SV Verlag

SV Verlag mit Handy oder Tablet entdecken!
Die neue Generation der platzsparenden Bücher - klein, stark, leicht und fast unsichtbar! E-Books bei viereggtext! Wollen Sie Anspruchsvolles veröffentlichen oder suchen Sie Lesegenuss für zu Hause oder unterwegs? Verfolgen Sie mein Programm im SV Verlag, Sie werden immer etwas Passendes entdecken ... Weitere Informationen

.

.
Dichterhain, Bände 1 bis 4

.

.
Dichterhain, Bände 5 bis 8

Übersetze/Translate/Traduis/Tradurre/Traducir/переводить/çevirmek

Freitag, 16. August 2019

Wie war's im Musical "Meine Herren und Damen: Marie!" in Neunkirchen / Saar?

Historisches Plakat    (c) Karl Maria Stadler, Wikipedia Common Sense 


Die Rolle und Gleichberechtigung der Frau ist ein ähnlich altes und insistierendes Problem wie die Sklavenhaltung, Degradierung anderer Rassen und Religionen im Verbund mit Verfolgung. In Deutschland trat aus dem frauenlosen Wählervolk und den Reihen der aufbegehrenden Frauen als erstes die Sozialdemokratin Marie Juchacz auf die politische Bühne der Weimarer Nationalversammlung, um für die Einrichtung einer Arbeiterwohlfahrt zu werben als dringender Notwendigkeit angesichts der Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung. Die AWO - Arbeiterwohlfahrt feiert 2019 ihr 100-jähriges Bestehen und zählt zu den ältesten Wohlfahrtsverbänden unseres Landes. Marie stellte in ihrer Rede die Selbstverständlichkeit einer Frauenbeteiligung in den Vordergrund:

"Ich möchte hier feststellen ..., dass wir deutschen Frauen dieser Regierung nicht etwa in dem althergebrachten Sinne Dank schuldig sind. Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist."

Das Wahlrecht war noch ganz jung. Am 30. November 1918 trat in Deutschland das Reichswahlgesetz mit dem allgemeinen aktiven und passiven Wahlrecht für Frauen in Kraft. Und im Januar 1919 war es erstmals so weit: Bei den ersten demokratischen Wahlen können Frauen und Männer wählen und gewählt werden! Am 5. Januar 1919 zur Wahl der Verfassunggebenden Landesversammlung der Republik Baden, am 12. Januar 1919 zur Wahl der Verfassunggebenden Landesversammlung des Freien Württembergischen Volksstaats und schließlich am 19. Januar 1919 zur Deutschen Nationalversammlung. Daher war die wirklich erste Frau, die bei einer Wahl in Deutschland auftrat, die Frau des Soziologen Max Weber. Marianne Weber von der DDP erhielt am 15. Januar 1919 im Karlsruher Ständehaus das Wort und wandte sich an ihre männlichen Kollegen:

"Wir Frauen können nur unserer hohen Freude und Befriedigung darüber Ausdruck geben, dass wir zu dieser Aufgabe mitberufen sind, und ich glaube, sagen zu dürfen, dass wir besser für sie vorbereitet sind, als vielleicht die meisten von Ihnen glauben."

In Neunkirchen Saar stieg auch dieses Jahr wieder ein prall gefüllter Musical-Ballon auf, um zu zeigen, was diese teilweise triste, aber dennoch gemütliche Arbeiterstadt an Potenzial zu bieten hat. In dem noch jungen Hüttenkulturareal mit Neuer Gebläsehalle läuft daher seit Tagen die Welturaufführung von "Meine Herren und Damen: Marie!" Ein Musical nach dem Leben von Marie Juchacz. Die AWO hat dieses Musical beim Musical Projekt Neunkirchen bestellt, das in der Lage ist, ganz unterschiedliche Thematiken in Szene zu setzen. Ich nenne hier nur STUMM und DER JEDERMANN! als zwei ausgezeichnete Ergebnisse der Konzeptionierung von bühnenwirksamen Musicals. Holger Hauer, Francesco Cottone und Amby Schillo haben das Stück gemeinsam entwickelt, Hauer das Buch und die Texte, Cottone als Komponist und musikalischer Leiter und Schillo als Komponist. Die Musicaldarstellerin und -dozentin Ellen Kärcher hat die künstlerische Leitung und Choreografie in der Hand, Musicaldarsteller/Regisseur Matthias Stockinger führt Regie.

Ein lobenswerter Versuch in Zeiten des Niedergangs der SPD die Geschichte aufzurufen, in der das Wirken der SPD wie auch anderer linker Parteien erst ein Bewusstsein für die Ausbeutung der Arbeiter im Industrialismus des 20. Jahrhunderts und zuvor schuf. Am Ende des Stückes lässt ein Regiekunstgriff die uralten oder auch toten Juchacz-Schwestern sich wieder treffen, um Rückschau auf das spätere Geschehen nach 1919 zu halten und stellen dann die allseits 2019 beschäftigende Frage: Was ist mit der SPD heute los? Daraufhin wechselt Elisabeth das Thema und erinnert daran, dass noch der Weihnachtsbaum fehle ... Wortlosigkeit bei zwei Kämpferinnen, die nicht mehr mit dieser damaligen Unterstützung in der Arbeiterschaft heute rechnen könnten. Die Zeiten haben sich geändert, heute würden die SPD wählen, die ihre Errungenschaften und Besitzstände durch Ausländer bedroht sehen, wenn es eine ausländerfeindliche SPD wäre. Ein Widerspruch in sich bei einer demokratisch offenen Partei.

Bühnenwirksam wird die Industriellenschicht der Arbeiterschaft gegenüber gestellt, Kinder- und Frauenarbeit in 14 Stunden des Tages. Die weiße Welt des protzigen Reichtums und die triste, schwarze der Arbeiter im Ersten Weltkrieg. Marie Juchacz mitten drin und immer empörter und engagierter angesichts der Ungerechtigkeit. Frauen engagierten sich und mussten es auch überall an den Fronten in der Versorgung, Rüstung und zu Hause. Überall wurde Hilfe benötigt. Dennoch erst am Ende des Krieges, der im Westen verloren wurde und im Osten gewonnen, die Geste, Frauen dafür anzuerkennen, sie gleichzustellen durch die Sozialdemokraten. Im untergehenden Kaiserreich noch keine Chance. 

Am 9. November 1918 hatten sich die Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands (MSPD) und die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) auf die Bildung eines Kabinetts geeinigt, das die Regierungsgeschäfte bis zum Zusammentritt einer noch zu wählenden Nationalversammlung führen sollte. Der Rat der Volksbeauftragten war ein sechsköpfiges paritätisch besetztes Kabinett, bestehend aus USPD- und MSPD-Politikern unter der Führung des Reichskanzlers Friedrich Eberts (MSPD) und Hugo Haases (USPD). Weitere Mitglieder waren Philipp Scheidemann und Otto Landsberg von der MSPD, sowie Emil Barth und Wilhelm Dittmann von der USPD. Diese Volksbeauftragten setzten das Frauenwahlrecht in Kraft.

Das Musical überzeugt insgesamt durch wirklich gute Choreographie, Tanz und Gesang, beeindruckende multimediale Ideen und Elemente, so die Karobildschirme hängend von der Decke, Lichteffekte und Highlighten von Personen, die alle in Einzelzellen wie Schachteln leben, isolierte Individuen von Natur aus. Ob Frau oder Arbeiter. Das Ausbrechen aus Zwängen wird in der Mitte des Bühnenbilds oben in einem tänzerischen Gestenspiel und Kampf mit einem straff gespannten Tuch symbolisiert.

Bei der Titelfigur überlegt man eine Zeitlang, warum nicht Hannah Neumann, die Maries jüngere Schwester Elisabeth spielt, statt Nina Sepeur die Titelrolle gegeben wurde. Wenn auch Sepeur überzeugt, ihre Weichheit überlagert das Kämpferische. Marc Schweig als Fabrikant Lehmberger wirkt eher untypisch, die Sprüche der Reichen gibt er natürlich gut wieder. Seine Gattin (Solveig Brandner) dagegen ein klares Bild der eingebildeten Unternehmerfrau. Vorarbeiter Edelmann (Nils Hollendieck) wirkt herrlich wilhelminisch untertan, aber doch eigenständig, und Elisabeth Juchacz Mann Karl (Tobias Sascha Schmitt) überzeugt als biersaufender Arbeiter-Wüterich, der mit seinen eigenen Gefühlen nicht umgehen kann, er hat ein Auge auf seine Schwägerin geworfen, schreckt nicht vor Besitzergreifen zurück, wenn er denn könnte, und tobt sich mit einer Prostituierten aus, die er schließlich brutal zusammenschlägt.

Das dynamische Nebeneinander von Geschehen und Musik, Tanz und Gesang unterhält den ganzen Abend. Der Propagandismus für die AWO klingt natürlich durch - so war es ja auch gewollt - und das History Entertainment kommt manchmal zu flach und kitschig, aber auch diese groben Formen werden gebraucht, um den Inhalt zu transportieren. Die Musik ein buntes Treiben durch die Zeit mit Brecht, Vaudeville, Arbeiterliedern, Jazz, Charleston und Burlesque. Langanhaltender begeisterter Applaus.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen