Der Pilot in der Libelle
Gedichte
Göttingen 2010, 112 Seiten, Hardcover
18 €, Wallstein Verlag
Der  Autor ist Jahrgang 1969, hat bislang vier Gedichtbände und eine  Übersetzung aus dem Niederländischen vorgelegt und veröffenlicht Lyrik  und Essays in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Neuen Zürcher  Zeitung, Jahrbuch der Lyrik, ndl und Sprache im technischen Zeitalter.  Der studierte Philosoph und Literaturwissenschaftler hat bereits acht  Literaturpreise erhalten, so zuletzt den Förderpreis des Landes  Nordrhein-Westfalen für Literatur 2004 (
mehr siehe bei Wikipedia).
In  sieben Schritten gruppiert Hendrik Rost seine Gedichte, die Einblicke  und Interpretationen seiner und fremder Lebenssituationen geben,  mitunter eine strenge Brisanz bekommen wie "400-Euro-Job", und seine  Tochter und ihr/sein Welterleben thematisieren.
Der erste Schritt  heißt "Mnemosyne", das gleichnamige Gedicht darin der Besuch bei der  Großmutter im Rollstuhl, umgeben von Erinnerungen, Dinge und Sachen des  Lebens, "Gesammelt, gestapelt und faulend". Das Absterben als ein  Vergeben, Vergessen der Erlebnisse, der Modergeruch als Auflösung ...  Oder ein Bild aus Hamburg-Altona, eine Plastiktüte im Unwetter wie eine  Qualle im Wasser vor den Fenstern im 2. Stock im Regen tanzend ...
Aquatisches Altona
Eine Scheibe im Hausflur fällt dem Sturm zum Opfer.
Eine schwarze Plane, gegen Regen im Fensterrahmen,
schlagt im Wind wie Segel eines Havaristen.
Wenn das Wetter der nächsten Tage so wird
wie der hektische Ansager bei der Vorhersage,
werden wir untergehen.
Oder wir sind es längst. Vorm Schlafzimmerfenster
im zweiten Stock treibt eine Plastiktüte, Qualle im Strom.
Wolken brechen am Riff der Mietshäuser gegenüber.
In  Gruppe 2 "Recherche" das Ergründen des Gewesenen, das Vergangene als  ein inhaltsarmes und sinnentleertes Leben im Zeichen des verlorenen  Arbeitsplatzes, den Kopf jedoch voll damit. In "Fraktur" das Erlebnisses  eines Unfalls, ein Kieferbruch lähmt, vieles vergessen aus dieser Zeit,  ein Verlust. Die Fraktur machte handlungsunfähig, Halt gab nur der  Anblick eines gesunden OP-Schwestern-Kinns... Später Vermissen,  Hingezogensein, immer dieses Bild und die nachfolgende Schwärze der  Narkose, die alles ausblendete. "Die Libelle" als ein Vergleich mit der  persönlichen Entwicklung, die Notizen aus der Larvenzeit, tausend Seiten  vernichtet, verbrannt, als nichtig erklärt, bevor der Flug begann. Hier  weiß der Pilot genau, dass er das zukünftige Leben steuert ...
"Aus  alten Heften" thematisiert im nächsten Schritt die Liebe, den  Liebestaumel, den Zeitausschalter (oder den Zeitvertreiber?), im sich  wiederholenden Ritual des Davonfließens den anderen als Quelle  wahrnehmen, ihn nutzen: 
"Sei Dieb, damit die Dinge endlich Wert  bekommen, zur Quelle bringt man leere Gefäße mit."
In der Gruppe  "Meditation" scheint mir das Eindringen der Außenwelt in verschiedenen  Perspektiven thematisiert. Laut und eindringlich, einen Bruch mit den  Ideen und Empfindungen hervorrufend, eher zu einem Rückzug veranlassend.  Hier singende Kegelschwestern, die allzu zotig, zu derb, etwas  ansprechen, das so nicht bei jedem funktioniert ...
"Für  Solostimmen. Schuhmann-Korrespondenz" fokussieren das Gefangensein im  Begehren und Zurückstoßen der Geliebten aus Pflichtbewusstsein,  Schutzangebot für den anderen, hier eingefangen im Krankheitsbild des  syphillitischen Robert Schumann, der aus Schaffensdrang in der Endphase seiner Lebenszeit Städtenamen aus dem Atlas abschrieb ...
Die "Blindbewerbung" eine ungewöhnliche, eine  menschliche Bewerbung auf eine Stelle, die noch nicht ausgeschrieben  ist. Man liest nichts über das Prahlen mit Fertigkeiten und Wissen,  sondern nur über das Menschsein an sich. Sie bekommen einen Menschen,  mit allen Vorzügen und ... sterblich. Und ganz überraschend in  "Gebrechen": Demenz ist überall und die höchste Form davon die Liebe.  Das Vergessen, das Versiegen von Sprache, das Ende?
In der letzten  Gruppe dann der Namensgeber "Deutschlandradio". Ein Aufruf,  auszusteigen, 
wenn "der Wagen liegen geblieben ist." In Mut zu  investieren und große Gedanken zu pflegen, um Gewinne machen zu können,  denn alles kann immer 
"noch billiger" angeboten werden. Qualität eher  selten.
Im "400-Euro-Job" gekonnt eingefangen die Betrachtung des  langzeitarbeitslosen Geisteswissenschaftler durch Arbeitskollegen im  Minijob-Milieu... 
"Was ihr könnt, will keiner wissen oder haben." Was bleibt ist Literatur schaffen, Gedichte schreiben, die sich mehr oder weniger leicht verkaufen ...
4oo-Euro-Job
Wer "wird denn jetzt Millionär? Und kannst du
Heckeschneiden? Das Problem mit euch
Studierten ist, man muss euch alles erklären.
Was ihr könnt, will keiner wissen oder haben.
Ein Pfund Versuchen wird ein Gramm Gelingen.
Sommer, unter den Silberlinden verhungern
die Hummeln an Nektar ohne jeden Nährwert.
Warst du so klug, wärst du gar nicht hier,
oder willst du nichts erreichen? Zwei Tage
halten die meisten aus, dann sind sie weg.
Willst du nicht reich werden? Die paar Fragen.
Du sitzt doch den ganzen Tag über Büchern.
Davon vergreist du auch nur oder du willst
auswandern oder wirst auf der Stelle depressiv.
Krieg ich was ab von deiner Million? Hol mal
Mettbrötchcn. Überall diese krepierten Bienen.
Ein  Gedichtband, den man mehrmals lesen will, Deutungen suchen und immer  wieder neue Aspekte hinzufügen. Hendrik Rost hat uns vieles zu sagen,  den nächsten Band erwartet man mit großer Neugierde.
Drei Gedichte von ihm selbst vorgetragen.
_________________________________________