Christoph
Hein
Weiskerns Nachlass
Über den Autor:
Weiskerns Nachlass
Frankfurt 2011, 318 Seiten, Suhrkamp Verlag
„Er
war nicht immer so übersättigt und zynisch gewesen. Auch er war
einmal vergnügt und mit Energie in die Seminarräume gestürmt und
zu seinen Vorträgen, war bemüht, die jungen Leute aufzuwecken, sie
aus ihrer Lethargie zu reißen, ihnen Futter zugeben oder doch
anzubieten... Zu unterrichten bereitete ihm Spaß, er genoss es, ein
Lehrer zu sein. Dabei galt er, wie er wusste, als streng und
anspruchsvoll, er sein nie zufriedenzustellen, doch es hieß, er sei
gerecht und höre zu, was offenbar seltene Lehrertugenden waren...“
Rüdiger
Stolzenburg, der Romanheld, ist 59 Jahre alt und hat seit 15 Jahren
eine halbe Stelle als Dozent in einem kulturwissenschaftlichen
Institut in Leipzig.
Als
Dozent für Literatur und Kulturwissenschaften kennt er Schillers
Antrittsvorlesung an der Jenaer Universität über den Gegensatz
zwischen Brotgelehrten und Geisteswissenschaftlern. Stolzenburg ist
noch Geisteswissenschaftler, Aufstiegschancen existieren allerdings
für ihn nicht, mit seinem Gehalt kommt er nur schlecht über die
Runden. Dürftige Honorare für freie Aufträge helfen beim
Überleben.
Der
Romanheld ist ein typisches Beispiel des akademischen Prekariats und
des alternden, enttäuschten DDR-Wissenschaftlers. Ihm fehlt jede
Hoffnung auf eine bessere Zukunft oder wie Christoph Hein in einem
Interview über seine Hauptfigur sagt: „Das
Leben wird für Stolzenburg noch sehr viel härter werden. Aber da
sehen Sie meinen optimistischen Blick auf die Welt, dass ich
rechtzeitig den Vorhang schließe.“
Die
selbst gesetzten Maßstäbe an Lehre und Forschung kann Stolzenburg
unter den bestehenden Verhältnissen nicht aufrecht erhalten. Für
sein Forschungsprojekt über den Schauspieler, Librettisten Mozarts
und Kartografen Friedrich Wilhelm Weiskern lassen sich weder
Drittmittel noch Publikationsmöglichkeiten erschließen. Eine hohe
Nachforderung der Finanzamtes, die ihn an den Rande des Ruins treibt,
verdeutlicht Stolzenburg endgültig, dass in der privaten und
beruflichen Welt, den menschlichen Beziehungen und der Gesellschaft
Unverzichtbares abgewickelt wird. Moralische Werte verblassen.
Ablenkung
findet er bei seinen Freundinnen, die es aber nicht wagen dürfen, zu
tief in sein Leben einzudringen: „Er
liebt Frauen, aber er braucht die Distanz... Allein zu sein, das ist
für ihn lebensnotwendig. Zu viel Nähe verträgt er nicht.“
So hat er „regelmäßigen, brauchbaren, unkomplizierten Sex“ mit
der Friseuse Patricia, die ihn anhimmelt, die er fair behandelt, aber
nicht liebt. Schließlich lässt er sie allein zurück. Eine neue
Beziehung aufzunehmen, scheitert an Vorurteilen und Ängsten. Hein
beschreibt nüchtern die Unfähigkeit zu lieben, nicht, weil man
nicht lieben möchte, sondern weil man es verlernt hat.
„Aber
vielleicht, sagt er sich, ist er mittlerweile zu so etwas wie Liebe
nicht mehr fähig, vielleicht ist er zu alt dafür oder zu müde.
Nach wie vor ist er gern mit Frauen zusammen, er ist lieber in ihrer
Gesellschaft, geht lieber mit ihnen aus als mit seinen Freunden, und
die Gespräche mit Frauen sind ihm angenehmer als die etwas drögeren
Unterhaltungen mit Männern... Er verträgt es nicht, wenn Tag und
Nacht eine Frau um und bei ihm ist, und sei es auch nur im
Nachbarzimmer. Er hat sie gern, es macht ihm Spaß, für sie zu
kochen, er schläft gern mit ihnen, aber das war es dann auch.“
Um
den Wissenschaftler herum zerbrechen menschliche Beziehungen, setzen
Gewalt frei, geben mehr Schein als Sein preis. Schließlich wird er
ahnungsloses Opfer und unfreiwilliger Verfolgter in einem
Betrugsfall.
Hein
zeichnet außerdem ein düsteres Bild der jüngeren Generation. So
wird Stolzenburg von einer Teenager-Mädchenbande verfolgt, erpresst
und niedergeschlagen. Seine Studenten versuchen ihr Diplom gegen
Liebesleistungen oder Geld einzutauschen. Einige von Stolzenburgs
Studenten, wie der wenig Interesse zeigende Sebastian Hollert,
verfügen über ein Monatseinkommen, von dem er nur träumen kann.
Der
Roman beginnt und endet an Bord eines Flugzeuges. Die Maschine
gleitet ruhig dahin. Nur einer der Passagiere ist auf dem Flug nach
Basel ins Grübeln gekommen. Ein Kulturwissenschaftler, also kein
Grund zur Beunruhigung...
Christoph
Hein bewies schon mit dem Buch „Frau
Paula Trousseeau“ seine
Analysefähigkeiten. Dem Autor ist ein aktueller, realistischer,
literarisch gut durchdachter Gesellschaftsroman gelungen. Mich hat
das Buch sehr berührt. Michael Hametner, der mdr-Literaturredakteur
meint: „Hein analysiert
die Verhältnisse, in denen wir leben, so präzise, dass es einem bei
der Lektüre richtig kalt wird."
Christoph Hein wuchs in der Kleinstadt Bad Düben bei Leipzig auf. Er arbeitete als Montagearbeiter, Buchhändler, Kellner, Journalist, Schauspieler und Regieassistent. In Berlin und Leipzig studierte er zwischen 1967 und 1971 Philosophie und Logik. Danach wurde er Dramaturg und Autor an der Volksbühne in Ost-Berlin. Seit 1979 arbeitet er als freier Schriftsteller. Bekannt geworden ist Christoph Hein durch seine Novelle Der fremde Freund. Als Übersetzer bearbeitete er Werke von Jean Racine und Molière. Von 1998 bis 2000 war Christoph Hein erster Präsident des gesamtdeutschen PEN-Clubs und bis Juli 2006 Mitherausgeber der Wochenzeitung Freitag. Christoph Hein hat mit seiner inzwischen verstorbenen Ehefrau, der Filmregisseurin Christiane Hein, zwei Söhne, der jüngere ist der Schriftsteller und Arzt Jakob Hein. Hein ist Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste. Lyrische Werke von Christoph Hein wurden 2009 von Hans-Eckardt Wenzel unter dem Titel „Masken“ vertont.
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