„Der Freiwillige“ – Reportage über Witold Pilecki und die ignorierten Warnungen aus Auschwitz
Von den meisten Menschen erwartet man Mut. Von wenigen verlangt man Heldentum. Und dann gibt es jene, deren Entschlossenheit so radikal ist, dass sie fast außerhalb der menschlichen Vorstellungskraft liegen. Witold Pilecki gehört zu ihnen.
Die Entscheidung, die niemand verstehen konnte
Es ist September 1940, Warschau lebt im geduckten Rhythmus der Besatzung. Auf dem Platz vor einem Wohnhaus im Stadtteil Żoliborz steht ein Offizier der polnischen Heimatarmee, unscheinbar, die Hände in den Manteltaschen vergraben. Er wartet darauf, verhaftet zu werden.
Witold Pilecki hatte der Widerstandsführung vorgeschlagen, sich freiwillig in das neu errichtete Konzentrationslager Auschwitz einschleusen zu lassen. Ein Irrsinn, sagten manche. Ein notwendiger Schritt, sagte er.
„Ich wollte das Lager von innen sehen und seine Struktur erkennen.“
— Witold Pilecki, „Bericht aus Auschwitz“, 1943¹
Die Gestapo-Kontrolltruppen kommen. Er lässt sich widerstandslos mitnehmen. Wenige Stunden später ist er nur noch eine Nummer.
Unter der Nummer 4859
Auschwitz ist 1940 noch kein Vernichtungslager im industriellen Sinne – aber der Tod ist allgegenwärtig. Typhus, Hunger, willkürliche Erschießungen, Misshandlungen. Pilecki erkennt schnell, dass die Deutschen hier ein System errichten, das weit über Repression hinausgeht.
Er beginnt zu dokumentieren. Erst im Kopf, später in winzigen Notizen. Er formt Zellen des Widerstands, verschafft Medikamente, organisiert geheime Hilfsnetzwerke und baut einen Kommunikationskanal nach draußen.
„Menschen starben zu Hunderten, zu Tausenden, und die Welt wusste nichts.“
— Pilecki, Bericht 1943²
Über Kuriere gelangen seine Meldungen nach Warschau, später nach London. Dort liest man von ersten Vergasungen, systematischem Massenmord, medizinischen Experimenten. Es sind die frühesten detaillierten Augenzeugenberichte über Auschwitz.
***
Szene im Lager – Das Treffen in Block 11
Der Wind weht wie ein scharfes Messer über den Innenhof von Auschwitz. Nacht. Schneestaub hängt in der Luft. Hinter den Bretterverschlägen der Baracken knistert Atem wie das Rascheln trockener Blätter – der Schlaf der Erschöpften, der Ungeschützten.
In Block 11, dem „Todesblock“, flackert eine einzige, fast erloschene Kerze. Der Raum riecht nach feuchter Kleidung und Angst, aber auch nach etwas Seltsamem: konzentrierter Stille. Witold Pilecki, Nummer 4859, sitzt auf einer Pritsche, den Rücken gegen das kalte Mauerwerk. Sein Gesicht wirkt scharfkantiger geworden, geschnitzt aus Hunger und Entschlossenheit.
Die Tür öffnet sich einen Spalt. Eine Gestalt schlüpft hinein – ein tschechischer Häftling, der früher Architekt war, jetzt nur noch ein Schatten seiner Hände. Dann ein anderer, ein polnischer Sanitäter mit einem in den Ärmel gestickten roten Kreuz. Schließlich ein junger Mann, Litauer, kaum zwanzig, dessen Augen fiebrig glänzen.
„Wir haben drei Minuten“, flüstert der Sanitäter.
Pilecki nickt. „Setzt euch.“
Der Architekt zieht ein winziges Stück Papier aus der Schuhsohle. Darauf: Zahlenkolonnen und Kürzel. Namen der SS-Männer, Anzahl der Toten der Woche, Bewegungen neuer Transporte.
Pilecki beugt sich vor. „Der Ofen lief heute den ganzen Tag?“
Der Litauer nickt, als würde er sich schämen. „Kinder auch. Die ... die Lastwagen kamen aus dem Ghetto.“
Stille. Nur die Kerze schnauft wie ein müdes Tier.
Pilecki schreibt die Informationen in sein Gedächtnis, buchstabiert sie lautlos, wie ein Gebet gegen die Auslöschung.
„Es muss raus“, sagt er schließlich. „Noch diese Woche.“
„Wie?“ fragt der Architekt. „Die Kontrollen werden härter.“
Pilecki sieht jeden von ihnen nacheinander an. „Dann müssen wir härter sein.“
Ein Blick reicht. Sie verstehen. Nicht alle werden überleben, das wissen sie. Aber der Bericht muss Auschwitz verlassen. Wenn schon sie selbst nicht, dann wenigstens die Wahrheit.
Die Kerze stirbt. Schritte draußen. Das Treffen löst sich in Sekunden auf – ein Wispern, ein Rascheln, ein Verschwinden.
Zurück bleibt nur Pilecki, der die Dunkelheit in seine Brust schiebt wie eine kalte Waffe, die man noch für später braucht.
***
Die Flucht – ein Dokument retten
Im April 1943 flieht Pilecki. Drei Männer rennen in der Nacht über Felder, beschossen von Wachposten. Es gelingt. Wenige Wochen später lässt er die Berichte abtippen und versiegeln.
Die polnische Exilregierung übermittelt sie an die Alliierten. Was darin steht, ist so unfassbar, dass selbst erfahrene Diplomaten zögern.
„Wir hatten niemals zuvor eine solche Dimension des Bösen gesehen.“
— Aus einem Memorandum des polnischen Informationsministeriums, London 1943³
Warum niemand handelte
Die Frage verfolgt Historiker bis heute: Warum reagierten die Alliierten nicht entschiedener auf die Meldungen?
1. Zweifel an der Glaubwürdigkeit
Die Schilderungen schienen zu grauenvoll, um wahr zu sein. Manche britische Beamte nannten sie „exaggerated“ oder „unverified“⁴. Es gab zwar einzelne Warnungen seit 1942, doch Pileckis Berichte stellten das Ausmaß des Mordens in eine völlig neue Dimension – und stießen auf Unglauben.
2. Prioritätensetzung der Alliierten
Die britisch-amerikanische Kriegführung konzentrierte sich auf einen schnellen militärischen Sieg. Bombardierungen der Eisenbahnlinien oder der Krematorien in Auschwitz wurden diskutiert, aber als „ineffektiv“ oder „gefährlich für die Häftlinge“ abgelehnt⁵.
3. Geopolitische Zurückhaltung gegenüber Polen
Die Exilregierung Polens hatte seit 1941 an Einfluss verloren. Viele ihrer Meldungen wurden im politischen Ringen zwischen London, Washington und Moskau relativiert.
4. Bürokratie und Trägheit
Es gab in mehreren alliierten Ministerien ein Klima der Verzögerung. Man wollte verifizieren, prüfen, vergleichen – während täglich Tausende starben.
Der Historiker Michael Fleming fasst es so:
„Die Alliierten wussten genug, um zu handeln, aber entschieden, es nicht zu tun.“
Nach dem Krieg – ein Held, der unbequem wurde
Pilecki überlebte Auschwitz. Er kämpfte im Warschauer Aufstand. Und er überlebte auch den Krieg – nur um im stalinistischen Polen verhaftet zu werden.
Seine Berichte über die sowjetische Machtübernahme machten ihn zur Zielscheibe. Nach Folter und einem Schauprozess wurde er 1948 in Warschau hingerichtet. Seine Familie erfuhr jahrzehntelang nicht einmal, wo er begraben wurde.
„Ich könnte das, was ich im Krieg erlebte, überstehen. Aber das, was wir jetzt sehen, ist schlimmer.“
— Pilecki laut Aussagen seiner Frau Maria, 1947⁷
Erst nach 1989 wurde er rehabilitiert. Heute gilt er in Polen als einer der größten Widerstandskämpfer der Geschichte.
Ein Mann der die Wahrheit hinaustrug – und niemand hörte
Wenn man vor Pileckis Berichten sitzt – vergilbte, enge Typoskriptseiten –, liest man nicht nur Dokumente. Man liest einen verzweifelten Ruf aus einem Ort des systematischen Mordens, der die Welt hätte erschüttern müssen.
Dass er nicht gehört wurde, bleibt eines der schmerzlichsten Kapitel der alliierten Kriegsführung.
Warum verhafteten ihn die Kommunisten?
1. Er war Offizier der Heimatarmee (Armia Krajowa) – ein Feindbild der neuen Machthaber
Die Armia Krajowa (AK) war während des Krieges die größte polnische Widerstandsorganisation – antinazistisch, aber auch antisowjetisch.
Für die neue, von Moskau eingesetzte Regierung waren AK-Offiziere potentielle Gegner, viele wurden systematisch verhaftet, gefoltert oder liquidiert.
Pilecki verkörperte genau das, was der neue Staat vernichten wollte:
- unabhängiger Patriot
- verheiratet mit der polnischen Exilregierung in London
- mit breiten Kontakten zu Untergrundstrukturen
Er war also allein schon als Symbol gefährlich.
2. Er sammelte Informationen über sowjetische RepressionenNach 1945 arbeitete Pilecki im Untergrund weiter und berichtete an die polnische Exilregierung im Westen, wie die kommunistische Regierung:
- Oppositionelle verhaftete,
- Untergrundkämpfer folterte,
- Wahlen manipulierte,
- und politische Gegner „verschwinden“ ließ.
Er führte Geheimberichte über Gestapo-ähnliche Methoden des neuen Regimes.
Das war in den Augen der Sicherheitsdienste (UB – Urząd Bezpieczeństwa) Hochverrat.
3. Er blieb politisch unabhängig – und genau das machte ihn unkontrollierbarDer kommunistische Staat brauchte Loyalität oder Schweigen, aber keine moralischen Autoritäten.
Pilecki war beides – eine moralische Autorität und absolut unbestechlich.
Er lehnte es ab, sich in das neue System einzupassen.
Im Prozess warf man ihm Spionage vor. In Wahrheit ging es darum, ihn zum Schweigen zu bringen.
Wie seine Verhaftung ablief
Am 8. Mai 1947 wurde Pilecki in Warschau verhaftet. Die Untersuchungshaft war brutal. Zeugen berichten:
- er wurde geschlagen
- mit Schlafentzug gefoltert,
- in Zellen gesperrt, in denen man nur stehen konnte.
Ein Mitgefangener sagte später:
„Nach den Verhören konnte ich seine Haut sehen, nicht seine Kleidung.“
Pilecki selbst sagte zu seiner Frau bei einem Besuch:
„Oświęcim to była igraszka.“ – „Auschwitz war ein Kinderspiel dagegen.“
Quellen (Auswahl)
Pilecki, Witold: Raport Witolda (Auschwitz-Bericht), 1943.
Pilecki, Witold: The Auschwitz Volunteer. Beyond Bravery, Übersetzung der Berichte, 2012.
-
Polnische Exilregierung London: Auschwitz Reports, Archiv des Polish Institute and Sikorski Museum, 1943.
-
British Foreign Office: Memoranda zur Lage in Polen 1942–1944, National Archives, Kew.
-
United States War Refugee Board: Minutes and Reports, 1944.
-
Fleming, Michael: Auschwitz, the Allies and Censorship of the Holocaust, Cambridge University Press, 2014.
-
Garliński, Józef: Fighting Auschwitz, Fawcett Books, 1975.




