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Dichterhain, Bände 1 bis 4

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Donnerstag, 24. Oktober 2013

Liebe/Erotik-Bestseller RUSH OF LOVE, Band 2


Erfolgstitel in der Spiegel-Bestsellerliste - eine erotische Geschichte

Rush of Love - Erlöst

Abbi Glines
272 Seiten, Kartoniert, Band 2 der Reihe RUSH OF LOVE, Band 1: - Verführt

Blaires Welt bricht mit einem Schlag zusammen. Alles, was sie für wahr hielt, ist nichts als Lüge. Sie weiß, dass sie niemals aufhören wird, Rush zu lieben sie weiß aber auch, dass sie ihm niemals verzeihen kann. Sie versucht, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Ohne ihn. Bis ihre Welt erneut erschüttert wird. Doch was tun, wenn der Mensch, der einen am tiefsten verletzt hat, der Einzige ist, dem man noch vertrauen kann?


Abbi Glines, 1977 in Birmingham (Alabama) geboren, schrieb zahlreiche erfolgreiche Fantasy- und Jugendbücher, bevor ihr mit ihren »New Adult«-Romanen der internationale Durchbruch gelang. Heute lebt sie mit ihrem Mann und drei Kindern in Fairhope, Alabama.WEBSITE


Leseprobe
Rush of Love - Erlöst
Abbi Glines
Rush

Vor dreizehn Jahren …
Es klopfte an der Tür, dann war nur noch leises Fußscharren zu hören. Mir wurde schwer ums Herz. Mom hatte von unterwegs aus angerufen und mir gesagt, wo sie gewesen waren und dass sie sich nun erst mal mit ihren Freundinnen ein paar Cocktails genehmigen müsse. Was bedeutete, dass ich Nan trösten müsste. Meiner Mom wäre das nach all dem, was passiert war, zu stressig. Zumindest hatte sie das bei ihrem Anruf behauptet.
»Rush?«, rief Nan und bekam dann Schluckauf. Sie hatte geweint.
»Ich bin hier, Nan.« Ich rappelte mich aus dem Sitzsack in der Ecke hoch, in den ich mich gekuschelt hatte. Das war mein Versteck. So was brauchte man in diesem Haus. Hatte man keines, geschahen schlimme Dinge.
In Nans tränennassem Gesicht klebten Strähnen ihrer roten Locken. Mit bebender Unterlippe sah sie mit traurigen Augen zu mir auf. Glücklich blickten sie fast nie. Meine Mutter gab sich nur dann mit Nan ab, wenn sie sie herausputzen und mit ihr angeben wollte. Die übrige Zeit behandelte sie sie wie Luft. Ich dagegen tat mein Bestes, Nan das Gefühl zu geben, erwünscht zu sein.
»Ich hab ihn nicht gesehen. Er war nicht da«, flüsterte sie und schluchzte auf. Ich brauchte nicht zu fragen, wer er war. Das wusste ich auch so. Mom hatte Nans ewige Fragerei nach ihrem Vater sattgehabt. Und hatte beschlossen, mit ihr zu ihm zu fahren. Ich wünschte, sie hätte mir Bescheid gegeben und mich mitgenommen. Angesichts von Nans kummervoller Miene packte mich die kalte Wut. Wenn ich diesen Menschen je zu Gesicht bekäme, würde er von mir eins auf die Nase kriegen. Ich wollte ihn bluten sehen.
»Na, komm her«, sagte ich und breitete die Arme aus. Sie schlang ihre zarten Ärmchen um meine Taille und drückte mich fest. Solche Momente schnürten mir die Kehle zu. Sie tat mir so leid. Von meinem Dad wusste ich ja zumindest, dass er mich gernhatte. Er verbrachte Zeit mit mir.
»Er hat andere Töchter. Zwei. Und sie sind … sooo hübsch! Ihr Haar sieht aus wie Engelshaar. Und sie haben eine Mom, die sie draußen im Dreck spielen lässt. Sie hatten Tennisschuhe an. Schmutzige!« Nan war neidisch auf schmutzige Tennisschuhe. Bei unserer Mutter musste sie immer wie aus dem Ei gepellt aussehen. So etwas wie Tennisschuhe hatte sie noch nie besessen.
»Sie können nicht hübscher sein als du«, versicherte ich ihr im Brustton der Überzeugung.
Schniefend löste sich Nan von mir und sah mich mit ihren großen grünen Augen an. »Doch, sind sie. Ich hab sie gesehen. Und ich hab Fotos von beiden mit einem Mann an der Wand hängen sehen. Er liebt sie … und mich, mich liebt er nicht.«
Ich konnte sie nicht anlügen. Sie hatte recht. Er liebte sie nicht.
»Er ist ein Vollidiot. Aber du hast ja mich, Nan. Ich bin immer für dich da!«

Blaire


Gegenwart …
Fünfzehn Meilen außerhalb Stadt mussten reichen. Niemand aus Sumit würde so weit zu einer Apotheke fahren. Außer natürlich, er war neunzehn und wollte etwas besorgen, worüber niemand in der Stadt Bescheid wissen durfte. Alles, was in der Apotheke in Sumit, Alabama, gekauft wurde, machte in kürzester Zeit die Runde. Vor allem, wenn man unverheiratet war und Kondome kaufte … oder einen Schwangerschaftstest.
Mit gesenktem Blick legte ich die Schwangerschaftstests auf die Ladentheke. In meinen Augen mussten sich Angst und Schuldgefühle spiegeln, und das brauchte keiner zu sehen. Ich hatte es ja noch nicht einmal Cain erzählt. Seitdem ich Rush vor drei Wochen aus meinem Leben verbannt hatte, hatten Cain und ich wieder mehr Zeit miteinander verbracht. Es war so ungezwungen und einfach zwischen uns. Er drängte mich nicht zu reden, aber wenn ich darüber reden wollte, hörte er zu.
»Sechzehn Dollar und fünfzehn Cent, bitte«, sagte die Dame auf der anderen Seite der Ladentheke. Ich hörte die Sorge in ihrer Stimme. Was nicht überraschte. Schließlich handelte es sich um den Schandkauf, vor dem sich alle Mädchen im Teenageralter fürchteten. Ich gab ihr einen Zwanzigdollarschein, ohne den Blick von der kleinen Tüte zu heben, die sie vor mich hingestellt hatte. Diese Tüte enthielt die Antwort, die ich gleichermaßen brauchte und fürchtete. Es wäre leichter gewesen, einfach darüber hinwegzusehen, dass meine Periode zwei Wochen überfällig war, und so zu tun, als wäre alles wie immer. Aber ich musste es wissen.
»So, bitte schön, drei Dollar und fünfundachtzig Cent zurück«, sagte sie. Ich nahm das Wechselgeld aus ihrer ausgestreckten Hand.
»Danke«, murmelte ich und schnappte mir die Tüte.
»Ich hoffe, es wendet sich alles zum Guten«, sagte die Dame in freundlichem Ton. Ich hob den Blick und sah in ein mitfühlendes braunes Augenpaar. Sie war eine Fremde, die ich nie wiedersehen würde, aber in diesem Moment half es, dass es eine Mitwisserin gab. Ich fühlte mich nicht mehr so allein.
»Ich auch«, erwiderte ich, bevor ich mich umdrehte und durch die Tür wieder in die heiße Sommersonne trat.
Ich war auf dem Parkplatz zwei Schritte weit gekommen, als mein Blick auf die Fahrerseite meines Pick-ups fiel. Cain lehnte dagegen, die Arme vor der Brust verschränkt. Seine graue Baseballkappe, auf der ein »A« für »University of Alabama« prangte, hatte er sich tief ins Gesicht gezogen, sodass ich seine Augen nicht sehen konnte.
Ich blieb stehen und starrte ihn an. Es brachte nichts, ihn anzulügen. Ihm war klar, dass ich nicht hergekommen war, um Kondome zu kaufen. Es gab nur die andere Möglichkeit. Auch wenn ich seinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte, wusste ich, dass er es wusste.
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter, der mich schon plagte, seitdem ich am Morgen in den Pick-up gestiegen und zur Stadt hinausgefahren war. Nun waren es nicht nur ich und die Fremde hinter der Ladentheke, die Bescheid wussten. Mein bester Freund tat es auch.
Ich zwang mich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Er würde Fragen stellen, und ich müsste sie beantworten. Nach den letzten Wochen war ich ihm das schuldig. Er verdiente es, die Wahrheit zu erfahren. Nur: Wie fing ich an?
Kurz vor ihm blieb ich stehen. Ich war froh, dass er sein Gesicht beschirmte. Seine Miene wollte ich lieber nicht sehen, wenn ich ihm alles erklärte.
Zunächst mal schwiegen wir uns an. Ich wollte, dass er das Gespräch begann, aber nachdem er gefühlte zehn Minuten nichts sagte, fragte ich schließlich: »Woher hast du gewusst, wo ich bin?«
»Schließlich wohnst du bei meiner Großmutter. Kaum hast du angefangen, dich sonderbar aufzuführen, da hat sie auch schon bei mir angerufen. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht«, erwiderte er.
Tränen brannten in meinen Augen. Ich würde jetzt nicht losheulen. Geheult hatte ich nun wirklich schon genug. Ich drückte die Tüte mit den Schwangerschaftstests fester an mich und straffte die Schultern. »Du bist mir hinterhergefahren«, sagte ich. Es war keine Frage.
»Na logisch«, erwiderte er, schüttelte den Kopf und wandte dann den Blick vom mir ab. »Hattest du eigentlich vor, es mir zu erzählen, Blaire?«
Hatte ich das? Keine Ahnung. So weit war ich mit meinen Überlegungen noch gar nicht gekommen. »Ich bin mir ja noch nicht mal sicher, ob’s überhaupt was zu erzählen gibt«, antwortete ich aufrichtig.
Wieder schüttelte Cain den Kopf und lachte dann höhnisch auf. »Nicht sicher, ja? Du bist die ganze Strecke hierhergefahren, weil du dir nicht sicher bist?«
Er war wütend. Oder verletzt? Für beides gab es überhaupt keinen Anlass. »Ich bin mir auf jeden Fall nicht sicher, bis ich diesen Test gemacht habe. Meine Tage sind überfällig. Das ist alles. Und jetzt sag mir, wieso ich dir davon erzählen sollte. Dich betrifft’s doch gar nicht!«
Langsam richtete Cain seinen Blick wieder auf mich. Er schob seine Kappe zurück, sodass seine Augen nicht länger beschattet wurden. Ungläubigkeit und Kummer waren darin zu lesen. Damit hatte ich gar nicht gerechnet. Das war fast schlimmer, als in seinen Augen Verdammung zu entdecken. In gewisser Hinsicht wäre mir das lieber gewesen.
»Wirklich? So siehst du das also? Nach allem, was wir durchgemacht haben, denkst du so darüber?«
Du meine Güte, was wir durchgemacht hatten, lag lange zurück. Genau genommen hatte ich eine Menge mit ihm durchgemacht. Während er seine Highschoolzeit genossen hatte, hatte ich alle Mühe gehabt, dass mir mein Leben nicht entglitt. Was bildete er sich eigentlich ein? Mich packte die Wut, und ich funkelte ihn an.
»Ja, Cain. Genau so sehe ich das! Ich kapiere nicht ganz, was genau wir deiner Meinung nach durchgemacht haben. Wir waren beste Freunde, dann waren wir ein Paar, schließlich wurde meine Mom krank. Aber du hattest nur Sex im Kopf und hast mich betrogen. Und ich habe mich allein um meine Mom gekümmert. Ohne jemanden zu haben, bei dem ich mich hätte anlehnen können. Dann starb sie, und ich fuhr nach Florida. Danach war mein Herz in Stücke zerrissen, und meine Welt lag in Scherben. Ich kam wieder nach Hause. Und du warst für mich da. Ich habe dich nicht darum gebeten, aber so war’s nun mal. Klar bin ich dir dafür dankbar, aber deshalb kann ich noch lange nicht sagen: Okay, was davor war – vergeben und vergessen! Schließlich hast du mich genau da, wo ich dich am dringendsten gebraucht hätte, im Stich gelassen! Verzeih mir also bitte, dass ich, wenn mir gerade wieder der Boden unter den Füßen weggerissen wird, nicht gleich zu dir gerannt komme. Das hast du dir noch nicht verdient!«
Ich atmete schwer, und die Tränen, gegen die ich angekämpft hatte, liefen mir nun über die Wangen. Verdammter Mist, ich hatte doch nicht weinen wollen! Ich ging auf ihn zu und stieß ihn mit aller Kraft aus dem Weg, damit ich zur Wagentür kam. Nur weg von hier. Weg von ihm.
»Geh da weg!«, schrie ich und versuchte, die Tür aufzumachen, gegen die er immer noch lehnte.
Ich rechnete damit, dass er auf mich einreden würde. Ich rechnete mit allem Möglichen, nur nicht damit, dass er tat, worum ich ihn gebeten hatte. Doch so war’s. Ich stieg auf den Fahrersitz, warf die kleine Plastiktüte auf den Sitz neben mich, ließ den Motor an und stieß zurück. Cain hatte sich geradeso viel vom Fleck gerührt, dass ich einsteigen konnte. Er stand da und starrte zu Boden, als würde er dort alle Antworten finden.
Vielleicht hätte ich ihm das nicht alles an den Kopf knallen sollen. Vielleicht hätte ich alles für mich behalten sollen wie all die Jahre zuvor auch schon. Aber jetzt war es zu spät. Er hatte mich zum falschen Zeitpunkt auf dem falschen Fuß erwischt. Und ich würde mir deswegen jetzt keine Vorwürfe machen.
Zu seiner Großmutter konnte ich nun allerdings auch nicht zurück. Ihr schwante etwas. Und wahrscheinlich würde Cain sie anrufen und ihr alles brühwarm erzählen. Na ja, vielleicht nicht die ganze Wahrheit, aber etwas, das ihr nahekam. Also blieb mir nichts anderes übrig, als den Schwangerschaftstest auf der Toilette irgendeiner Tankstelle zu machen. Konnte es noch schlimmer kommen?

Rush

Früher hatten die Wellen, die ans Ufer brandeten, mich immer beruhigen können. Wenn ich eine andere Sicht auf die Dinge brauchte, hatte ich mich schon seit Kindheitstagen hier auf die Terrasse verzogen und das Meer beobachtet – und es hatte immer geholfen. Doch jetzt haute das nicht mehr hin.
Das Haus war leer. Meine Mutter und … der Mann, der, wenn es nach mir ginge, für alle Ewigkeit in der Hölle schmoren sollte, hatten es verlassen, als ich vor drei Wochen aus Alabama zurückgekommen war. Ich war wütend, am Boden zerstört und völlig außer mir gewesen. Nachdem ich gedroht hatte, diesen Kerl umzubringen, hatte ich gefordert, dass er und meine Mutter sofort das Haus verließen. Ich wollte keinen von beiden mehr sehen. Eigentlich hätte ich meine Mutter in der Zwischenzeit einmal anrufen und mit ihr reden müssen, aber dazu konnte ich mich einfach nicht durchringen.
Ihr zu verzeihen war leichter gesagt als getan. Nan hatte etliche Male vorbeigeschaut und mich angefleht, mit Mom zu reden. Nan konnte für das alles ja nichts, aber auch ihr konnte ich mich nicht anvertrauen. Sie erinnerte mich daran, was ich verloren hatte. Was ich kaum gehabt hatte. Was zu finden ich nie erwartet hatte.
Ein lautes Klopfen riss mich aus meinen Gedanken. Ich begriff, dass jemand vor der Tür stehen musste, denn nun klingelte es obendrein noch. Danach wieder Klopfen. Wer, verdammt noch mal, war das? Seitdem mich Blaire verlassen hatte, hatte mich außer Grant und meiner Schwester niemand mehr besucht.
Ich stellte mein Bier auf dem Tisch neben mir ab und stand auf. Wer auch immer es war, er hatte besser einen guten Grund, hier völlig uneingeladen aufzukreuzen. Ich ging durchs Haus, das noch picobello aussah, seit Henrietta, die Zugehfrau, es beim letzten Mal sauber gemacht hatte. Ohne Partys oder überhaupt ein gesellschaftliches Leben war Ordnung zu halten kein Problem mehr. Eigentlich gefiel mir das viel besser so.
Es klopfte mittlerweile wie wild, und ich riss die Tür auf, um der Person dahinter mitzuteilen, sie solle sich zum Teufel scheren. Doch die Worte blieben mir im Hals stecken. Dass mir dieser Typ wieder unter die Augen käme, hatte ich nicht gedacht. Ich war ihm nur einmal begegnet und hatte auf Anhieb eine tiefe Abneigung gegen ihn verspürt. Nun war er hier, und ich hätte ihn am liebsten an der Schulter gepackt und geschüttelt, damit er mir sagte, wie es ihr ginge. Ob alles okay mit ihr wäre. Wo sie jetzt wohl wohnte? Gott, doch wohl hoffentlich nicht bei ihm? Was, wenn er … Nein, nein, nein, das durfte nicht sein! Das würde sie nicht tun. Meine Blaire doch nicht!
Automatisch ballten sich meine Hände zu Fäusten.
»Eines muss ich wissen«, sagte Cain, der Junge aus Blaires Vergangenheit, den ich ungläubig anstarrte. »Habt ihr«, er stockte und schluckte. »Hast du sie … Ach, fuck …« Er nahm seine Baseballkappe herunter und fuhr sich durchs Haar. Er hatte dunkle Augenringe und sah erschöpft aus.
Mir blieb das Herz stehen. Ich packte ihn am Arm. »Wo ist Blaire? Alles in Ordnung mit ihr?«
»Es geht ihr gut … Also, es ist alles okay mit ihr. Und jetzt lass mich los, verflucht noch mal, du brichst mir ja noch den Arm!«, schnauzte Cain und riss sich von mir los. »Blaire ist gesund und munter in Sumit. Deswegen bin ich nicht hier.«
Ach nein? Wieso denn dann? Außer Blaire verband uns doch nichts!
»Als sie Sumit verlassen hat, war sie unschuldig. Absolut unschuldig. Ich war ihr einziger richtiger Freund. Ich kann das also beurteilen. Wir sind von klein auf beste Freunde gewesen. Die Blaire, die zurückkam, war nicht mehr dieselbe. Aber sie spricht nicht darüber. Ich muss einfach wissen, ob sie und du … ob ihr beide … Hast du sie gevögelt?«
Mein Blick vernebelte sich, und ich hatte nur noch einen Gedanken: Ich wollte ihm den Hals umdrehen. Er hatte eine Grenze überschritten. So durfte er über Blaire nicht reden. Und solche Fragen stellen oder ihre Unschuld anzweifeln schon gleich gar nicht. Blaire war unschuldig, verdammt. Er hatte kein Recht!
»Ach du Scheiße! Rush, Bro, lass ihn los!«, rief Grant. Ich hörte ihn, allerdings nur aus weiter Ferne und wie aus einem Tunnel. Meine ganze Aufmerksamkeit galt dem Kerl vor mir, auf dessen Gesicht gerade meine Faust landete, sodass ihm Blut aus der Nase spritzte. Genau so sollte es sein. Ich wollte, verdammt noch mal, dass er blutete!
Zwei Arme umschlangen mich von hinten und zogen mich weg, während Cain zurückstolperte und sich die Hand an die Nase hielt. In seinen Augen stand die blanke Panik. Genauer gesagt, in einem seiner Augen. Das andere war bereits ratzfatz zugeschwollen.
»Meine Fresse, was hast du ihm denn nur gesagt?«, fragte Grant, der mich schraubstockartig umfasst hielt.
»Wehe, du sagst es!«, brüllte ich, als ich sah, dass Cain antworten wollte. Ich ertrug es nicht, ihn so über sie reden zu hören. Nichts an dem, was Blaire und ich getan hatten, war schmutzig oder falsch. Er tat ja gerade so, als hätte ich sie zugrunde gerichtet. Dabei war Blaire unschuldig. So unglaublich unschuldig. Und nichts von dem, was wir getan hatten, änderte etwas daran.
Grant, der mich noch immer fest umklammert hielt, wandte sich an Cain. »Hey, du ziehst jetzt mal besser Leine! Er hat bald zehn Kilo mehr an Muskelmasse drauf als ich, und ich kann ihn nicht ewig in Schach halten. Also zisch ab. Und lass dich hier nie mehr blicken! Kannst von Glück reden, dass ich rechtzeitig aufgetaucht bin.«
Cain nickte und taumelte dann zu seinem Pick-up. Meine Wut hatte sich inzwischen zwar etwas gelegt, doch ganz verraucht war sie nicht. Am liebsten hätte ich ihn weiter vermöbelt. Ihm jeden Gedanken aus dem Leib geprügelt, von wegen Blaire wäre nicht mehr so vollkommen wie zu dem Zeitpunkt, als sie Alabama verlassen hatte. Er wusste ja nicht, was sie alles durchgemacht hatte. Welche Hölle ihr meine Familie bereitet hatte. Wie konnte er sich da um sie kümmern? Sie brauchte mich.
»Wenn ich dich jetzt loslasse, rennst du dann wie angestochen hinter seinem Pick-up her, oder hast du dich hübsch langsam wieder eingekriegt?«, fragte Grant und lockerte seinen Griff.
»Alles okay«, versicherte ich ihm, schüttelte seine Arme ab und ging zum Geländer, umklammerte es und holte ein paarmal tief Luft. Der Schmerz war wieder mit voller Wucht zurückgekehrt. Ich hatte es geschafft, ihn tief in mir zu vergraben, bis er nur noch leise pochte, aber beim Anblick dieser Memme waren die Erinnerungen wieder hochgekommen. Jene Nacht, von der ich mich nie erholen würde. Die mir für immer einen Stempel aufgedrückt hatte.
»Dürfte ich erfahren, worum’s da eben ging? Oder willst du mir auch die Fresse polieren?«, fragte Grant, nachdem er genügend Sicherheitsabstand zwischen uns gelassen hatte.
Grant war mein Halbbruder. Als wir klein waren, waren sein Vater und meine Mutter miteinander verheiratet gewesen. Lang genug, dass wir uns für immer verbunden fühlten. Obwohl meine Mom seitdem diverse Ehemänner verschlissen hatte, betrachtete ich Grant immer noch als Familie. Er besaß genug Einblick, um zu wissen, dass es um Blaire gehen musste.
»Das war Blaires Exfreund«, erwiderte ich, ohne ihn anzusehen.
Grant räusperte sich. »Und er ist hergekommen, um sich damit zu brüsten? Oder bist du ihm an die Gurgel gegangen, weil er auch mal was mit ihr hatte?«
Beides. Nichts von beidem. Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Er ist hergekommen und hat blöde Fragen gestellt. Über mich und Blaire, Dinge, die ihn einen Dreck angehen.« »Ah so, verstehe. Das macht Sinn. Na, das ist ihm ja wohl teuer zu stehen gekommen. Immerhin hat der Bursche zusätzlich zu seinem blauen Auge vermutlich auch noch eine gebrochene Nase!«
Endlich hob ich den Kopf und sah zu Grant. »Danke, dass du mich von ihm weggezogen hast. Ich hab einfach rotgesehen.«
Grant nickte und öffnete dann die Tür. »Komm. Auf den Schreck trinken wir ein Bierchen!«

Blaire

Wohin konnte ich gehen? Mir fiel als einziger Ort das Grab meiner Mutter ein. Ich hatte kein Zuhause. Und zu Granny Q konnte ich auch nicht mehr zurück. Cain wartete vermutlich schon bei seiner Großmutter auf mich. Na ja, vielleicht auch nicht. Vielleicht hatte ich es mir mit ihm auch endgültig verdorben. Ich ließ mich am Rand des Grabs nieder und schlang die Arme um meine Beine.
Ich war nach Sumit zurückgekehrt, weil es der einzige Ort war, den ich kannte. Nun musste ich ihn wieder verlassen, da ich hier nicht bleiben konnte. Einmal mehr würde mein Leben eine plötzliche Wendung nehmen. Eine, auf die ich nicht vorbereitet war. Als ich klein war, hatte unsere Mom uns zur Sonntagsschule in der hiesigen Baptistenkirche gebracht. Ich erinnerte mich an ein Bibelzitat, das sie uns dort vorgelesen hatten, in dem es hieß, Gott würde uns nur so viel aufbürden, wie wir auch ertragen könnten. Allmählich fragte ich mich jedoch, ob das nur für diejenigen galt, die jeden Sonntag in die Kirche gingen und vor dem Zubettgehen grundsätzlich beteten. Denn in meinem Fall teilte er wirklich kräftig aus.
Doch Selbstmitleid brachte mich auch nicht weiter. Stattdessen musste ein Plan her. Dass ich nicht ewig bei Granny Q wohnen und mir von Cain Unterstützung in Alltagsdingen holen könnte, war ohnehin klar gewesen. Dafür war zwischen Cain und mir zu viel vorgefallen. Dinge, die ich nicht wiederholen wollte. Es wurde Zeit zu gehen, doch wohin? Das war noch immer die große Frage – wie auch schon drei Wochen zuvor.
»Mom, ich wünschte, du wärst hier. Ich weiß nicht, was ich tun soll, und es gibt auch niemanden, den ich fragen kann«, flüsterte ich ihr auf dem stillen Friedhof zu. Ich hoffte so sehr, dass sie mich hören konnte. Mir gefiel der Gedanke nicht, dass sie unter der Erde lag. Aber nach dem Tod meiner Zwillingsschwester Valerie hatten Mom und ich auch schon hier gesessen und uns mit Valerie unterhalten. Mom hatte gemeint, ihr Geist würde über uns wachen und sie könne uns hören. Ich wünschte mir inständig, dass es so war.
»Ich bin’s nur. Ich vermisse euch beide so. Ich möchte nicht allein sein … Und ich habe Angst!« Bis auf das Rascheln der Blätter in den Bäumen war es still um mich herum. »Du hast mir mal gesagt, wenn ich nur fest genug hinhören würde, dann würde ich die Antwort in meinem Herzen finden. Ich versuche es, Mom, aber ich bin so verwirrt. Vielleicht könntest du mir ja irgendwie einen kleinen Fingerzeig geben?«
Ich stützte mein Kinn auf meine Knie und schloss die Augen. Ich würde nicht weinen!
»Erinnerst du dich, als du mir gesagt hast, ich müsste Cain genau sagen, was ich empfinde? Dass ich mich erst dann besser fühlen könnte, wenn alles gesagt sei? Tja, genau das habe ich heute gemacht. Selbst wenn er mir verzeiht, wird es nie mehr so sein wie vorher. Aber gut, ich sollte mein Leben allmählich selbst in die Hand nehmen. Wenn ich nur wüsste, wie!«
Allein dadurch, dass ich alles einmal aussprach, fühlte ich mich schon besser. Die Stille um mich herum hatte ein Ende, als eine Wagentür zugeschlagen wurde.
Ich löste die Arme von den Beinen und blickte zum Parkplatz, wo ein einziges Auto stand, eines, das für diesen kleinen Ort viel zu teuer war. Als ich sah, wer ausstieg, japste ich nach Luft und sprang auf. Bethy! Sie war hier! In Sumit! Auf dem Friedhof … noch dazu mit einer ausgesprochenen Nobelkutsche!
Das lange braune Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Als sich unsere Blicke trafen, lächelte sie. Ich dagegen konnte es gar nicht wirklich fassen. Bildete ich mir das Ganze vielleicht nur ein? Was wollte sie denn hier?
»Ich find’s mehr als doof, dass du kein Handy hast«, zeterte sie los. »Wie, in drei Teufels Namen, soll ich dir Bescheid geben, dass ich komme, wenn ich keine Nummer habe? Hm?« Ich verstand nur Bahnhof, aber allein der Klang ihrer Stimme bewirkte schon, dass ich das kurze Stück zu ihr rannte.
Lachend breitete Bethy die Arme aus, und ich fiel ihr um den Hals. »Du hier? Ich glaub’s einfach nicht!«, rief ich, nachdem ich sie ausgiebig gedrückt hatte.
»Japp, ich eigentlich auch nicht. Ich hab ewig gebraucht! Aber was tut man nicht alles, wenn man mit jemandem sprechen will, der sein Handy in Rosemary gelassen hat?«
Zu gern hätte ich ihr mein Herz ausgeschüttet, aber es ging nicht. Noch nicht. Ich brauchte Zeit.
»Ich freue mich riesig, dass du hier bist, aber wie hast du mich nur gefunden?«
Grinsend legte Bethy den Kopf schief. »Ich bin einfach in der Stadt herumgefahren und habe mich nach deinem Pick-up umgeschaut. Nachdem es im ganzen Ort gefühlt nur eine Straße gibt, ist das ja kein großes Kunststück.«
Ich bestaunte ihren Wagen. »Mit dem Schlitten musst du hier ganz schön für Aufsehen gesorgt haben«, sagte ich.
»Der gehört Jace und fährt sich einfach traumhaft!«
Also war sie immer noch mit Jace zusammen. Gut. Gleichzeitig verspürte ich einen Stich im Herzen. Denn Jace erinnerte mich an Rosemary. Und Rosemary erinnerte mich an Rush.
»Ich würde dich ja fragen, wie’s dir geht, aber ich seh’s ja«, sagte sie und betrachtete mich von Kopf bis Fuß. »Meine Güte, du bist nur noch ein Strich in der Landschaft! Hast du denn seit deinem Aufbruch in Rosemary nichts mehr gegessen?«
Es stimmte, mir fielen buchstäblich die Klamotten vom Leib. Doch bei all dem Druck, der auf mir lastete, brachte ich einfach nichts herunter. »Ich habe ein paar blöde Wochen hinter mir, aber so langsam kriege ich mich wieder ein, glaube ich zumindest.«
Bethy ließ den Blick zu dem Grab hinter mir wandern. Dann zu dem daneben. Als sie die Inschriften der Grabsteine las, wurde ihre Miene traurig. »Niemand kann dir deine Erinnerungen nehmen. Die bleiben dir«, sagte sie und drückte mir die Hand.
»Ich weiß. Ich glaube sowieso kein Wort von dem, was sie über meine Mom gesagt haben. Mein Vater ist ein Lügner. Und Georgianna – was die behauptet, hätte meine Mom niemals getan. Wenn überhaupt jemand für diesen ganzen Schlamassel verantwortlich ist, dann ist es mein Vater. Er hat uns allen diesen Kummer bereitet. Und nicht meine Mom. Niemals im Leben meine Mom!«
Bethy nickte und behielt meine Hand weiter fest in ihrer. Dass jemand mir zuhörte und mir glaubte und auch von der Unschuld meiner Mutter überzeugt war, tat so unglaublich gut.
»Du und deine Schwester, habt ihr euch denn sehr ähnlich gesehen?«
Valerie, wie sie lächelt, das ist meine letzte Erinnerung an sie. Ihr Lächeln war so viel strahlender als meines. Ihre Zähne waren auch ohne die Hilfe von Zahnspangen vollkommen. Und ihre Augen leuchteten viel intensiver. Dennoch: Alle behaupteten, wir sähen völlig gleich aus. Ihnen fielen die Unterschiede gar nicht auf. Ich hatte mich immer gefragt, wieso nicht. Für mich waren sie nicht zu übersehen.
»Wir glichen uns wie ein Ei dem anderen«, erwiderte ich. Bethy würde die Wahrheit nicht einleuchten.
»Gleich zwei Blaire Wynns – unvorstellbar! Da müsst ihr in diesem Städtchen doch haufenweise Herzen gebrochen haben!« Nachdem sie sich nach meiner verstorbenen Schwester erkundigt hatte, wollte sie nun offenbar die Stimmung auflockern. Wie lieb von ihr.
»Nur Valerie. Ich war schon ziemlich früh mit Cain zusammen. Habe also keine Herzen gebrochen.«
Bethys Augen weiteten sich ein wenig, dann wandte sie den Blick ab und räusperte sich. »Obwohl’s natürlich cool ist, dich wiederzusehen, und wir beide die Stadt total zum Rocken bringen könnten, bin ich, ehrlich gesagt, nicht ganz grundlos hier.«
Dass sie einen Grund gehabt haben musste herzufahren, war mir klar gewesen, nur welchen?
»Okay?«, sagte ich und wartete, dass sie fortfuhr.
»Könnten wir das vielleicht in einem Café bequatschen?« Sie furchte die Stirn und sah dann zur Straße hinüber. »Oder vielleicht in der Eisdiele, nachdem es hier was anderes anscheinend gar nicht gibt?«
Anders als ich schien sie sich zwischen Gräbern unwohl zu fühlen. Das war normal. Aber ich war nicht normal. »Ja, okay«, sagte ich und ging meine Handtasche holen, die am Grab meiner Mutter lag.
»Hier ist deine Antwort«, hörte ich eine Stimme so leise sagen, dass ich fast schon dachte, ich hätte es mir nur eingebildet. Als ich mich zu Bethy umdrehte, die die Hände in ihre Hosentaschen gesteckt hatte, lächelte sie mich an.
»Hast du was gesagt?«, fragte ich.
»Ähm, wie meinst du das? Gerade eben? Von hier aus?«, fragte sie verwirrt.
Ich nickte. »Ja. Hast du irgendwas geflüstert?«
Sie zog die Nase kraus, blickte sich dann nervös um und schüttelte den Kopf. »Nö … ähm … Komm, wir machen uns jetzt lieber mal vom Acker« Sie packte mich am Arm und zog mich hinter sich her zu Jace’ Wagen.
Ich sah zu Moms Grab zurück, und eine tiefe Ruhe überkam mich. War das etwa …? Nein, bestimmt nicht. Kopfschüttelnd wandte ich mich um und setzte mich leise lächelnd auf die Beifahrerseite.

(c) Piper Verlag

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