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Mittwoch, 13. November 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (5) - Don Juans schönste Liebschaft - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly


Don Juans schönste Liebschaft
Unschuld ist des Teufels Leckerbissen

4


Graf Ravila begann:
»Ich habe mir von einem großen Kenner des Lebens sagen lassen, unsere allerstärkste Liebe sei nicht die erste, nicht die letzte, wie so viele glauben, sondern die zweite. Nun, in Dingen der Liebe ist alles wahr und alles falsch, und überdies stimmt es nicht bei mir. Was ich Ihnen heute abend erzählen will, meine Damen, liegt zurück in der schönsten Zeit meiner Jugend. Ich war schon nicht mehr ein sogenannter junger Mann, aber doch noch als Mann jung, wenn ich auch – wie ein älter Onkel von mir, ein Malteser, diese Zeit des Lebens nennt – meine ›Kreuzzüge‹ hinter mir hatte. Ich stand in der Blüte meiner Kraft und war der Herzensfreund einer Dame, die Sie alle kennen und die Sie alle bewundert haben ...«
Bei diesen Worten, die der alte Fuchs so hinwarf, tauschten seine lauschenden Zuhörerinnen einander Blicke aus, alle zu gleicher Zeit, jede jeder anderen. Es war ein Schauspiel, nicht in Worte faßbar.
Ravila fuhr fort:
»Diese Dame war das vornehmste Geschöpf, das es geben mag, im vollen Sinne des Wortes. Sie war jung, reich, hochgeboren, schön, geistreich, kunstsinnig und dabei so natürlich, wie ein Weltkind es eben sein kann. Sie hegte damals hienieden nur einen einzigen Ehrgeiz: mir zu gefallen, mir zu gehören, mir die zärtlichste Geliebte und die beste Freundin zu sein.
Vermutlich war ich nicht der erste Mann, den sie liebte. Sie hatte schon einmal geliebt. Nicht ihren Gatten. Aber diese Neigung war so tugendsam, überirdisch und himmlisch gewesen, daß sie ihr wohl einen Vorgeschmack gewährt, nicht aber die Liebe in ihrer Fülle geschenkt hatte. Die Kräfte ihres Herzens waren dabei geschult worden für die große Leidenschaft, die bald darauf kommen sollte. Es war ein Liebesversuch gewesen, vielleicht zu vergleichen mit der ›leeren Messe‹, wie angehende Priester sie lesen, um sich zu üben, damit sie dann keine Fehler machen bei der wirklichen, der heiligen Messe. Als ich in das Leben dieser Frau eintrat, befand sie sich noch auf der Vorstufe. Ich sollte ihre heilige Messe werden, und ich habe sie zelebriert mit Prunk und Pracht wie ein hoher Kirchenfürst...«
Bei diesem Vergleich weitete sich molliges, leises Lächeln – vergänglich, aber köstlich – um die zwölf schweigenden Lippenpaare wie runde Wellenkreise auf dem stillen Spiegel eines Sees, wenn ein paar Tropfen vom Himmel fallen.
Der Graf erzählte indessen weiter:
»Sie war wirklich ein Wesen von eigener Art. Selten habe ich so wahre Güte, so warmes Mitleid, so erhabene Gefühle gesehen, selbst noch in der Leidenschaft, bei der, wie Sie wissen, die Menschen meist keine Engel sind. Und nie habe ich weniger Unnatur gefunden, weniger Ziererei und Zimperlichkeit, zwei Dinge, die manches Frauenherz so verwirren, daß es wie ein Garnknäuel ausschaut, mit dem Katzenpfoten gespielt haben... Katzenhaft war überhaupt nichts an ihr. Sie war das, was die vertrackten Romanschreiber, die uns mit ihrem Zunftgeschwätz die Begriffe verdrehen, eine ›primitive Natur mit einem Hauch von Kultur‹ nennen. In der Tat, sie hatte davon nur den schimmernden Schmelz, keine einzige aber jener kleinen Verdorbenheiten, die manchem reizvoller dünken als die reine Schönheit...«
»War sie brünett?« unterbrach die Herzogin unvermittelt und ungeduldig die Erzählung, die sich ihr zu sehr vom Kernpunkt zu entfernen schien.
»Ah, ich bin nicht deutlich genug«, sagte Ravila verschmitzt. »Jawohl, sie war braun im Haar. Es war schwarzbraun, mit dem Glanz glatten Ebenholzes, just der rechte Schmuck eines feingeformten Frauenkopfes. Dem Teint nach war sie aber eine Blondine. Und der Teint, nicht die Haarfarbe ist es, was entscheidet, ob eine Frau brünett oder Blondine ist...«
Hier sprach ein Kenner, der mit den Frauen mehr angestellt hatte als bloß Bildnisstudien.
»... Sie war eine Blondine mit schwarzem Haar ...« Durch alle Blondinen der Tafelrunde, die blondes Haar hatten, zitterte unmerkbar eine Bewegung. Es war klar, daß die Geschichte für sie nun weniger Reiz hatte.
Sie ging weiter:
»Sie hatte das Haar der Nacht, aber im Antlitz die Morgenröte. Aus ihrem Gesicht leuchtete eine seltene strahlende Frische, die dem Nachtleben von Paris getrotzt hatte, in dessen Lichtermeer so viele Rosen verblassen. Es war ihre Heimat schon jahrelang, aber ihre Wangen und ihre Lippen bewahrten noch immer die volle Farbe, Ihr Glanz stand im Einklang mit dem des Rubins auf der Mitte des Stirnreifens, den sie mit Vorliebe trug. Damals war die Haartracht der Belle Ferronière Mode. Und mit dem funkelnden Rubin wetteiferten ihre beiden glutvollen Augen. Ein Dreigestirn!
Schlank, aber kräftig, ja junonisch, wäre sie die passende Frau für einen Kürassier-Obersten gewesen. Ihr Mann war Eskadronchef nur in einem Husaren-Regiment. Eine große Dame mit der Gesundheit einer Bauersfrau, die mit der Haut die Sonne trinkt. Voll Sonnenglut, so war sie, und zwar im Blut wie in ihrer Seele, überall und immer bereit... Aber hier gerade beginnt das Merkwürdige! Dieses kraftvolle und ursprüngliche Geschöpf, diese Purpurnatur, war – glauben Sie es? – eine Stümperin der Liebe...«
Es senkten sich etliche Augen; aber sie öffneten sich rasch wieder, um spöttisch zu leuchten.
»Ja, eine Stümperin im Lieben wie im Leben«, wiederholte Ravila, ohne Bestimmtes hinzuzufügen. »Der Mann, den sie liebte, mußte ihr immerfort zwei Dinge predigen, die sie, nebenbei bemerkt, niemals begriffen hat: sich zu verschließen vor der Welt, der ewig lauernden und unerbittlichen, und insgeheim die große Kunst der Liebe zu betätigen, ohne die jede Leidenschaft zum Tode verurteilt ist. Die Art ihrer Liebe entbehrte der Meisterschaft. Sie war das Gegenstück zu so vielen Frauen, die nichts als diese besitzen. Ja, um die Lehren des Fürstenspiegels zu verstehen und anzuwenden, muß man schon ein Borgia sein. Borgia war vor Machiavell da. Jener war der Meister und dieser der Darsteller.
Eine Borgia war meine Freundin nicht, sondern eine ehrliche, sinnliche, unerfahrene Frau trotz ihrer überwältigenden Schönheit. Ich habe irgendwo einmal ein Bild gesehen, auf dem ein kleines Mädchen am Quell den Durst löschen will, aber das geschöpfte Wasser rinnt ihm durch die Finger, weil es nicht versteht, sie fest zusammenzupressen. Verwirrt steht es da...
Diese Mischung von Wollust und Unschuld hatte gewiß ihren Reiz. Aber bei aller Fähigkeit, Liebe zu geben und sogar Glück zu spenden, besaß sie doch nicht die Kraft, sich in ihrer Hingabe dem Gegenspieler anzupassen. Leider war ich damals noch nicht beschaulich genug, um mich an der Schönheit an sich zu erfreuen. Und so kam es, daß sie an gewissen Tagen Anlaß bekam, ruhelos, eifersüchtig und heftig zu werden. Dies ist man ja, wenn man liebt. Und sie liebte wahrhaftig! Aber Eifersucht, Unruhe, Heftigkeit, alles das verlor sich in der unerschöpflichen Güte ihres Herzens beim ersten Leid, das sie einem zufügen wollte oder zugefügt zu haben glaubte. Ebenso ungeschickt im Grausam- wie im Zärtlichsein, war sie eine Löwin unbekannter Art, die sich einbildet, Tatzen zu haben, aber wenn sie damit zuschlägt, wundervolle Samtpatschen zeigt...«
»Was soll das alles?« fragte die Gräfin von Chiffrevas ihre Nachbarin. »Das kann doch wirklich nicht Don Juans schönste Liebschaft gewesen sein?«
Alle die Liebeskünstlerinnen um ihn zweifelten an der Möglichkeit solcher Einfalt.
Ravila entwickelte sein Erlebnis weiter:
»Wir lebten also in einer Intimität, die hin und wieder eines Unwetters nicht entbehrte, aber Zerwürfnisse nicht kannte. Unser Verhältnis war in der Spießbürgerstadt, Paris genannt, ein öffentliches Geheimnis. Die Marquise – sie war nämlich Marquise ...«
Es saßen ihrer drei Marquisen am Tisch, und alle drei waren brünett. Keine zuckte mit der Wimper. Sie wußten alle drei, daß er nicht von ihnen sprach. Von Samt war an ihnen nichts zu spüren, höchstens an der Oberlippe der einen von den dreien, einer lüstern aufgeworfenen Oberlippe, die in diesem Augenblick reichliche Geringschätzigkeit zum Ausdruck brachte.
»... ja, eine dreifache Marquise«, fuhr Ravila fort, der nach und nach in Schwung gekommen war, »wie man Pascha mit drei Roßschweifen sein kann. Die Marquise war eine von denen, die nichts zu verbergen verstehen; die es nicht können, auch wenn sie es wollen. Sogar ihre Tochter, damals ein Kind von dreizehn Jahren, merkte trotz ihrer Unschuld nur zu gut, welche Gefühle die Mutter für mich hegte. Ich weiß nicht, welcher Dichter die Frage getan hat, was die Töchter der Frauen, die wir lieben, wohl von uns denken. Eine schwere Frage, die ich mir oft vorgelegt habe, wenn ich die großen, dunklen, drohenden Späheraugen des kleinen Mädchens auf mir ruhen sah.
Dieses scheue Kind verließ den Salon zumeist, sooft ich eintrat; wenn es aber darin verbleiben mußte, hielt es sich so weit wie möglich von mir fern. Offenbar empfand es eine geradezu leidenschaftliche Abneigung vor mir, die zu verbergen ihm bei aller Anstrengung nicht gelang. Die Marquise, die doch wahrlich keine scharfe Beobachterin war, mahnte mich immer wieder: ›Lieber Freund, wir müssen uns in acht nehmen. Ich glaube, die Kleine ist eifersüchtig auf dich.‹ Ich nahm mich viel mehr in acht als sie. Und wäre das kleine Ding ein leibhaftes Teufelchen gewesen, ich hätte mir nicht in meine Karten blicken lassen. Bei der Mutter war das leicht möglich. Ihr rosiges Gesicht war wie ein Spiegel, aus dem man alles ersehen konnte. Jeder Hauch blieb darauf haften.
Aus dem unverkennbaren Haß der Kleinen mußte ich schließen, daß sie das Geheimnis ihrer Mutter aus einer verräterischen Erregung, aus einem unbewußt allzu zärtlichen Blick erfahren hatte. Es war ein unscheinbares Geschöpf, kein bißchen das Abbild der Prachtformen, der es entstammte, geradezu häßlich, was selbst die Mutter eingestand, so zärtlich sie ihr Kind liebte. Neben einem Diamanten ein kleiner Rauchtopas. Mir fällt der treffende Vergleich nicht ein. Der Entwurf zu einer Bronze. Eine kleine Hexe mit großen Augen, die dann ...« Er hielt inne, als hätte er schon zuviel gesagt; wie eine Kerzenflamme, die mit einem Male kleiner wird.

Die Anteilnahme an seiner Geschichte war wieder allgemein geworden. Auf allen Gesichtern lag abermals Spannung und Neugier. Und durch die schönen Zähne der Gräfin zischelte ein »Endlich!« als Frohlocken der erlösten Ungeduld.

Dienstag, 12. November 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (4) - Don Juans schönste Liebschaft - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly


Don Juans schönste Liebschaft
Unschuld ist des Teufels Leckerbissen

3

Es war also spät, das heißt: früh. Der Morgen graute. An der Decke und an etlichen Stellen der dicht zusammengeschlossenen rosaseidenen Vorhänge des Boudoirs schimmerten hereingekrochene Tageslichter wie immer größere neugierige Augen, die gern wissen möchten, was in der Lichtfülle des Gemaches vor sich geht.

Die erst so starke Erregung der Ritterinnen der Tafelrunde war matt geworden. Der keinem Fest fehlende letzte Gast, die Müdigkeit, war leise eingetreten. Die gesteigerte Lebhaftigkeit sinkt vor ihm zusammen. Er wirft seine Schleier über alles, über das sich lösende Haar, über die entflammten oder erbleichten Wangen, über die bläulich-umschatteten Augen und die schwergewordenen Lider, und sogar über die flackernden Flammen der Kerzen in all den vielen goldenen Armleuchtern und glitzernden Hängekronen.

Die allgemeine Plauderei, die so lange munter und eifrig war, dieses Ballspiel, bei dem jede im rechten Augenblick ihren Schlag getan, verfiel in Bruchstücke, in Splitter, in kleine Teile. Kein Leitmotiv herrschte mehr im klangreichen Gesumme dieser rassigen Stimmen, das auf und nieder tanzte wie das Gezwitscher der Vögel in der Morgendämmerung am Waldessaum, bis sich urplötzlich eine Kopfstimme erhob, herrisch und beinahe unverschämt, eine echte anspruchsvolle Herzoginnenstimme, über alle anderen hinweg, die dem Grafen von Ravila ein paar Worte zurief, offenbar die Fortsetzung und die Folge eines Gespräches, das sie bisher leise mit ihm geführt hatte und das keine der sich miteinander unterhaltenden anderen gehört hatte:

»Graf, der Sie für den Don Juan unserer Zeit gelten, Sie sollten uns die Geschichte derjenigen Eroberung zum besten geben, die Ihrer Eitelkeit als vielgeliebter Mann am meisten geschmeichelt hat, und die Sie im Licht dieser Stunde für die schönste Liebschaft Ihres Lebens erklären!«

Sowohl die Stimme wie ihr Verlangen durchschnitt wie mit einem Schlage das Gewirr aller Kreuz- und Quergespräche und schaffte sofort Stille. Es war die Stimme der Herzogin von ***. Ihren Namen will ich hier nicht nennen. Ich begnüge mich zu sagen, daß sie die hellste Blondine mit den schwärzesten Augen der ganzen Vorstadt St. Germain ist. Sie saß, wie ein Gerechter zur Rechten Gottes, zur Rechten des Grafen, des Gottes dieses Festes, der an diesem Abend keinen seiner Feinde zum Schemel seiner Füße gemacht hätte. Sie war schlank und fein wie eine Arabeske, wie eine Fee, in ihrem grünen Samtkleid, das von der Seite wie Silber glänzte und dessen lange Schleppe, gewunden um ihren Stuhl, aussah wie der lange Schlangenschwanz, in dem der süße Leib der schönen Melusine endet.


»Ein glänzender Gedanke!« jubelte die Gräfin von Chiffrevas, um in ihrer Eigenschaft als Dame des Hauses den Wunsch und die Anregung der Herzogin zu unterstützen. »Ja, Graf, die Geschichte derjenigen Liebe von allen, die Sie je gespendet oder geerntet, die Sie, wenn dies möglich wäre, noch einmal von Anfang bis Ende erleben möchten!«

»Oh! Ich möchte sie alle noch einmal erleben!« beteuerte Amadee mit der Unersättlichkeit eines römischen Cäsaren, die genußmüden Menschen zuweilen eigen ist. Dabei erhob er sein Sektglas. Es war dies keine der heute vielfach üblichen plumpen und bäuerischen Schalen, sondern das schlanke, hohe Spitzglas unserer Väter, das einzig-wahre Glas für den Champagner, das man »Flöte« genannt hat, vermutlich in Hinsicht auf die himmlischen Melodien, die uns aus solchem Glas zuweilen in das Herz fließen. Mit einem schweifenden Blick umfing er den ganzen Kreis der Damen, des Tisches köstlichsten Kranz.

»Und doch ...«, fügte er hinzu, indem er das Glas wieder vor sich hinstellte, mit einer Wehmut, die einem Nebukadnezar wie ihm, der noch kein anderes Gras als die Salate im Café Anglais gegesssen hatte, seltsam stand. »Und doch ist es die Wahrheit: unter allen Herzenserlebnissen eines Lebens gibt es eines, das auf unserem weiteren Erdengang in der Erinnerung, alle anderen Eindrücke mächtig überstrahlt. Für die Wiederkehr dieses einen würden wir gern alle anderen nicht erlebt haben wollen, und wären sie noch so schön gewesen!«

»Die Perle im Gold!« flüsterte die Gräfin von Chiffrevas verträumt vor sich hin und freute sich am weißen Schimmer der großen Perle ihres Lieblingsringes.

Und die Fürstin Isabel setzte hinzu:

»Der Diamant in dem schönen Märchen meiner Heimat, der erst rosenrot glüht, dann aber schwarz und schwärzer wird und immer feuriger funkelt!« Sie sagte das in der morgenländischen Anmut der kaukasischen Frauen, deren schönste sie war. Ein Polenfürst, einer der Flüchtlinge, hatte sie aus Liebe geheiratet, sie, die seitdem selber so aussah, als sei sie vom Stamm der Jagellonen.

Nun gab es einen wahren Sturm. »Ach ja!« riefen alle in Begeisterung. »Erzählen Sie uns das, Graf!« Und die ganze Runde umbettelte ihn, im Vollgenusse der Schauer der Wißbegier, die ihnen die Nacken durchrieselten. Sie rückten zusammen; ihre Schultern berührten einander fast. Die eine stützte den Kopf mit der schlanken Hand; eine andere lehnte den vollen Arm gegen den Tisch; die dritte drückte den Fächer gegen die runde Lippe. Aber alle richteten ihre durstigen Blicke hochnotpeinlich auf den Grafen.

»Wenn Sie das durchaus wollen, meine Damen ...«, sagte Ravila, in der lässigen Art eines Mannes, der genau weiß, wie sehr die Erwartung das Verlangen steigert.

»Durchaus!« erklärte die Herzogin, indem sie die goldene Schneide ihres Nachtischmessers betrachtete wie ein Türkensultan die Schneide seines Krummsäbels.

»So hören Sie also!« fuhr er fort, noch immer in lässiger Weise. Seine Zuhörerinnen vergingen vor Spannung, indem sie auf ihn schauten. Sie verschlangen ihn mit ihren Augen und schlürften seine Worte. Jede Liebesgeschichte fesselt die Frauen, und – wer weiß das? – vielleicht war hier noch ein ganz besonderer Reiz im Spiele, denn jede einzelne in der Runde dachte wohl bei sich: Vielleicht erzählt er jetzt sein Erlebnis mit mir! Daß dieser Kavalier und Mann der großen Welt keine Namen nennen und verräterische, aber unumgängliche Einzelheiten verschleiern werde, des waren sie alle sicher. Und dieses Bewußtsein, diese Gewißheit stärkte das Begehren nach der eigenen Geschichte. Sie begehrten nicht allein danach. Sie erhofften es.

Aus Eitelkeit waren sie eifersüchtig auf eine Erinnerung, die ein Mann aus dem Schatz vieler und schöner Erinnerungen als die schönste seines Lebens aus dem Gedächtnisse wieder heraufbeschwor. Der alte Sultan sollte noch einmal das Taschentuch werfen. Keine hätte es aufnehmen wollen, aber jeder, der es zuflog, wäre es an das Herz gegangen.


Was davor geschah, lesen Sie hier.

Montag, 11. November 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (3) - Don Juans schönste Liebschaft - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly

Don Juans schönste Liebschaft
Unschuld ist des Teufels Leckerbissen

1

»Er lebt also noch immer, der alte Sünder?«
»Donnerwetter, ja! Und ausgiebig lebt er!« entfuhr es mir. »Der liebe Gott gönnt es ihm, gnädige Frau«, fügte ich rasch hinzu, weil mir einfiel, daß ich eine sehr fromme Dame vor mir hatte. »Le Roi est mort! Vive le Roi! hieß es in der guten alten Zeit, ehe der Königsthron in tausend Stücke ging wie Sèvres-Porzellan. Ein einziger Fürst trotzt dem Demokratentum: Don Juan!«
»Natürlich! Der Teufel läßt nie locker!« bemerkte meine alte Freundin überzeugt.
»Vor drei Tagen hat er sogar ...«
»Wer? Der Teufel?«
»Nein, Don Juan ... Gottvergnügt hat er an einem stimmungsvollen abendlichen Festessen teilgenommen. Raten Sie: wo?«
»Natürlich in ihrer abscheulichen Maison d'or.«
»Aber nein, gnädige Frau! Dorthin kommt Don Juan nicht mehr. Dort findet Seine Durchlaucht keine Sättigung. Der hohe Herr war von jeher ein wenig vom Schlage des berühmten Mönches Arnold von Brescia, von dem die Sage geht, er habe sich nur von Seelenblut genährt. Seelenblut, das beliebt Don Juan in seinen Sekt zu träufeln. Und das gibt es längst nicht mehr in den Schenken, in die man mit kleinen Mädchen hingeht.«
»Am Ende kommt heraus«, meinte die fromme Dame spöttisch, »daß er im Kloster der Benediktinerinnen getafelt hat, mit den Damen –« »... von der ewigen Anbetung. Stimmt, gnädige Frau! Die Verehrung, die der Teufelskerl einmal entflammt, die erlischt nie und nimmer. So scheint es mir.«
»Ich finde, Sie sind ein recht lästerlicher Katholik«, bemerkte sie gedehnt und ein wenig verschnupft. »Ich bitte Sie, erlassen Sie mir die Einzelheiten eines Soupers mit Ihren Frauenzimmern! Mir heute abend Neues von Don Juan erzählen zu wollen, das haben Sie mir nur so vorgegaukelt...«
»Ich gaukele nie etwas vor, gnädige Frau!« beteuerte ich. »Die Teilnehmerinnen an besagtem Festmahl, diese Frauenzimmer waren zunächst keine Frauenzimmer und insbesondere nicht meine – leider ...«
»Nun hören Sie aber auf!«
»Gestatten Sie mir, bescheiden zu sein! Es waren ...«
»Die mille è trè?« fragte sie neugierig, wie gewandelt, beinahe liebenswürdig.
»Nicht alle zusammen, gnädige Frau. Nur ein Dutzend davon. Also in anständigen Grenzen.«
»Wie man es nimmt!«
»Schon deshalb, weil das Ihnen wohlbekannte Boudoir der Gräfin von Chiffrevas nicht gar vielen Gästen Platz bietet. Es mögen sich daselbst große Dinge abspielen. Der Raum selbst ist aber entschieden eng.«
»Was Sie sagen!« rief sie überrascht. »Man hat in ihrem Boudoir gespeist?«
»Tatsächlich, gnädige Frau! Warum auch nicht? Auf dem Schlachtfeld schmeckt es einem immer vorzüglich. Man wollte dem Ritter Don Juan ein ganz besonderes Festmahl bereiten. Wo hätte dies für ihn ehrenvoller geschehen können als auf dem Schauplatz seiner Ruhmestaten, dort, wo ihm tausend Erinnerungen duften – nach Myrte statt nach Lorbeer. Das war ein reizender Gedanke, voll süßer Wehmut.«
»Und Don Juan?« fragte sie im Ton wie Orgon in Molières Stück fragt: Und Tartüff?
»Don Juan ist kein Spielverderber. Das Mahl hat ihm trefflich gemundet. Er war so recht der Hahn im Korbe. Und von wem ist die Rede? Von keinem anderen als Ihrem guten lieben Grafen Amadee von Ravilès.«
»Der! Ja, das ist in der Tat der leibhafte Don Juan!« gab sie zu.
Und obschon die alte Betschwester über die Jahre der Schwärmerei längst hinweg war, verlor sie sich doch in Träumereien an den Grafen Amadee, einen echten Sprossen der Juans. Wenn Gott diesem uralten und unsterblichen Geschlecht die Welt nicht geschenkt hat, so hat er zum mindesten dem Teufel erlaubt, sie ihm erobern zu helfen.

2

Was ich der alten Marquise Guy de Ruy erzählt hatte, war die reine Wahrheit. Keine drei Tage war es her, daß zwölf Damen der sittsamen Vorstadt St. Germain – Sie brauchen keine Angst zu haben; ich nenne keine Namen –, also ein volles Dutzend, von dem die Klatschbasen der guten Gesellschaft jeder nachsagen, sie habe mit dem Grafen Amadee auf dem vertrautesten Fuße gestanden, auf den köstlichen Einfall geraten waren, ihn als einzigen Herrn zu einem abendlichen Mahl einzuladen, zur Feier von – ja, wovon? Das ward nicht gesagt. Eine gewagte Sache, so ein Festmahl? Aber die Frauen, als Einzelwesen so feig, sind im Trupp keck und kühn. Vielleicht hätte es nicht eine der Gastgeberinnen gewagt, den Grafen zu zweit bei sich zu einem Abendessen einzuladen; aber vereint, eine von der andern gedeckt, hatten sie alle miteinander keine Angst, einen munteren Reigen um den verführerischen, den guten Ruf jeder einzelnen gefährdenden Mann zu bilden...
»Schon der Name!« warf die Marquise ein.
»Ein vielsagender Name! Ravilla de Ravilès (zu deutsch etwa: Nimm von Nimmen)!«
Der Graf, der – nebenbei bemerkt – dem Gebot dieses Raubritternamens immer gehorchte, war die Verkörperung aller Verführer, von denen uns Geschichte und Dichtung berichten, und sogar die Marquise Guy de Ruy, die alte Lästerzunge mit ihren blauen, kalten, scharfen Augen (das heißt: Herz und Hirn waren bei ihr noch kälter und schärfer!) behauptete: Wenn in unserer Zeit, wo die Frauen ihre Bedeutung von ehedem von Tag zu Tag mehr verlieren, überhaupt noch ein Mann an Don Juan erinnere, so sei es unbedingt Graf Amadee. Leider war er nur noch ein Don Juan im letzten Akte. Dem Fürsten von Ligne wollte es bekanntlich nicht in seinen geistvollen Kopf, daß auch Alkibiades einmal ein biederer Fünfziger geworden wäre, wenn ihn der Tod nicht schon zehn Jahre vordem abgerufen hätte. Ravila hatte also in dieser Hinsicht nicht das Glück des großen Atheners. Aber wie der Graf von Orsay, dieser lebendig gewordene Sieger des Michelangelo, schön blieb bis zu seinem letzten Stündlein, so besaß auch er jene Schönheit, die just ein Erbe des Geschlechts der Juans ist, jener geheimnisvollen Rasse, die sich nicht vom Vater auf den Sohn weitererhält, deren Abkömmlinge vielmehr einmal hier und einmal da, in Raum und Zeit voneinander entfernt, in der großen Familie der Menschheit auftauchen.
Graf Amadee war die leibhafte Schönheit, die zuversichtliche, heitere, herrenhafte, mit einem Wort die Don-Juan-Schönheit. Dies Wort schließt alles in sich ein und erübrigt jedwede weitere Schilderung. Hatte er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, daß ihm seine Schönheit immerdar treu blieb? Allerdings kam mit der Zeit auch der Himmel gewissermaßen zu seiner Rechnung. Die Tigerklauen des Lebens drückten auch ihm ihre Spuren nach und nach auf die göttliche Stirn, um die so viele Frauenlippen Rosenkränze gewunden, und an den Schläfen seines starkknochigen Spötterhauptes leuchteten die ersten silbernen Haare auf, die den Einbruch der Barbaren und den Untergang des Reiches ansagten. Er trug sie übrigens mit dem stolzen Gleichmut, den das Machtgefühl erzeugt. Nur die Frauen, die ihn geliebt hatten, betrachteten sie bisweilen mit Wehmut. Lasen sie auf seiner Stirn, daß auch ihnen die Stunde schlug? Ja, ihnen wie ihm kommt der Tag, an dem der steinerne Gast zum Nachtmahl einlädt, auf das nur noch die Hölle folgt, die Hölle des Alters als Vorläuferin der wirklichen. Und das war es vielleicht, was sie auf den Einfall gebracht hatte, ihm, ehe er sich zu jenem letzten grausigen Abendmahl hinsetzte, ein froheres Gastmahl zu bieten, das sie zu einem Meisterwerk zu machen gedachten, einem Meisterwerk des guten Geschmacks, erlesener Genüsse, aristokratischen Glanzes, heiterer Lebensfreude, reich an schönen Erinnerungen und hübschen Gedanken, kurzum: das reizendste, köstlichste, leckerste, berauschendste und vor allem das allerseltsamste abendliche Festmahl! Wohlverstanden: das allerseltsamste! Gewöhnlich vereint der Drang nach neuer Lust die Menschen zu einem Abendessen. Hier aber war es der Rückblick, die Wehmut, beinahe die Entsagung, die lächelnde oder lachende Entsagung, die noch einmal ein Fest, eine letzte hohe Feier begehrte, eine letzte Torheit, ein mutwilliges Zurück zur Jugend auf ein paar flüchtige Stunden, ein letzter Dionysoszug, mit dem es dann zu Ende war auf ewig.
Die Veranstalterinnen dieses Mahles, das arg verstieß gegen die ängstlichen Sitten ihres Lebenskreises, mochten Ähnliches empfinden wie Sardanapal auf seinem Scheiterhaufen, umgeben von seinen Frauen, seinen Pferden, seinen Sklaven, seinen Schätzen und all dem Prunk seines üppigen Daseins. Auch sie häuften alle Kostbarkeiten ihres Lebens um etwas, was flammend von ihnen scheiden sollte. Über was sie an Schönheit, an Witz, Vermögen, Schmuck und Macht geboten, sollte alles zugleich bei diesem Abschiedsfest mitwirken. Der Mann, für den sie diese Pracht entfalteten, war ihnen mehr wert als ganz Asien dem Sardanapal. Sie waren für ihn gefallsüchtiger denn je Frauen vor einem Mann, ja vor einem Salon von Männern. Ihre Liebäugelei entsprang der Eifersucht, die man sonst vor der Welt verbirgt, die diese Frauen aber nicht zu verheimlichen brauchten, denn jede wußte, daß ihr Held jeder anderen von ihnen einmal angehört hatte – und geteilte Schande ist keine Schande mehr. Jede hegte den Wunsch, sich in seinem Herzen eine Grabschrift zu sichern.
Und er – er empfand an diesem Abend den satten, unumschränkten, zwanglosen, kennerischen Genuß eines morgenländischen Fürsten oder eines Beichtvaters in einem Nonnenkloster. Als Herr und Meister thronte er auf dem Ehrenplatz der Tafelrunde, gegenüber der Gräfin von Chiffrevas, inmitten des pfirsichblütenfarbenen Frauengemaches. Mit seinen hell-dunklen Augen, deren Höllenblau manch betörtes Frauenherz für das Blau des Himmels gehalten hatte, überschaute er den glänzenden Kranz der zwölf Damen, die in erlesener Ordnung um ihn zu Tisch saßen, in seiner Fülle von Blumen, Kristall und Kerzenlicht. Alle Stufen von Weibesreife boten sich seinem umfassenden Blick, von der Purpurglut der vollen Edelrose bis zum Bernsteingold der Muskatellertraube. Nirgends nur winkte das allzu zarte Resedagrün jener Jungfrauen, die Lord Byron nicht ausstehen konnte, weil sie nach neubackenem Kuchen röchen. Derlei kleine steifbeinige Küken waren hier nicht versammelt. Hier prangte der saftige, verschwenderische reiche Herbst in voller Entfaltung. Blendende stolze Busen wogten aus tief ausgeschnittenen Kleidern, und die in Brillanten glitzernden nackten kräftigen Arme wetteiferten mit denen der Sabinerinnen, als sie mit ihren römischen Räubern rangen, wohl imstande, die Räder eines Lebenswagens mit kurzem Griff aufzuhalten.
Von allerlei reizvollen Einfällen war bereits die Rede. Einem solchen zufolge bedienten bei Tisch nur Kammerjungfern, damit es nicht heißen konnte, etwas habe den Einklang eines Festes, dessen Königin das Weib war, doch gestört. So konnte Ritter Don Juan aus dem Hause Ravila seine Raubtieraugen von einem Meer von leuchtendem Fleisch ergötzen, an einem lebendig gewordenen Bild des üppigen Rubens, und seine stolze Seele baden in den mehr oder minder klaren Weihern so vieler Weiberherzen. Denn im Grunde, man mag es ihm abstreiten, so viel man will, ist Don Juan doch ein Anhänger jener Lehre, daß der Geist alles sei. Er gleicht darin dem Höllenfürsten selbst, dem es um die Seelen mehr zu tun ist als um die Leiber und der sich mit Vorliebe diese verschreiben läßt.
Geistreich, vornehm, ganz im Tone der Vorstadt St. Germain, aber an diesem Abend verwegen wie die Pagen des Königlichen Hofes, als es noch König und Pagen gab, waren sie voll sprühendem Witz, voll Schwung und Bewegung und voll unnachahmlichem Brio. Sie fühlten sich allem überlegen, was sie an ihren besten Abenden je gewesen, im Vollbesitz einer geheimen Kraft, die ihrem Innern entquoll und die sie bis dahin nur unbewußt besessen hatten.
Das Glück über diese Entdeckung, das dreifach gesteigerte Lebensgefühl, dazu die körperlichen geheimen Fluten, die für nervöse Geschöpfe so wesentlich sind, der reiche Lichterschwall, der berauschende Duft der Blumen, die sich in der Überwärme des dunstschweren Raumes verhauchten, der aufreizende Sekt, der ganze Sinn dieser Feier, die den prickelnden Beigeschmack des Sündhaften hatte, wie ihn die Neapolitanerinnen bei ihrem Sorbet lieben, der entzückende Gedanke, eine Mitschuldige an diesem frechen Gastabend zu sein, das trotzdem nichts gemein hatte mit den wüsten Gelagen der Régence, sondern eben ein fürstliches Festmahl des neunzehnten Jahrhunderts blieb, bei dem sich an den vor voller Lebenslust gespannten Miedern doch keine Stecknadel löste: alles das wirkte vereint, um die Saiten der Wunderharfen, die in allen diesen erlesenen Geschöpfen bebten, bis zum Zerreißen anzuschlagen und ihnen und ihm nie wieder hörbare Klänge und überirdische Tonfolgen zu entlocken.
Graf Amadee, der diesen seltsamen Abend am unvergleichlichsten schildern könnte, wird auch dieses Blatt seiner Denkwürdigkeiten ungeschrieben lassen. Wie ich der Marquise Guy de Ruy bereits gesagt, habe ich an diesem Fest nicht teilnehmen dürfen, aber wenn ich einige Einzelheiten davon berichte, insbesondere die Erzählung, die den Abschluß bildet, so verdanke ich dies dem Grafen selbst, der sich eines Abends die Mühe gegeben hat, mich einzuweihen, treu der im Geschlecht der Juans herkömmlichen Nichtverschwiegenheit.

(Fortsetzung folgt)

Samstag, 2. November 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (Kap. 2) von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly

Das Fenster mit den roten Vorhängen (1874)

Es ist schrecklich lange her, als ich mich eines Tages zur Jagd auf Wasserwild nach den Sümpfen des Westens aufmachte. In der Gegend, nach der ich wollte, gab es damals noch keine Eisenbahn. Ich setzte mich also in die Post, die am Wegkreuz bei dem Schloß Rueil vorbeifuhr.
Ein einziger Reisender saß im Abteil erster Klasse, und zwar ein in jeder Hinsicht ganz besonderer Mensch. Ich kannte ihn, wie man sich so kennt. Er war mir in der Gesellschaft öfters begegnet. Sagen wir, er hieß Graf von Brassard.
Es war nachmittags gegen fünf Uhr. Die Sonne warf nur noch matte Strahlen auf den Staub der Landstraße, hinter deren Pappelreihen sich die weiten Wiesen dehnten. Unsere vier starkkruppigen Gäule trabten flott vorwärts, vom Peitschenknall des Postillions getrieben.
Brassard, der, nebenbei bemerkt, in England erzogen war, stand damals längst auf der Höhe des Lebens, aber er gehörte zu jener Sorte von Menschen, die, schon dem Tode verfallen, sich dies nicht anmerken lassen und bis zum letzten Augenblick behaupten, sie dächten nicht an das Sterben. Im gewöhnlichen Leben und auch in der Literatur spottet man über Leute, die jung zu sein vermeinen, obgleich sie über die glückliche Zeit der Torheiten beträchtlich hinaus sind. Der Spott ist am Platze, wenn solches Jung-bleiben-Wollen in lächerlicher Form zutage tritt. Zuweilen jedoch wirkt dieses Nichtlassen von der Jugend geradezu großartig. Stolze Naturen lassen sich nicht werfen. Im Grunde freilich ist auch das sinnlos, denn es ist vergebliches Bemühen. Aber es ist schön, wie so vieles Sinnlose. Wer so dem Alter trotzt, in dem lebt der nämliche Heldengeist wie in der Alten Garde bei Waterloo, die eher starb, als daß sie sich ergab. Und für ein Soldatenherz ist das Nie-und-nimmer-sich-Ergeben doch die Losung in allen Dingen des Lebens.
Der sich nie ergebende Brassard – er lebt übrigens noch; wie er lebt, das geht aus dem Folgenden hervor – war damals, als ich zu ihm in die Postkutsche stieg, im Lästermunde der Welt ein sogenannter »alter Schwerenöter«. Wem hingegen Zahlen und Urkunden über das Alter eines Menschen nicht viel bedeuten, weil jedermann just so alt ist, wie er aussieht, dem war und blieb der Graf einfach »ein Schwerenöter«, oder besser ausgedrückt – denn diese Bezeichnung klingt zu kleinbürgerlich – ein Prachtmensch. Entschieden war er das zum Beispiel in den Augen der Marquise von V***, einer Kennerin in punkto Mannestugend, einer echten Dalila, die so manchen Simson unter ihrer Schere gehabt hatte. Alte Schwerenöter sind zumeist lüsterne, magere, dürftige, gezierte Erscheinungen. So darf man sich aber den Grafen von Brassard ja nicht vorstellen. Da bekäme man ein grundfalsches Bild. Leib, Geist, Haltung, Bewegung, alles an ihm war stattlich, verschwenderisch, vornehm, herrenhaft-gelassen. Mit einem Wort, er war ein echter Dandy wie Georg Brummell in seiner besten Zeit. Wäre er weniger ein Dandy gewesen, so hätte er es zweifellos bis zum Marschall von Frankreich gebracht. Er war einer der glänzendsten Offiziere des ersten Kaiserreichs. Regimentskameraden von ihm haben mir des öfteren seine Tapferkeit gerühmt. Sie sei so groß gewesen, wie die von Murat und Marmont zusammengenommen. Dazu hatte er viel Witz und viel Kaltblütigkeit. Somit hätte er als Soldat rasch sehr hoch kommen können, wenn er nicht eben so sehr Dandy gewesen wäre. Einem Offizier müssen Gehorsam, Pünktlichkeit und allerlei andere Diensttugenden in Fleisch und Blut übergegangen sein. Das ist aber mit dem Dandytum unvereinbar. Man kann nicht Berufssoldat und zugleich Dandy sein. Offiziere wie Brassard sind in einem fort nahe daran, um die Ecke zu gehen. Und Brassard wäre während seiner Soldatenzeit zwanzigmal um die Ecke gegangen, wenn er nicht wie alle Lebenskünstler Glück gehabt hätte. Mazarin hätte ihn brauchen können; seine Nichten auch, freilich aus anderen Gründen. Brassard war wirklich ein Prachtmensch.

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