Xerxes und Atalanta, unten links: Arsamene und Romilda, unten Mitte: Amastre, unten rechts:
links hinten Arsamene, links vorne Romilda und Xerxes, rechts Amastre und Arsamene.
Bildnachweis: Barbara Aumüller
Die ewigen Geldsorgen, der Erfolgszwang das Unternehmen "Händel-Opern" am Laufen zu halten, nicht zuletzt auch der Konkurrenzkampf auf dem Londoner Kulturmarkt machten Händel langsam krank. Er sagt viele Vorstellungen ab, seine Presseunterstützung fällt aus, das Stimmungsbarometer bei den Zuschauern in London, aber auch in Deutschland, sinkt ab, seine erfolgreiche Zeit scheint vorüber, die Ereignisse stolpern übereinander. Schließlich auch die Angst vor einem finalen Flop, die Geschäfte liefen schlecht. Er bekam einen Zusammenbruch. Schlaganfall, motorische Überbelastung des Muskel- und Nervensystems, Rheuma, eine chronische Vergiftung durch den Verzehr bleibelasteten Portweins? Händel muss in die Kur nach Aachen, obwohl er keine Zeit hat. Dort komponiert er natürlich weiter, er kann seine Arbeit nicht liegen lassen.
Am 15.04.1738 im King's Theatre Haymarket, London ist es schließlich so weit. Mit "Xerxes", einer Oper über einen offensichtlich schwachen, auch schwach-sinnigen, launigen und cholerischen Perserkönig, der aus dem Nichts heraus zur Furie werden kann, sich und seine Macht maßlos überschätzt, seine Handlungsziele nicht genau kennt - bisweilen gemein, durchtrieben und hinterlistig, tritt Händel vor sein Publikum. Händel machte ihn zu einem schwachen Herrscher, der einen Baum (eine Platane) liebt, aber nicht seine Braut Amastre. Xerxes Arie "Ombra mai fu" erlangte Weltruhm, einer von Händels vielen Juwelen. Es ist die Liebeserklärung von Xerxes an seine geliebte Platane.
Xerxes ist schadenfroh, legt andere rein, mag es, wenn andere reinfallen, in Nöte geraten, gerade in der Liebe. Die Kriege, seine Eroberungen laufen weit weg ab, sein oberster Feldherr Ariodate regelt das, auch wenn die Befehle irrwitzig sind. Wer wollte tatsächlich mit primitiven Mitteln der Antike die Dardanellen/den Bosporus mit einer aus Holz gezimmerten (Pionier-)Brücke überwinden, um Europa zu erobern? Xerxes. Die Möglichkeiten der Architekten damals waren trotz Pyramiden und Ähnlichem nicht gerade geeignet, eine Meeresenge zu überbauen. Er versuchte es dennoch: unendliche Sklaverei für die Arbeiter, die zuhauf starben, die Stämme, die als Pfeiler dienen sollte, mussten von weither geholt werden, ihre Verbindungen nicht stabil, die Verankerung im Meeresboden so gut wie gar nicht als Fundament geeignet. Nach dem ersten Sturm war das Werk zerstört. Der historische Xerxes war bei den Feldzügen dabei, es gibt Anekdoten, die erzählen, dass Xerxes persönlich Versager auspeitschte, sogar das Meer, um es zu strafen für seinen Widerstand.
Xerxes bei Händel ganz anders, zu Hause im Palast mit seiner Platane beschäftigt, keinesfalls ein Held. Das Geschehen komödiantisch, Händel hat sich bei den italienischen Opern und Steigreif-/Straßenkomödien bedient, eigentlich eine komische Oper geschrieben, die ironisch alles beleuchtet. Genannt hat er diese Oper ein Dramma per musica. Wunderbare Händelmusik, eingesetzt, um Stimmungen und Emotionen zu unterstützen, Spannung und Höhepunkte zu feiern, Charakterbeschreibungen zu differenzieren. Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester unter der Leitung von Roland Böer als hervorragende Interpreten.
Xerxes (Bianca Andrew, einnehmend, strahlend, herrliche Mezzosopranstimme) verlangt es mit seinem Hof zu spielen. Und zwar wie partylike bei Adoleszenten, hier mit üppigen Gelagen, die von Tilmann Köhler tatsächlich an Fellinis Das große Fressen angelehnt werden. Lebensmittel im Überfluss, wertlos, sie werfen damit durch die Gegend und bewerfen andere. Schon hier ist klar, der Hausherr hat ein Defizit an Durchsetzungsvermögen, er ist kein souveräner König mit Ehr und Anstand. Ränke, Nebenbuhlerei, Überkreuzbeziehungen und Machtspielchen bestimmen den Alltag, der wirkliche liebende Menschen eifersüchtig, rasend macht, sie stark leiden lässt. Sie haben nichts anderes zu tun. In dieser Hinsicht ist wohl der historische Xerxes im Spiegel zu sehen, denn er hatte sehr viele Frauengeschichten und Affären, inklusive Streitigkeiten der Ehefrauen untereinander und mit ihm.
Xerxes begehrt Romilda (leidenschaftliches Stimmwunder der ukrainischen Sopranistin Kateryna Kasper), die aber tief verliebt ist in Arsamene (Lawrence Zazzo, begehrender Countertenor, barocknah sehr hohe Stimmlage), den Bruder von Xerxes. Xerxes ist eigentlich Bräutigam von Amastre (warnende, verzweifelte Altstimme der verschmähten, uns allseits bekannten Katharina Magiera). Er wiederum wird begehrt von Atalanta (attraktive kubanisch-amerikanische Sopranistin, seit 2019 professionell unterwegs) einerseits und Romilda andererseits. Beides Töchter des Ariodate (der barockmusikerfahrene Sebastian Geyer, Ensemblemitglied, überzeugend als Feldherr und Normalo), der natürlich gerne ins Herrschergeschlecht des Xerxes einheiraten möchte. Bei Xerxes geht das mit Handschlag, er kündigt an, dass einer aus dem Xerxesgeschlecht Romilda heiraten werde. Die Hochzeitsvorbereitungen beginnen - Xerxes sieht sich hier noch als zukünftiger Bräutigam. Dass er alle Beteiligten mit Eifersuchtsschmerz und Liebesqualen hinhält ist reichlich egal. Romilda widersteht ihm dreimal, sie will den Bruder. Xerxes plant sogar Bruder Arsamene zu beseitigen, gibt aber völlig widersprüchlich den Befehl an seinen Feldherrn, dass Romilda und Arsamene heiraten sollen. Beim Versuch, Romilda doch noch zu bekommen, schreitet Xerxes Braut Amastre ein und droht mit Doppelmord, ihr Bräutigam und sie selbst sollen Opfer werden. Im Nachhinein merkt er, dass sein Befehl, so gerecht er nach außen aussieht, ihn ja ausschaltet, was er nicht wollte. So kehren alle zu ihren Partnern zurück, Atalanta, die zweite Tochter des Feldherrn konnte Arsamene nicht gewinnen und geht leer aus. Ein Happy End? Der Herrscher eher unglücklich und in eine Beziehung gezwungen, die er nicht braucht. Xerxes liebt ja im Schatten seines Platanenbaums weiter nur den Baum. Seine Braut ist ihm eigentlich egal.
Die Platane von Karoly Risz, Bühnenbild, in ein Refugiumskämmerchen gepflanzt, das wie ein gläserner Aufzug wirkt. Kostüme von Susanne Uhl: der klassische Zweireiher für den scheinbar seriösen Xerxes, Romilda in knallrotem Kleid, Arsamene in prunkvoll-moderner Kluft als Gegenspieler des Bruders.
Das Herrschen nach ehrbaren Regeln fehlt tatsächlich - kein Wunder, dass die Zuschauer 1738 entsetzt waren. Die Herrscherfiguren durften zwar in diesem Zeitalter nie mächtiger als der reale Landes- oder lokale Fürst oder gar mächtiger als die gekrönten Häupter dargestellt werden, aber ihn lächerlich zu machen, obendrein noch dargestellt durch einen Kastraten-Opernsänger - was Pflicht war-, verkraftete das Publikum nicht. So einen Unsinn zu verzapfen an einem Herrscherhof? Abgelehnt, die Oper wird nur 5-mal insgesamt aufgeführt.
Ein lustiges Treiben, ausdrucksstarke barocke Musik, heute beliebt wegen der ironischen Konstruktion.
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