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Es war 23:30 Uhr, als Friedrich Mertens, 74, ein pensionierter
Bibliothekar, auf einer Bank im Mainzer Hauptbahnhof Platz nahm. In
der einen Hand hielt er das Programmheft von Kleists „Der
zerbrochene Krug“ und einen Gedichtband von Mascha Kaléko, die er
beide wie einen Talisman festhielt.
Die Vorstellung war ein Triumph gewesen – sprachgewaltig,
pointiert, ein Spiegel der menschlichen Schwächen. Doch nun saß
Friedrich da, gestrandet zwischen den Welten, denn der reguläre
Nachtbus 618 in Ingelheim war seit 12. Mai 2025 eingestellt worden.
Stattdessen sollte nun „meinKARL“ fahren – ein flexibler
On-Demand-Nachtbus, man braucht nur ein gültiges Bahnticket oder ein
kostenloses Fairtiq-App-Ticket. Am Freitag und Samstag von 21 Uhr bis
2 Uhr morgens, von Sonntag bis Donnerstag von 21 bis 23 Uhr. Der Nachtbus muss
über myMobi-App oder Ingelheimer Website gebucht werden.
Friedrich hatte es versucht. Vor der Vorstellung hatte er
sich auf der Website bemüht, doch die Seite drehte sich im Kreis: Er
konnte kein Konto anlegen. Kein Code in der SMS. „Skriptfehler“, murmelte er, als wäre
es ein altgriechischer Fluch. Die myMobi-App? Ein Ding aus einer
anderen Welt – sein Tastenhandy verstand nur SMS und Wecker. Und
die telefonische Buchung? Nur werktags bis 16 Uhr. Es war Samstag.
Natürlich. Ein Ticket nach Mainz und zurück hatte er sich am
Automat gekauft.
Er seufzte, zog das kleine Fläschchen Obstbrand aus der
Manteltasche und nahm einen winzigen Schluck. „Technik, die
begeistert“, murmelte er bitter. „Oder besser: die entgeistert.“
Er fühlte sich verraten – von einem System, das Menschen wie ihn,
ohne Smartphone und App-Kenntnisse, einfach zurückließ. „Mobilität
für alle“, hatten sie gesagt. Aber offenbar nicht für
pensionierte alleinstehende Bibliothekare mit Füllfederhalter, aber
ohne Smartphone.
Ein junger Mann mit Kopfhörer setzte sich neben ihn. Friedrich
überlegte kurz, ob er ihn um Hilfe bitten sollte – aber der Blick
des Jungen war tief in ein leuchtendes Display versunken. Also unternahm Friedrich nichts, allein mit seinen Gedanken, dem Gedichtband und dem
Gefühl, dass Fortschritt manchmal einfach nur ein anderes Wort für
Ausschluss ist.
Und 20 Kilometer weiter, in Ober-Ingelheim, wartete sein Zuhause –
unerreichbar, obwohl es nicht weit war. Also begann Friedrich, mit
wachsendem Unmut, den ausgehängten Fahrplan zu studieren – auf der
Suche nach irgendeiner Verbindung nach Ingelheim, oder wenigstens in
die Nähe.
Letzte
reguläre Regionalzüge (RB oder RE) Richtung Bingen/Koblenz oder
Saarbrücken über Ingelheim fahren
tagsüber alle 20 Minuten, aber nach
23:30 Uhr wird es dünn.
Der letzte verlässliche Zug nach Ingelheim fährt in der Regel gegen
23:45 Uhr,
Ankunft in Ingelheim ca. 00:06
Uhr
– wenn er ihn noch erwischen könnte, wäre das seine Rettung. Nach
Mitternacht gibt es erst einmal keine Direktverbindung mehr.
Die nächste Möglichkeit wäre ein Umweg über Wiesbaden oder
Bingen, aber das würde bedeuten: lange Wartezeiten, umsteigen, und
ein Fußmarsch durch die Nacht – für ihn keine Option.
Die beiden Alternativrouten von
Mainz nach Ingelheim über Wiesbaden
und Bingen,
basierend auf den aktuellen Fahrplänen und Einschränkungen rund um
den 28. Juni 2025 sind normalerweise ein Katzensprung. Seit dem 2. Mai 2025 ist diese Strecke wegen Bauarbeiten allerdings weitgehend gesperrt.
Es fahren keine
S-Bahnen oder Regionalzüge
zwischen Mainz und Wiesbaden. Es gibt auch keinen
verlässlichen Ersatzverkehr
in der Nacht. Friedrich müsste ein Taxi nehmen – was den Umweg
teuer macht. Von Wiesbaden
Hbf nach Bingen Hbf mit dem RB75
existiert
eine Verbindung,
allerdings nur etwa
fünf Verbindungen
pro Tag, die letzte
war gegen 19:48 Uhr.
Der Umweg über
Wiesbaden ist also nicht
realistisch, da
beide Teilstrecken nachts nicht bedient werden.
Von Mainz
Hbf nach Bingen (Rhein) Hbf fährt
gegen 23:02 Uhr der
RE 2 über Ingelheim nach Koblenz. Der ist schon weg. Aufgrund
baustellenbedingter Ausfälle
zwischen Bingen und Ingelheim war diese Route mehr geschlossen als
offen.
Doch ein Taxi? Eine Fahrt von Mainz nach Ober-Ingelheim kostet
etwa 45 Euro, mit Mitfahrern günstiger, aber wenn keine da sind? Für
Friedrich ein stolzer Preis, aber vielleicht der letzte Ausweg? Na
ja, es geht auch noch „gelegentlich“ der Bus 620 Mainz-Hbf. nach
Heidesheim, von dort 4,5 km Heimweg zu Fuß. Nein danke, zu unsicher
...
Die RB 33 nach Koblenz um 23:45 Uhr wäre die beste Möglichkeit,
danach meinKARL – theoretisch! Der On-Demand-Service wäre ideal –
aber ohne App, ohne funktionierende Website, ohne Hotline am Abend
oder Wochenende bleibt er für Friedrich ein Phantom. Er ist ja auch
nicht angemeldet, am Ende nimmt der Fahrer ihn nicht mit, weil sein
Lieblingsfeind im Bus sitzt und sich weigert, ihn, Friedrich Mertens,
reinzulassen. Tatsächlich eine Mobilitätslösung, die ihn
vielleicht ausschließt?
Friedrich blickte auf die Bahnhofsuhr. 23:39 Uhr. Oh je, wenn er
sich noch wahnsinnig beeilt, könnte er den letzten Zug noch
erwischen. Er rafft sich auf, das Theaterprogrammheft mit der Kaléko unter den Arm
geklemmt, und eilte los. Vielleicht würde er doch noch heimkommen …
30 Minuten später in Ingelheim am Bahnhof trat jemand wie aus dem Nichts auf ihn zu. Eine junge Frau, vielleicht Ende zwanzig, mit hellem
Mantel und einem Smartphone in der Hand. Sie hatte ihn schon vorher
gesehen – erst am Theater, später am Bahnsteig. Jetzt blieb sie
stehen, zögerte kurz, dann sagte sie:
„Entschuldigen Sie…
Warten Sie auf meinKARL? Ich könnte für Sie schauen, wenn Sie
möchten. Ich heiße übrigens Clara.“
Friedrich blinzelte. Erst wollte er abwinken, aus Stolz, aus
Trotz. Aber dann sah er den Ernst in ihrem Blick. Diese Mischung aus
Mitgefühl und praktischer Entschlossenheit, wunderbar!
Er nannte ihr mit leicht zitternder Stimme, für die er sich augenblicklich schämte, sein
Ziel Ober-Ingelheim. Die junge Frau tippte flink auf dem Bildschirm herum,
las ihre Fahrtbestätigung. „Ich muss auch da hin. Der Bus kommt
frühestens um 24:00 Uhr, und fährt spätestens um 0:30 Uhr ab,
Lassen Sie uns einfach warten. Ich darf mehrere Mitfahrer mitnehmen.
Ein gültiges Bahnticket haben Sie ja auch. Fahren wir einfach zusammen.“
Nach einer
viertel Stunde bog ein großer, grüner und leerer Elektrobus um die
Ecke – „Sonderfahrt“ stand in Goldgelb oben und seitlich in der
Anzeige.
„Darf ich Ihnen hineinhelfen?“, fragte Clara. Friedrich nickte
nur wortlos. Als sie ihm beim Einsteigen half, sagte er leise: „Ich
hätte nie gedacht, dass Mascha Kaléko und eine junge Frau mit einem
Smartphone mal meine Rettung sind.“
Die Tür schloss sich sanft, der Bus setzte sich in Bewegung.
Friedrich lehnte sich zurück. Endlich auf dem Weg nach Hause –
nicht wegen, sondern trotz
der Technik. Und wegen eines Menschen, der hinsieht. Realistisch
betrachtet hätte er den Weg zum und mit dem meinKarl-Bus eventuell
gar nicht gefunden, wäre mit dem Taxi für 15 EUR heimgekommen. Wer soll das wissen, dass dieser Karl-Bus zeitliche Spielräume hat, manchmal auch andere mitnimmt, weil ein Mitfahrer das erlaubt? Oder er hätte vor lauter Fahrplan den letzten Zug nach Ingelheim verpasst.
Ja, dann hätte es nur eine Übernachtung in bahnhofsnahen Hotels
gegeben oder durchmachen bis zum ersten Zug um 4:33 Uhr, RB 33
Richtung Koblenz, falls der fahrplanmäßig gefahren wäre, denn es
gibt Abweichungen und Ausfälle wegen der Bauarbeiten. Nach Ober-Ingelheim wäre er ab 4:32 Uhr ab Bahnhof mit den Linien 618 und 619 gekommen, aber dauernd gegen den Schlaf kämpfend.
Puuh...
Wie sollen die ganzen Ausländer in Ingelheim, am meisten die Flüchtlinge aus der Ukraine denn verstehen, wie so etwas funktioniert? Plötzlich fahren keine regulären Busse mehr in der Nacht oder am späten Abend. All diese Menschen können kein Deutsch, andere müssen ihn das ausführlich und umständlich erklären. Wieso kommt er nicht zu einer festen Uhrzeit, fuhr zu Beginn ohne Fahrgäste davon, weil sie nicht angemeldet waren? Kassiert kein Geld, sondern man muss ein gültiges anderes Ticket der aktuellen Reise oder ein Gratisticket von Fairtiq zeigen. Darf einer mit, kann er mehrere andere mitnehmen, auch wenn sie keine Anmeldung haben. Rätsel über Rätsel. Wie passt das alles zusammen? Die Fahrgäste werden lachen und grübeln, warum das so ist ... So was findet man weder in Damaskus noch in Kiew.
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