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Dichterhain, Bände 1 bis 4

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Dichterhain, Bände 5 bis 8

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Sonntag, 7. Oktober 2012

Dichterhain: WEINE NICHT, Kurzprosa von Artem Zolotarov








Irgendetwas weckte mich oder ließ mich einschlafen. Mein Zimmer schlummerte im Dämmerlicht der vorabendlichen Laternenlichter.
Es wirkte wie die Kulissen eines billigen Horrorfilmes, bei dem der Dekorateur angesichts seines geringen Honorars nur das Nötigste aufgestellt hatte. Etwas Trauriges lag in der Luft. Der bittere Nachgeschmack einer vergeudeten Jugend stieß auf das sich immer breiter machende Gefühl, verrückt zu werden. In meinem Kopf bauten sich hypothetisch Strukturen auf nur um kurz darauf, von der Seuche des gesunden Menschenverstandes zerfetzt zu werden. Wieder starrten mich meine blassen, gläsernen Augen im Spiegel an. Das, was ich sah, war weder Kind noch Mann, etwas dazwischen und außerhalb, verwaschen wie ein Wasserzeichen im Regen, ausgelöscht vom Ursprung, vertröstet vom Warten auf ein unausweichliches Ende. Ich musste hier raus.
Frische Luft der verpesteten Großstadtvenen füllte meine Lungen. Nasser Asphalt spiegelte das Licht der 100 Watt starken Sonnen, die in regelmäßigen Abständen am Straßenrand gepflanzt standen. Bunte Leuchtreklame hypnotisierte vorbeiziehende Individuen, versprach billiges Fliegen, unendlich weite Badestrände, traumhafte Frauen (nur minimal am Computer bearbeitet), all inclusive, alles, was das Herz begehrt. Paradies, so weit das Konto reicht.
Hände in den Taschen, den Blick nach unten, in meinen eigenen Gedanken wühlend, schlenderte ich immer weiter in die Nacht hinein. Mein Gang war unkoordiniert, ungezielt, es war ein Nachvornefallen, ein Zurseiteschwänken, das immer wieder damit endete, dass der jeweils betroffene Fuß doch noch den Fleck Erde vor sich fand, um mich sicher abzubremsen. Es ging langsam voran. Vor mir lag eine neue Stadt, ein neues Leben. Ob es besser werden würde?
Kurz vor Mitternacht drehte ich um und trat den Heimweg an. Alleine durch verlassene Straßen gehend, beschleunigte ich meinen Schritt. Autos streiften meine Aufmerksamkeit mit grellen Lichtern in deren Kegel ich für einige Augenblicke, unfreiwillig, zum erleuchteten Niemand in einer schlafenden Betonwüste wurde.
Etwa 100 Meter vor mir bewegte sich etwas. Nach wenigen Sekunden erkannte ich, was es war: ein Mädchen, etwa 1,60m groß, dunkle Haare, die nach hinten zusammengebunden ihren eigentlichen Zweck verfehlten. Angespannt und etwas verkrampft, rannte sie mir entgegen. Ein weißes Top und eine schwarze Hose, dazu Chucks-Schuhe. Kurz bevor sie an mir vorbeirannte, sah ich in ihr Gesicht. Aus zusammengekniffenen Augen liefen Tränen, ihre roten Wangen glänzten, der Mund, voller Bitterkeit, zu einem halbovalen Bogen geformt. Ihre Aura durchdrang mich, durchdrang meinen Körper, meine Seele, raste durch alle Nervenbahnen. Es war, als ob ein Teil von mir in ihr wäre. Ein Teil, den ich schon so lang gesucht hatte, dass ich von seiner Existenz vergessen hatte, ein Teil, der mir fehlte, wie der i-Punkt über dem i, wie die kleine Innentasche bei Jeanshosen, wie der Geruch von Neubüchern, wenn man sie zum ersten Mal in der Hand hält, wie etwas, das nicht unbedingt notwendig erscheint, dessen Fehlen aber eine Unvollkommenheit spüren lässt, eine schmerzliche Ahnung, wie es sein könnte, wäre er da.
Ich wollte sie anhalten, wollte sie umarmen, ihr zeigen, was ich empfand, ihre Tränen stillen und sie nie wieder weinen lassen. Doch ich konnte nicht. Sie lief an mir vorbei und ich schaffte es nicht einmal, mich umzudrehen. Ich stand da und schaute in die geschwülstartige Schwärze der Nacht, die mich paralysierte, mich lähmte, so schwer auf mir lag, dass ich nicht mehr atmen konnte, nicht mehr atmen wollte, nicht mehr atmen sollte, wäre ich auch nur eine Sekunde ohne sie, ohne ihre Wärme, die ich nie zu spüren bekam, die mir so fehlte in dieser kalten, toten Hölle, gepflastert mit toten Seelen.
Nach einer Ewigkeit oder nur wenigen Sekunden, schaffte ich es mich doch noch umzudrehen.
Die Straße war leer.

(c) Artem Zolotarov

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