; sein «Tannhäuser» bei den Bayreuther Festspielen 2019, ein intelligent-subversives Roadmovie, erhielt zudem den Titel «Aufführung des Jahres». Ein klares Votum gab es in der Rubrik «Wiederentdeckung des Jahres»: Paul Dessaus Musiktheater «Lanzelot» erlebte 50 Jahre nach seiner Uraufführung eine gefeierte Produktion am Deutschen Nationaltheater Weimar; in der Regie von Peter Konwitschny und unter der musikalischen Leitung von Dominik Beykirch.
Doppelten Grund zur Freude gab es bei der «Uraufführung des Jahres». Olga Neuwirths Virginia-Woolf-Vertonung «Orlando» an der Wiener Staatsoper erhielt ebenso viele Stimmen wie Hans Abrahamsens Andersen-Adaption «Snedronningen», die zunächst im dänischen Original am Königlichen Theater Kopenhagen und danach auf Englisch (als «The Snow Queen») an der Bayerischen Staatsoper herauskam, Sitz auch des «Orchester des Jahres». Bereits zum neunten Mal heimste das Bayerische Staatsorchester diesen Titel ein. Und auch dessen scheidender Generalmusikdirektor Kirill Petrenko, der ebenso wie Titus Engel zum «Dirigent des Jahres» gewählt wurde, war in den vergangenen Jahren häufig nominiert worden.
Klare Voten gab es in den übrigen Rubriken. «Bühnenbildnerin des Jahres» wurde Katrin Lea Tag (für ihre Ausstattungen der Frankfurter «Salome» und «The Bassarids» an der Komischen Oper Berlin), «Kostümbildner des Jahres» Achim Freyer (für seine mächtige Bilderwelt in Enescus «Œdipe» bei den Salzburger Festspielen 2019). «Chor des Jahres» ist, nunmehr zum 13. Mal, der Chor der Staatsoper Stuttgart. Das «Buch des Jahres», die Essaysammlung «Opernarbeit», hat deren langjähriger Chefdramaturg Sergio Morabito verfasst. «CD des Jahres» schließlich ist die Einspielung von Beethovens «Leonore» mit René Jacobs und dem Freiburger Barockorchester.
«Die Spielzeit 2019/2020», so das Resümee des verantwortlichen «Opernwelt»-Redakteurs Jürgen Otten, «wird im Gedächtnis bleiben als eine unvollendete. Dabei sollten wir aber nicht vergessen, dass es bis Mitte März dieses Jahres Tausende Vorstellungen gegeben hat: fulminante Uraufführungen, wichtige Wiederentdeckungen, ergreifende vokale Darbietungen, großartige Inszenierungen. Mag die Pandemie hier weiteren Entdeckungen Einhalt geboten haben, die Kunstform selbst hat schon zuvor erneut all jene Kulturskeptiker in die Schranken verwiesen, die nicht müde werden, der Oper museale Faktur und atavistische Tendenz andichten zu wollen, und damit ihre Tauglichkeit für die spätmoderne Wirklichkeit unter Beweis gestellt».
Statement Opernintendant Bernd Loebe
„Tagtäglich sind wir mit Fragen rund um die Corona-Krise beschäftigt: Wie stark greifen die Auflagen eines berechtigt strengen Hygienekonzepts in unsere eigentliche Arbeit ein? Wie können die entstandenen Einnahmeverluste kompensiert werden? Dürfen die engagierten Gäste überhaupt einreisen oder müssen sie sich zuerst in Quarantäne begeben, bevor sie unsere Bühne betreten können? Dies und vieles andere geht einem dieser Tage durch den Kopf, und dann führt uns eine Meldung vor Augen, worum es in unserer täglichen Arbeit eigentlich gehen sollte. Unsere Anstrengung, qualitative Inszenierungen auf möglichst hohem musikalischen Niveau zu zeigen, trägt weiterhin Früchte: Die Oper Frankfurt wurde zum 5. Mal bzw. zum 4. Mal während meiner Intendanz von den Autor*innen des Fachmagazins Opernwelt zum ‚Opernhaus des Jahres‘ gewählt.
Wie kam es dazu? Bis Mitte März 2020 waren wir auf dem Weg durch eine erfolgreiche Saison, u.a. mit Puccinis Manon Lescaut in der Sicht Àlex Ollés, Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk mit einem fulminanten Chor unter seinem Direktor Tilman Michael, Faurés Pénélope mit Paula Murrihy in der Titelpartie und Wagners Tristan und Isolde mit GMD Sebastian Weigle am Pult „seines“ Frankfurter Opern- und Museumsorchesters.
Als uns am 13. März 2020 nach der dritten Aufführung von Strauss’ Salome in der äußerst erfolgreichen Inszenierung von Barrie Kosky dann der Lockdown ereilte, standen noch vier Neuproduktionen auf dem Programm: eine Frankfurter Erstaufführung (Rossinis Bianca e Falliero), eine konzertante Aufführung (Ambroise Thomas’ Mignon), eine Uraufführung (Lucia Ronchettis Inferno) und Henzes Der Prinz von Homburg. Die meisten dieser Produktionen werden wir in einer späteren Saison zeigen und damit nachträglich das Bild von der Spielzeit 2019/20 vervollständigen, wie sie eigentlich hätte stattfinden sollen.
Dass uns eine solche Auszeichnung für eine derart verkürzte Spielzeit zuteil wurde, freut meine Mitarbeiter*innen und mich über alle Maßen. Wir verstehen sie als Ansporn, diesen seit 2002 eingeschlagenen Weg konsequent weiterzugehen.
Auch der Blick auf die weiteren, von den Opernwelt-Autor*innen ausgezeichneten Künstler*innen zeigt in Frankfurt wohlbekannte Namen, wenngleich nicht alle für ihre am Main geleisteten Arbeiten geehrt wurden: Frankfurts Lustige Witwe Marlis Petersen (‚Sängerin des Jahres‘), Jakub Józef Orliński (‚Sänger des Jahres‘) als Händels Rinaldo im Bockenheimer Depot, Tobias Kratzer (‚Regisseur des Jahres‘) mit Meyerbeers L’Africaine und Verdis La forza del destino in Frankfurt außerordentlich erfolgreich, Titus Engel (einer der beiden ‚Dirigenten des Jahres‘) ist regelmäßiger Gast am Main und Katrin Lea Tag (‚Bühnenbildnerin des Jahres‘) ist mitverantwortlich für den überragenden Erfolg unserer Salome.“