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Dichterhain, Bände 1 bis 4

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Dichterhain, Bände 5 bis 8

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Sonntag, 2. Juni 2024

Literarischer Verein der Pfalz e.V. - Schreibwettbewerb I Monatssieger April 2024

Noahs Frau 
von Ulrich Bunjes


Mit seinen Nachbarn muss man irgendwie auskommen, aber manchmal sind sie ein großes Problem. Mein nächster Hausbewohner heißt Norbert und raubt mir nicht selten den letzten Nerv.
Neulich klingelte er und erklärte mir auf dem kalten Hausflur ohne weitere Einleitung, mit vor Aufregung glänzenden Augen: „Ist das nicht bemerkenswert? Dass man so viel von dem Archebauer Noah weiß, aber nur so wenig von seiner Frau? Hast du dir das schon einmal überlegt?“ War der Mann übergeschnappt?
„Ich finde das äußerst seltsam“, setzte Norbert seinen Gedanken unbeirrt fort, „in der Schöpfungsgeschichte werden lang und breit die Bauanleitungen wiedergegeben.
Dreihundert Ellen lang, fünfzig breit, dreißig hoch, der Eingang an der Seite, drei
Stockwerke, alles mit Pech abgedichtet. Fertig ist die Arche.“
„Ja, danke“ sagte ich und machte Anstalten, die Tür zu schließen. Aber er war nicht
zu bremsen.
„Und dann die Passagierliste — Noah selbst, und seine Söhne, die er gezeugt hatte,
als er fünfhundert Jahre alt war. Dann die Frauen seiner Söhne. Und seine Frau —
wenigstens die hätte man doch beim Namen nennen können, finde ich.“ Norbert
machte ein bekümmertes Gesicht. “Bei allem, was sie durchmachen musste. Mehr
als vierzig Tage lang nur Wasser sehen, für alle kochen und Wäsche waschen.“
Meine Aufmerksamkeit war geweckt. Ich sagte: „Am bemerkenswertesten findest du
wahrscheinlich, dass man mit fünfhundert noch Vater werden kann …“
„Ich finde es jedenfalls erstaunlich,“ spann Henrik ungerührt seinen Gedanken weiter.
„Wenn ich so darüber nachdenke, lässt es die Autoren der Bibel nicht gut aussehen,
dass sie wiederholt die Namen seiner Söhne nennen, aber nie den Namen seiner
Frau. Wie die arme wohl geheißen hat? Hat nicht jeder das Recht auf einen
Namen?“, sagt er verträumt, „vielleicht hieß sie Sarah oder Lara oder Ruth oder
Deborah …“
„Oder Bathseba oder Tamara oder Tabata — ist dir klar, wie lächerlich du klingst?“,
fuhr ich dazwischen. „Ich habe für solches Klein-Klein weder Lust noch Zeit.“ Ich
machte einen neuerlichen Versuch, die Wohnungstür zu schließen. Norbert stellte
einen Fuß dazwischen.
„Nimm das nicht auf die leichte Schulter“, sagte er mit Nachdruck und einer Hand
fest auf meinem Türgriff.
„Entspann dich,“ sagte ich, um die Situation zu entschärfen, „ich hab’s nicht so mit
der Bibel.“
„Deine Sache“, erwiderte er ungerührt, „aber nachdenken wird man wird doch noch
dürfen.“ Die Enttäuschung über mein unverhohlenes Desinteresse war ihm
anzumerken. Dabei war es nicht das erste Mal, dass ich seine Spinnereien nicht
richtig würdigte. Einmal hatte er versucht, mir weiszumachen, dass man im Leben
umso erfolgreicher sei, je heftiger man von der Schule geflogen war; als Beispiele
nannte er Humphrey Bogart und Salvador Dali.
Zum Abschied hob er eine Hand und winkte mir zu. Seine Bewegung ließ mich an
einen Priester denken. Unsere Türen fielen gleichzeitig ins Schloss. Manchmal
wünsche ich mir andere, wesentlich simpler gestrickte Nachbarn.


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