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Montag, 28. November 2011

Für Sie besucht: Patrick Roth, "In My Life - 12 Places I Remember" im Rahmen des Hugo-Ball-Festjahres 2011

Patrick Roth            Foto: Stefan Vieregg

Unter diesem Motto stand der äußerst gelungene Abend von und mit Patrick Roth, dem Filmemacher und Autor. Ein weiteres Highlight in der stattlichen Sammlung von sehr ansprechenden, seltenen und hochaktuellen Angeboten der Hugo-Ball-Gesellschaft, deren Geschäftsführung mit Ricarda Faul eine sehr aktive und emsige Kulturgestalterin gefunden hat. An dieser Stelle auch ein herzliches Dankeschön an Ricarda Faul, die in 2011 enorm viel frischen Wind in die eher träge Seele der pfälzischen Kulturkolonie und ihrer nationalen wie internationalen Anhänger gebracht hat. Ein Kunststück, hier ein großes Publikum zu mobilisieren und dann hoch interessierte Menschen zu versammeln. Ein runder Geburtstag in Pirmasens, den man lange feiern wird.

1953 in Freiburg i. Br. geboren wuchs Roth in Karlsruhe auf und kam mit 22 Jahren und durch den DAAD nach Los Angeles, wo er 31 Jahre fest lebte. Jetzt erst beschloss er, 2012 wieder ganz nach Deutschland zurückzukehren. Zu jenen Orten in Los Angeles, an denen er in diesen Jahren damals wohnte und schrieb, Erfahrungen und Begegnungen sammelte, kehrte er anlässlich seines Films IN MY LIFE zurück und drehte im Auftrag des ZDF einen 40-minütigen autobiografischen Film, ein "elektronisches Tagebuch": herausgearbeitete Kristallisationspunkte der Erinnerung an das frühere Leben und Arbeiten, die den Prozess der persönlichen und künstlerischen Entwicklung rückblickend sichtbar werden lassen. Ein Film, der seine Person selbst zum dramaturgischen und inhaltlichen Gegenstand hatte, eine große Aufgabe und eine Herausforderung.

Im selben Jahr, als der Film fast fertig war, 2006, erhielt Patrick Roth die Auszeichnung "Mainzer Stadtschreiber". Er beschreibt am Ende des Films ein Gefühl der tiefgründigen Unsicherheit und Ungewissheit anlässlich einer bevorstehenden Lesung aus seinen Werken und hinsichtlich der Dinge, die waren und kommen werden. Das so wichtige Zusammentreffen von Zuhörern und ihm im Mainzer Dom, die Gewissheit, dass in 30 Jahren spätestens nur noch wenige aus diesem Kreis leben würden und dass aus der Vergangenheit in eine ungewisse Zukunft hinein ein magischer Fluss des Vergänglichen fließt, wie von einem weißen Licht in der Ferne angezogen. Am Ende dieser intensiven Ich-Suche und -Findung im Film die Ahnung, dass alles seinen Sinn und Bedeutung hat, so zufällig es auch erscheint.
Patrick Roth          Foto: Stefan Vieregg
Die 12 Plätze in Los Angeles, seine 12 Wohnungen, beispielsweise nahe der reichen Filmbibliothek der USC, University of Southern California, oder in der Nähe des Kinos, wo er mit seiner späteren Frau in der Kinoschlange zu einem Film von Robert Altman stand. Ein schmuckes, reich verziertes Holzhaus der Jahrhundertwende, das er liebevoll streichelte, oder ein anderes, dessen Besitzerin eine der deutschen Emigranten aus Nazideutschland war, die Roth die Kontakte zu namhaften Emigranten und selbst zu der Enkelin von Einstein ermöglichte. Auch dabei eine Behausung, die er mit seiner Frau bei Familie Langsam bis zur Scheidung teilte, und eine, die durch ein Erdbeben völlig durcheinandergeworfen wurde. Schließlich jene Wohnung, in der er die meisten seiner Texte schrieb. Eine Wohnung in der Nähe des Death Valleys, des "Zabriskie Points" von Michelangelo Antonioni aus dem Jahr 1970 und seinem direkten Bezug zu dem Lebensgefühl der 68er-Generation. Biblisches Urgestein, Urbegriff des Natürlichen in der gesamten Landschaft.
Hoch kunstvoll verbindet der Autor seinen autobiographischen Ausflug mit dem ägyptischen Totenbuch, das den Pharao auf seinem Nachen zeigt, wie er genau 12 Stunden lang in das Reich der Toten, die Unterwelt und das Königreich von Osiris vorstößt, um es dann wieder zu verlassen. 12 Stunden - 12 Orte ... Der Strom des Unbewussten, Stream of Consciousness, das Monologisieren von James Joyce und die Bilderwelt der Traumsymbole C.G. Jungs stehen ebenfalls Spalier zu dieser Hochzeit mit dem Erlebten, Erfahrenen, Verdrängten und Wiederaufgetauchten. Auf diesem Strom gelangt der Autor im schwarzen Ford Mustang, dem modernen Pferd des Cowboys, zurück zu seinen Stationen und Idolen, Einflüssen und Emotionen. Scheinbar Totes, aber bei Aufrufen wieder Lebendiges ... Keine Autobiografie ohne Traumarbeit, ohne Kommunikation mit dem Unbewussten will uns der Autor sagen. Patrick Roth hat bis heute 40.000 Seiten Traumprotokolle gesammelt. Er benutzt Träume als Quelle seiner Inspiration und weiß, wie wichtig diese Bilder für ihn, sein Verstehen und die Kunst des Schreibens sind.
Seine Vorliebe für Hölderlin verschafft uns den Genuss eines der großen Gedichte inmitten des städtischen Treibens von LA zu erleben, der Begnadete, umnachtet gestorben, wird ebenso  integriert wie amerikanische Mythen, der Western, das Lagerfeuer... Patrick Roth am Lagerfeuer seiner Helden, ein Fastamerikaner, den Traum der anderen mittragend, ein Lonely Cowboy, auch mal ein echtes Pferd reitend, und Hero in einem Road Movie. Auch der Extremtrinker Charles Bukowski, der in Andernach als Sohn eines GIs Geborene, verewigt in einem frühen Kurzfilm von Roth. Die Flut der Bilder wurde im Entstehungsprozess des Films immer größer, sodass eine Traumsequenz, die kein Entkommen mehr vor den Fluten, dem Bedrohlichen signalisierte, auch die Grenzen eines solchen Projekts zeigte.


Michaela Kopp-Marx     Foto: Stefan Vieregg
Abschließend sprach der Autor mit Michaela Kopp-Marx, einer Patrick-Roth-Spezialistin aus dem Heidelberger germanistischen Institut, und den Zuhörern eine kurze Zeit über seine Intentionen im Film und stellte noch mal klar, dass allein Projektionen eines selbst die Wirklichkeit wahrnehmen lassen, auch die eigene.  Im letzten Teil las er aus »Real Time an den Feuern« - einer unveröffentlichten Erzählung aus acht Tableaus, acht Tagebucheinträgen aus dem Juli 2002. Jedes Bild steht für sich und ist doch mit allen anderen verbunden im durchgängigen Motiv der »Real Time«: des Dauerns von Zeit, der intensiven Teilhabe am Erzählten.
Patrick Roth    Foto: Stefan Vieregg
Gewählt wurde eine Passage rund um einen Film von Eric Rohmer, Meine Nacht bei Maud (Ma nuit chez Maud, 1969), in dem rein diskursiv Themen wie Ehe, Moral, Treue und Verführung behandelt werden. Dieses mentale Fremdgehen von Jean-Louis (Trintignant) mit Maud wird für immer ohne Folgen sein, am nächsten Morgen macht er seiner eigentlich Geliebten den Heiratsantrag. Diese Maud hatte es dem Autor angetan und in einer Zelebrierung des Films vollzieht er mit einem Freund und einer Freundin eine ähnliche Runde, die er später beschrieb.

Weitere Lesungen:

Mittwoch, 30. November 2011, 19.00 Uhr
Mannheim, Ökumenisches Bildungszentrum Sanctclara, B 5,19
LICHTERNACHT

Samstag, 3. Dezember 2011, 17 Uhr
Berlin, Evangelisches Kirchenforum (Parochialkirche) 
Klosterstr. 66
Veranstalter: C.G. Jung-Gesellschaft Berlin
NO FICTION/DER FREMDE REITER
(Lesung von Patrick Roth)
DIE MACHT DES UNBEWUSSTEN. Eine Annäherung an den FREMDEN REITER
(Vortrag von PD Dr. Michaela Kopp-Marx)
http://www.jungberlin.de/events/?event_id=30

Freitag, 9. Dezember 2011, 20 Uhr
Universität Bielefeld
REAL TIME AN DEN FEUERN

Donnerstag, 15. Dezember 2011, 20.30 Uhr
Frankfurt, Romanfabrik, Hanauer Landstr. 186
LICHTERNACHT und Unveröffentlichtes

Samstag, 26. November 2011

Buchbesprechung: Weiskerns Nachlass von Christoph Hein

Christoph Hein
Weiskerns Nachlass
Frankfurt 2011, 318 Seiten, Suhrkamp Verlag 

Er war nicht immer so übersättigt und zynisch gewesen. Auch er war einmal vergnügt und mit Energie in die Seminarräume gestürmt und zu seinen Vorträgen, war bemüht, die jungen Leute aufzuwecken, sie aus ihrer Lethargie zu reißen, ihnen Futter zugeben oder doch anzubieten... Zu unterrichten bereitete ihm Spaß, er genoss es, ein Lehrer zu sein. Dabei galt er, wie er wusste, als streng und anspruchsvoll, er sein nie zufriedenzustellen, doch es hieß, er sei gerecht und höre zu, was offenbar seltene Lehrertugenden waren...“

Rüdiger Stolzenburg, der Romanheld, ist 59 Jahre alt und hat seit 15 Jahren eine halbe Stelle als Dozent in einem kulturwissenschaftlichen Institut in Leipzig.
Als Dozent für Literatur und Kulturwissenschaften kennt er Schillers Antrittsvorlesung an der Jenaer Universität über den Gegensatz zwischen Brotgelehrten und Geisteswissenschaftlern. Stolzenburg ist noch Geisteswissenschaftler, Aufstiegschancen existieren allerdings für ihn nicht, mit seinem Gehalt kommt er nur schlecht über die Runden. Dürftige Honorare für freie Aufträge helfen beim Überleben.
Der Romanheld ist ein typisches Beispiel des akademischen Prekariats und des alternden, enttäuschten DDR-Wissenschaftlers. Ihm fehlt jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft oder wie Christoph Hein in einem Interview über seine Hauptfigur sagt: „Das Leben wird für Stolzenburg noch sehr viel härter werden. Aber da sehen Sie meinen optimistischen Blick auf die Welt, dass ich rechtzeitig den Vorhang schließe.“
Die selbst gesetzten Maßstäbe an Lehre und Forschung kann Stolzenburg unter den bestehenden Verhältnissen nicht aufrecht erhalten. Für sein Forschungsprojekt über den Schauspieler, Librettisten Mozarts und Kartografen Friedrich Wilhelm Weiskern lassen sich weder Drittmittel noch Publikationsmöglichkeiten erschließen. Eine hohe Nachforderung der Finanzamtes, die ihn an den Rande des Ruins treibt, verdeutlicht Stolzenburg endgültig, dass in der privaten und beruflichen Welt, den menschlichen Beziehungen und der Gesellschaft Unverzichtbares abgewickelt wird. Moralische Werte verblassen.
Ablenkung findet er bei seinen Freundinnen, die es aber nicht wagen dürfen, zu tief in sein Leben einzudringen: Er liebt Frauen, aber er braucht die Distanz... Allein zu sein, das ist für ihn lebensnotwendig. Zu viel Nähe verträgt er nicht. So hat er „regelmäßigen, brauchbaren, unkomplizierten Sex“ mit der Friseuse Patricia, die ihn anhimmelt, die er fair behandelt, aber nicht liebt. Schließlich lässt er sie allein zurück. Eine neue Beziehung aufzunehmen, scheitert an Vorurteilen und Ängsten. Hein beschreibt nüchtern die Unfähigkeit zu lieben, nicht, weil man nicht lieben möchte, sondern weil man es verlernt hat.
Aber vielleicht, sagt er sich, ist er mittlerweile zu so etwas wie Liebe nicht mehr fähig, vielleicht ist er zu alt dafür oder zu müde. Nach wie vor ist er gern mit Frauen zusammen, er ist lieber in ihrer Gesellschaft, geht lieber mit ihnen aus als mit seinen Freunden, und die Gespräche mit Frauen sind ihm angenehmer als die etwas drögeren Unterhaltungen mit Männern... Er verträgt es nicht, wenn Tag und Nacht eine Frau um und bei ihm ist, und sei es auch nur im Nachbarzimmer. Er hat sie gern, es macht ihm Spaß, für sie zu kochen, er schläft gern mit ihnen, aber das war es dann auch.“

Um den Wissenschaftler herum zerbrechen menschliche Beziehungen, setzen Gewalt frei, geben mehr Schein als Sein preis. Schließlich wird er ahnungsloses Opfer und unfreiwilliger Verfolgter in einem Betrugsfall.
Hein zeichnet außerdem ein düsteres Bild der jüngeren Generation. So wird Stolzenburg von einer Teenager-Mädchenbande verfolgt, erpresst und niedergeschlagen. Seine Studenten versuchen ihr Diplom gegen Liebesleistungen oder Geld einzutauschen. Einige von Stolzenburgs Studenten, wie der wenig Interesse zeigende Sebastian Hollert, verfügen über ein Monatseinkommen, von dem er nur träumen kann.
Der Roman beginnt und endet an Bord eines Flugzeuges. Die Maschine gleitet ruhig dahin. Nur einer der Passagiere ist auf dem Flug nach Basel ins Grübeln gekommen. Ein Kulturwissenschaftler, also kein Grund zur Beunruhigung...
Christoph Hein bewies schon mit dem Buch „Frau Paula Trousseeau“ seine Analysefähigkeiten. Dem Autor ist ein aktueller, realistischer, literarisch gut durchdachter Gesellschaftsroman gelungen. Mich hat das Buch sehr berührt. Michael Hametner, der mdr-Literaturredakteur meint: „Hein analysiert die Verhältnisse, in denen wir leben, so präzise, dass es einem bei der Lektüre richtig kalt wird."


Über den Autor:
Christoph Hein wuchs in der Kleinstadt Bad Düben bei Leipzig auf. Er arbeitete als Montagearbeiter, Buchhändler, Kellner, Journalist, Schauspieler und Regieassistent. In Berlin und Leipzig studierte er zwischen 1967 und 1971 Philosophie und Logik. Danach wurde er Dramaturg und Autor an der Volksbühne in Ost-Berlin. Seit 1979 arbeitet er als freier Schriftsteller. Bekannt geworden ist Christoph Hein durch seine Novelle Der fremde Freund. Als Übersetzer bearbeitete er Werke von Jean Racine und Molière. Von 1998 bis 2000 war Christoph Hein erster Präsident des gesamtdeutschen PEN-Clubs und bis Juli 2006 Mitherausgeber der Wochenzeitung Freitag. Christoph Hein hat mit seiner inzwischen verstorbenen Ehefrau, der Filmregisseurin Christiane Hein, zwei Söhne, der jüngere ist der Schriftsteller und Arzt Jakob Hein. Hein ist Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste. Lyrische Werke von Christoph Hein wurden 2009 von Hans-Eckardt Wenzel unter dem Titel „Masken“ vertont.

Sonntag, 1. Mai 2011

Buchbesprechung: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud

Christa Wolf
Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud
Suhrkamp Verlag 2010


Du bist dabei gewesen. Du hast es überlebt. Du kannst davon berichten.“
Wo lebten wir? In welchem gesellschaftlichen System prägten sich unsere Erfahrungen? Was macht unser Leben aus? Müssen wir uns für ein Leben entschuldigen? Diesen philosophischen Grundfragen geht die Autorin Christa Wolf, die drei deutsche Staats- und Gesellschaftsformen erlebte, in ihrem Buch "Stadt der Engel" nach.
Rezensenten schrieben, das Buch wäre schwer zu verstehen, larmoyant und voller Selbstmitleid. Wer sich nie die Frage nach dem Lebenssinn gestellt hat, nach Stärken und Schwächen seines eigenen und des Lebens aller, wird dem Buch vorwerfen, es sei kein Roman.
Die bundesdeutsche Öffentlichkeit verlangte und fordert von Christa Wolf mehr und mehr das Eine: das Bedauern, in dem kleinen Land geblieben zu sein, Enthüllungen über ihre Tätigkeit für die DDR-Staatssicherheit, Fehler in ihrer Arbeit im Schriftstellerverband. Sie verlangt eine Verzerrung der eigenen Erinnerungen. Erneut wird die deutsche Spaltung und Einheit zum Thema.

Das Buch handelt in der Stadt der Engel, in Los Angeles, in der die Autorin einige Wochen verbrachte. Hier trifft sie auf die Spuren von Feuchtwanger, Brecht, Eisler, Mann, jener deutschen Exilschriftsteller, das damals auf der Flucht vor den Nazis in der Stadt lebten. Schon sie wollten einen Staat, in dem „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist".
Christa Wolf entwirft eine zweites Ich, das ihr ähnlich ist. Sie betrachtet sich von außen mit eigenen Augen und beschreibt einen ständigen Gesprächspartner, einen Sohn von Emigranten, der ihre Verzweiflung über den Hohn des Lebens in der DDR ebenso ernst wie spöttisch aufnimmt und reflektiert. Gleichzeitig geht sie in ihrem Forschungsprojekt im Getty Center mit den Briefen einer verstorbenen Kommunistin auf Spurensuche nach der Hoffnung aus der Zeit des Widerstandes gegen die Nazis, dem scheinbaren Beginn einer gerechteren Welt. Diese Hoffnung zerrinnt mit der fortschreitenden Entwicklung der DDR. Der Prozess wird erneut beleuchtet, den Christa Wolf eine Revolution und andere Schriftsteller nur eine „Wende“ nennen : Die Erhebung der DDR-Bürger, um Meinungs- und Reisefreiheit zu erzielen, um danach resigniert festzustellen, dass ihre Meinung wenig wert ist und das einzige, „was bleibt“, die Verbitterung und die Vergleichsmöglichkeit zweier Gesellschaftssysteme ist.
Mit Wehmut erinnert sich die Christa Wolf an die Tage der Volkserhebung, an denen sie selbst, auf dem Berliner Alexanderplatz sprechend, beteiligt war und „die Staatsmacht es als schlimmste Drohung empfand, als die Massen auf den Straßen die Losung riefen: Wir bleiben hier!" Sie hat auch nicht jene Offiziere der DDR-Armee vergessen, die ihr erzählten, wie sie in dieser Zeit die Munition der Truppe einsammelten, denn: „Einen Volksarmee schießt doch nicht auf das Volk". Und, an einer anderen Stelle des Textes erzählt sie im Gegensatz dazu wieder von der „Gerechtigkeit“, der besseren Sache, die es verteidigen wollte, dieses kleine Land. Am 17. Juni 1953 wird sie, die junge Genossin, in der Leipziger Innenstadt vom Pöbel aufgefordert, ihr Parteiabzeichen abzulegen. „Nur über meine Leiche“, antwortet sie überzeugt. Unbelehrbar wird die Presse tönen. Viele werden die Überzeugung nicht verstehen, dass es Gemeinschaftliches, Gerechteres, Besseres geben muss und es sich lohnt, dafür zu kämpfen.
Wie verletzlich das Individuum ist, wie schnell aus Begeisterung und Einsatz Verletzlichkeit und Hoffnungslosigkeit entstehen? Um sich nicht immer mehr verletzen zu lassen, benötigt man den „Overcoat" des Dr. Freud, der aber immer wieder sein Inneres nach außen kehrt. Am Ende des Buches hilft nur noch ein schwarzer weiblicher Engel, die Selbstzweifel hinweg zu tragen...

Im Übrigen ist die Zeit der Klagen und Anklagen vorbei, und auch über Trauer und Selbstanklage und Scham muss man hinauskommen, um nicht immer nur von einem falschen Bewusstsein ins andere zu fallen. „Im Winde klirren die Fahnen“ – Welcher Farbe auch immer. Na und? Dann klirren sie eben, aber warum haben wir es so spät gemerkt. Wir müssen leben nach einem unsicheren inneren Kompass und ohne passende Moral, nur dürfen wir uns nicht länger selbst betrügen. Ich sehe nicht, wie das ausgehen soll, wir graben in einem dunklen Stollen, aber graben müssen wir halt.“


Warum einer ist, wie er ist? Diese Suche nach dem Sinn des Lebens, die Christa Wolf anspricht, ist, angesichts einer bunten, spektakulären Medienwelt längst beantwortet: Zuschauen und im Heute leben, das Gestern vergessen und auf das Morgen pfeifen. In Los Angeles erreicht die Erzählerin das Gestern in Form von Zeitungsartikeln, von Faxen, in denen die Frau, die gestern noch als Dissidentin und berühmte Schriftstellerin galt, heute zur Parteidichterin und Denunziantin wurde. Warum sie denn nicht gegangen wäre, wird gefragt. Sieger bieten immer die Unerbittlichkeit der zwei Seiten. Die Siegerseite hat man zu wählen, die Verliererseite zu verdammen. Christa Wolf verweigert sich der Wahl, nach einem Ausweg suchend, einem Weg dazwischen, jenem „dritten Weg“ zwischen gestern, heute und morgen.
Im Heute breitet sich der „Virus der Menschenverachtung“ wieder schneller aus, meint Christa Wolf.

„Wohin sind wir unterwegs? Das weiß ich nicht."
Es geht um die Aufrichtigkeit der eigenen Erinnerung. Es geht um die Kunst des Erinnerns. Eine fast unlösbare Aufgabe.

Christa Wolf wurde 1929 in Landsberg geboren. Sie arbeitete und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin, Lektorin, Redakteurin und Schriftstellerin und lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Gerhard Wolf, in Berlin. Wichtige Werke sind: „Der geteilte Himmel“ (1963), „Nachdenken über Christa T.“ (1969), „Kindheitsmuster“ (1976), „Kassandra“ (1983), „Der Störfall“ (1987), „Sommerstück“ (1989), „Was bleibt“ (1990), „Medea“ (1996), „Leibhaftig“ (2002, „Ein Tag im Jahr“ (2003) u.v.a.m..