Wanderer, kommst Du auf die Welt, so wundere Dich nicht. Du wirst in Deinen ersten Lebensjahren gehätschelt und geliebt – oder auch nicht. Je nachdem, wo Dein Stern hernieder fällt. Vielleicht fällt er in eine kleine Krippe und Du wirst 33 Jahre später gekreuzigt.
Oder er fällt in einen Palast in England und Du stirbst nach einem schweren Unfall in einem Tunnel in Paris.
Vielleicht fällst Du aber auch in eine geordnete Familie und landest in einer geordneten Lehranstalt – mit oder ohne Prügel. Die Prügel kann auch seelischer Natur sein, indem man Dir Deine Seifenblasen kaputt macht.
Du lernst das kennen, was Frauen landläufig unter Liebe verstehen und Männer landläufig unter Sex. Da beginnt schon der erste Irrtum.
Nach Deiner ersten Trennung machst Du den gleichen Fehler nochmal und nochmal. Und später, wenn Du durch und durch erfahren bist und auch mit Weihwasser nicht mehr zu heilen, begreifst Du es. Du bist ein Weltenwanderer. Du wanderst ein langes Stück alleine des Wegs. Räuber überfallen Dich, schänden Dich vielleicht und Du fängst langsam an, Dich zu wehren.
Stark bist Du vielleicht geworden und mit Deiner neuen Bande streifst Du durch die Wälder und nimmst den Reichen, was den Armen ist. Fängst an, an das Gute zu glauben und verschreibst Deine Seele der Gerechtigkeit.
Gehst diesen einfachen Weg über Jahre und die anderen, die nicht so gerecht sind, verschleudern Deine Wertpapiere und Deine Aktien und Du fängst wieder von vorne an.
Findest jemand, der Dich begleitet ein weites Stück durch Regen und Dickicht. Er wärmt Dich des Nachts und trägt am Tag Deinen Rucksack, damit Du mit leichtem Gepäck gut voran kommst.
Aber auch dieser Freund trennt sich an einer Weggabelung von Dir, weil er seinen eigenen Weg gehen muss und Du gehst wieder ein Stück des Weges alleine Richtung Santiago de Compostela. Die Sonne brennt auf Deiner Haut und eine alte Frau, die Dir entgegenkommt, schenkt Dir Wasser aus ihrem Krug und gibt dir ein Stück Brot. Sie lädt Dich ein zu einem großen Fest und Du tanzt den Tanz der Liebe unter goldenen Sternen in der Nacht. Aber Dein Weg ist nicht zu Ende.
Im Morgennebel geht es weiter, immer weiter – Du alleine, mit dem Bild Deiner Mutter im Herzen. Ach, wäre sie doch bei Dir. Aber Du hast sie verlassen und sie ist ihren eigenen Weg gegangen – ist vielleicht schon da, in Santiago de Compostella und wartet auf Dich.
Und wenn Du das erkennst, siehst Du den hellen Stern am Himmel mit anderen Augen. Du begreifst, die Welt gehört Dir – und nicht Bon Jovi und auch nicht Udo Lindenberg. Du alleine gehst bis zur nächsten Weggabelung und entscheidest Dich, welchen Weg Du nun nimmst. Das ist schön, unsagbar schön.
Du nimmst Deine Gitarre, rauchst eine Gauloise und singst hoch auf den Bergen den Blues der Freiheit. Deine Stimme ist so laut, das man Dir folgen wird – hin nach Santiago de Compostela.
Dort wäscht man Dir Deine Füße, salbt sie und Du bist angekommen, endlich angekommen.
Karin Michaeli, Düsseldorf
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