Interpretiert von Christoph Holzhöfer
Wo bleibt ihr nur, Genossen meiner Zeit?
Wo bleibt ihr nur, Genossen meiner Zeit?
Ich schau zurück und kann euch kaum noch sehn.
Ein wirres Stimmentosen hör ich weit,
Weit hinter mir und kann es nicht verstehn.
Ich ruf euch zu, doch euer Echo fehlt
Den Laut, der rein aus meiner Stimme klingt.
Ich wink euch her. Doch ihr, wie unbeseelt,
Horcht tauben Ohrs, ob euch ein Stummer singt.
Vergebne Zeichen! Aus den Zähnen pfeift
Mißtönig euer ärgerlicher Spott.
Kommt nie die Zeit, da ihr die Zeit begreift?
Tritt nie aus finstern Kirchen euer Gott?
Erich Mühsam, 1878-1934, aus: Wüste - Krater - Wolken, 1. Auflage 1914
Über den Autor:
Erich Kurt Mühsam wurde am 6. April 1878 in Berlin geboren und in Folge der Verhaftungswelle am Tag des Reichstagsbrandes von den Nationalsozialisten verhaftet und am 10. Juli 1934 von der SS-Wachmannschaft des KZ Oranienburg ermordet. Er wuchs in Lübeck als Sohn eines Apothekers und langjährigen Abgeordneten der Bürgerschaft auf, fiel schon in der Schule durch sein kritisches politisches Denken und Handeln auf und gehörte dem Judentum an. Mühsam war ein kämpferischer deutscher Schriftsteller, Publizist mit anarchistischen Überzeugungen und Antimilitarist. Er wagte in Zeiten, wo es keine Akzeptanz dafür gab, provokativ eine befristete homosexuelle Lebensgemeinschaft mit Johannes Nohl und zählte zu den Erzfeinden des Nationalsozialismus, weil er frühzeitig das Ausmaß des Verderbens für die Bürger erkannte und bekämpfte. Der Schriftsteller geriet wegen seiner sozialdemokratischen oder sozialistischen Anschauungen immer wieder in Konflikt mit dem Gesetz, versuchte ein Obdachlosenasyl für Entrechtete in München einzurichten und war als politischer Aktivist maßgeblich an der Ausrufung der Münchner Räterepublik beteiligt, wofür er zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt wurde, aber nach fünf Jahren im Rahmen einer Amnestie freikam. In der Weimarer Republik setzte er sich in der Roten Hilfe für die Freilassung politischer Gefangener ein. Erich Mühsam war mit Heinrich Mann, Frank Wedekind, Lion Feuchtwanger, Fanny zu Reventlow, Oskar Maria Graf und vielen anderen kritischen Geistern in München und Deutschland befreundet.
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