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Mittwoch, 18. Mai 2011

Buchbesprechung: Winnetou August

Theodor Buhl
Winnetou August
Roman
320 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag;
19,95 €, Eichborn Verlag


Mit höchster sprachlicher Verdichtung erzählt Theodor Buhl eine erschütternde Geschichte von Flucht und Vertreibung. Winnetou August ist die Geschichte einer Familie in Schlesien, die in den Wirren des letzten Kriegsjahres und der Monate danach um ihre Existenz kämpft- die Flucht aus Oberschlesien erlebt, den Großangriff auf Dresden, den Einbruch der Roten Armee in Niederschlesien und nach einem Jahr in den Gebieten unter polnisch-russischer Verwaltung in den Westen vertrieben wird. Eindringlich werden die Fluchtbewegungen und die Orte, die heute in Polen liegen, beschrieben, fast gespenstisch präzise der Kriegsterror vergegenwärtigt.
Dabei werden die Protagonisten realistisch ins Bild gerückt, allen voran August, die Hauptfigur. Obwohl er die braunen „Kackebrüder" verachtet, muss er als beamteter Verwaltungsinspektor einer Irrenanstalt in die NSDAP eintreten. Alkoholsüchtig, gleichwohl stark und clever, führt er Frau und Kinder unbeirrbar mutig durch die Katastrophe.
Für seinen achtjährigen Sohn Rudi ist die Welt des Krieges die Welt der Erwachsenen in deren Mittelpunkt die fast mythologische Vaterfigur August steht. Das Kind erlebt unmittelbar die Schrecken von Bombenkrieg, Vergewaltigung, Raub und Mord - die Grenzen zwischen der Welt der Irren, in der er und sein älterer Bruder Willy auf gewachsen sind, und der Welt des Krieges verfließen.
Der Roman hat mehrere Ebenen. Natürlich geht es um Flucht und Vertreibung, um die Nazidiktatur und den Krieg. Winnetou August ist aber auch der Roman einer Kindheit und der erwachenden Pubertät und Sexualität in einer untergegangenen Welt. Wie übersteht das Kind die Schrecken des Krieges? Es ist vor allem der Vater und es ist Winnetou als Inbegriff der Phantasiewelt Karl Mays, in die das Kind sich flüchtet, die ihm helfen, die unbegreiflichen Ereignisse psychisch zu ertragen.
Im Kontext des Zusammenbruchs aller Werte vermittelt August den Söhnen über Geschichte, Literatur und Geographie seinen eigenen Bildungskanon. Ängste und Phantasien der Heranwachsenden erhalten so in der Reflexion der realen Welt einen Halt.
Das Buch spricht duophon mit zwei Stimmen: der Stimme des Kindes Rudi Rachfahl und der Stimme des Erzählers, der dieses Kind gewesen ist.
Das Kind, ganz auf die Gegenwart begrenzt, nimmt hin, was ihm angetan wird - voller Fragen, die nicht beantwortet werden. Es reagiert auf das Bedrohliche eher körperlich, es nimmt wahr, ohne zu verstehen.
Der Erzähler: kalt und genau in der Beschreibung der Untaten und des Zusammenbruchs der Werte, sarkastisch-illusionslos gegenüber allen Angeboten an Tröstung und Verklärung.
Dabei gelingt es dem Autor mit seinem autobiographischen Roman im Sinne Walter Benjamins die Geschichte „als ein sich selbst tragendes Sprachgebilde" von relativierenden Erklärungen und Rechtfertigungen freizuhalten.
Mit sprachlicher Meisterschaft legt er einen auch metrisch und rhythmisch schlüssigen Text vor, dessen selbstverständlicher Leichtigkeit man die lange Bearbeitungszeit nicht anmerkt. (Germanisten und Literaturkritiker können ihre eigene Entdeckerfreude bei der Lektüre haben, wenn es darum geht die vielen Konnotationen zu entschlüsseln, die von Eichendorff über Poe, Altdorfer, Spinoza, Rembrandt, Manet usw. bis zum Alten Testament reichen.)
Buhl sieht darüber hinaus in seiner Arbeit einen Beitrag zum Projekt der europäischen Versöhnung und Verständigung, wenn er den deutschen Opfern des Krieges unter der Zivilbevölkerung ein Gesicht und eine Stimme gibt - einen Versuch zum Verstehen der deutsch-polnisch-russischen Geschichte, die hier nicht verdrängt wird durch angestrengtes Ruhenlassen, sondern als unumkehrbare Erfahrung auf dem Weg in ein gemeinsames Europa deutlich wird. Es ist ein Buch auch für alle Nachgeborenen, die den Krieg nur aus den Medien kennen.

Über den Autor:
Der Schriftsteller Theodor Buhl wurde 1936 in Bunzlau in Niederschlesien geboren. Seine Kindheit verbrachte er in Schlesien. Von 1940 an lebte die Familie in Lublinitz (Oberschlesien). Im Januar 1945 flüchteten sie vor der Roten Armee nach Plagwitz/Niederschlesien. Der Fluchtweg führte über Dresden, wo sie am 13. Februar 1945 den Alliierten Großangriff überstanden und dann zurück gingen nach Altreichenau und Bunzlau im heutigen Polen. Erneut in Plagwitz lebte Buhl mit seinen Eltern und Geschwistern ein Jahr lang unter russisch-polnischer Verwaltung, bevor im Sommer 1946 die Vertreibung nach Westen erfolgte. Bis 1950 war die Familie Buhl in sogenannten Flüchtlingslagern bei und in Bergisch-Gladbach untergebracht. Seit 1950 arbeitet und wohnt Theodor Buhl in Düsseldorf. Hier studierte er an der Kunstakademie sowie an der Universität Köln. Während seines gesamten Berufslebens als Lehrer und Lehrerausbilder für Gymnasien arbeitete er an literarischen Werken, daraus erwuchsen Kontakte zu Heinrich Böll und Peter Rühmkorf. Die ersten Fassungen von Winnetou August lagen bereits Ende der achtziger Jahre vor. Seitdem hat Buhl den Text mehrfach bearbeitet.

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