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Dichterhain, Bände 1 bis 4

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Dichterhain, Bände 5 bis 8

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Sonntag, 19. November 2017

Wie war's in der Uraufführung von DER MIETER in der Oper Frankfurt a.M.?

Björn Bürger (Georg)
(c) Barbara Aumüller
 
Die Uraufführung von DER MIETER von Arnulf Herrmann in Frankfurt am Main ist ein wirklich gelungener Start für eine unique und sehenswerte Inszenierung. Die Oper thematisiert die totale Aufsaugung des Individuums durch Riten, Zwänge und Mobbing. Durch komplette Verwirrung und Schizophrenisierung wird der individuelle Spielraum immer kleiner. Die Entpersönlichung und die manipulierte und herbeigeführte Identitätsaufgabe zu Gunsten einer erwünschten Identität endet in der Selbstauslöschung. Weil es so irreal ist, erscheint einem das Ganze wie ein in überspitzte Bühnenbilder und Szenen umgesetzter individueller Zwang und Wahn mit kräftig schizophrenem kollektivem Umfeld. Die Psyche eines Mieters, der durch exogene Kräfte zu dieser Selbstleugnung und zum Selbstauslöschen gezwungen wird, erscheint als bunt-grotesker Alptraum. Dazu eine sehr gut aufnehmbare und ausdrucksstarke Musik und Gesang. Die musikalische Leitung hatte Kazushi Ono souverän inne.

Herrmanns Grammatik der Musik und Bilder korrespondiert aufs Feinste mit der Grammatik des Librettos, das von Klaus Händl stammt, einem österrreichischen Multikünstler. Der Schriftsteller, Filmregisseur und Dramatiker, Schauspieler und Dozent für Bühnenbild hat bereits etliche Libretti geschrieben, darunter für Eduard Demetz, Klaus Lang, Georg Friedrich Haas. Im Vordergrund seine eigene Stücke, Hörspiele und 2016 auch einen Film. Für sein Schaffen hat er u.a. den Robert-Walser- und den Ingeborg-Bachmann-Preis erhalten.

Wortfetzen, Wiederholungen, aufgelöste und invertierte Grammatik, traumartige Konstruktionen mit wenig Sinn und kaum regulärem Konnotationenverlauf. Die meisten Wörter sind durch Doppelpunkte voneinander getrennt. Klopf- und andere Geräusche werden in dieser Sprache des Unbewussten zu Taktgebern des Alptraummetronoms. 

Die Psyche von anderen Mietern, die ihren Freiraum bis aufs Äußerste
Björn Bürger (Georg) und
Philharmonia Chor Wien
(c) Barbara Aumüller
verteidigen wollen, einen Kampf um die Wohnberechtigung vom Zaun brechen, scheint nur auf die Auslöschung des Neuen, Fremden, Bedrohlichen ausgerichtet zu sein. Das Geschehen wird durch die Überanpassung an Regeln und Zwänge und das Überangebot derselben getragen. Die Mobbergesinnung mancher Menschen (nicht nur) im alltäglichen Wohnumfeld findet hier einen starken Niederschlag. Polanskis Thrillerdramatik taucht hier auf, Hitchcocks Dramaturgie klopft den Takt für Mieter, und davon gibt es wirklich genug. Fast jeder kommt einmal in die Verlegenheit in einer Mietwohnung zu landen, wo andere Mieter sich als sehr schwierig entpuppen. Es sind sicher auch etliche Mieter dabei, bei denen das Mietverhältnis unerträglich wurde. Ganz schlimm wenn Verfolgungen dazukommen, Anhänger autoritärer Systeme auf eigene Faust oder mit juristischer Legitimation unter dem Deckmäntelchen irgendwelcher "notwendigen" Maßnahmen Nachbarn bespitzeln, observieren, überwachen oder gar schädigen nach Vorbild der vielen billig-brutalen Fighterwelten der Games. Je dritter der Weg desto übler die Methoden. Was aber Georg in DER MIETER passiert ist noch mal eine Potenzierung. Der filmische Bezug wird auch durch überdimensionale Videoprojektionen von Bibi Abel hergestellt.


In einer völlig grotesk-absurden Übersteigerung der Vermieter- und Mitmieterallmacht gemischt mit einem magisch-rituellen Geschehen der Entpersönlichung hat hier Arnulf Hermann eine sehr gelungene Psychothrilleroper geschaffen. Das Vorgeschehen wird hier als ein so verpflichtender und oktroyierter Auftrag zur Nachahmung angeboten, dass es einen ungeheuren Sog auf den neuen Mieter Georg ausübt. Man steckt mittendrin in der Ontologie über das Ansteckende von sozialen Zwängen und ihre destruktive Kraft.

Georg Schwarz (wunderbarer Bariton Björn Bürger mit hier sehr hohem schauspielerischem Engagement) zieht in eine Wohnung, in der sich eine Frau namens Johanna (gelungenes Debüt der Sopranistin Anja Peterson) eingemietet hatte, die Selbstmord beging und durch das geschlossene Fenster sprang. Die Spuren sind noch zu sehen, das Glasdach unter dem Fenster ist noch kaputt, Glasscherben liegen im Zimmer herum. Alles wäre blutig gewesen - "die Schweinerei". Die Wohnung in Paris ist spärlich eingerichtet, aber er nimmt sie, weil auch zu dieser Zeit große Wohnungsnot herrscht. Es herrscht ein strenger und rüder Ton, Frauen sind im Zimmer nicht erlaubt und "Wir sind ein stilles Haus" - schnell wird er von Haushälterin Bach (vertratscht Hanna Schwarz) und Vermieter Zenk (streng im Hausrock Bass Alfred Reiter) in die Hausordnung eingeführt. Im Café gegenüber beginnt der gesellschaftliche Zwang, ihn zur Vormieterin mutieren zu wollen, statt Kaffee soll er Schokolade trinken, die Filterlosen (verführerisch im Strumpfband des Kellners steckend, eine homoerotische Verführung den Sprung zur Frau zu wagen) aufgedrängt, obwohl er Nichtraucher ist. Die ganze Cafészene ein grotesk-irreales Geschehen, der Kellner ist wie in einem Spiegellabyrinth vervielfältigt, es gibt fast keine anderen Gäste, einer der Kellner jongliert eine Toiletten- statt Suppenschüssel. Die Nachbarn Krell (Tenor Theo Lebow, USA) und Kögel (Schlaf- und Ruhefetischist Tenor Michael Porter, USA)  verbreiten Angststimmung, indem sie einen Vorfall aus der Zeitung thematisieren, bei dem ein zu lauter Mieter erschossen wurde.

Georg lädt Gäste zur Einweihung ein, die Einweihungsfete mit Bekannten wird lauter als geplant. Herr Kögel weist ihn in die Schranken von wegen Ruhestörung nach 22 Uhr und wird immer unverschämter und unhöflicher, "Halten Sie Ihr blödes Maul", "Fahren Sie zur Hölle, Schwarz". Die erste Attacke gegen den neuen Mieter ist geritten. Hier beginnt eine weitere Ebene, nämlich die Bekämpfung des Mieters, sein Wegdrängen, der ja letztendlich eine jener Kreaturen ist, die man nicht mag, verachtet, weil er stören, laut werden und anders sein könnte.

Björn Bürger (Georg) und
Anja Petersen (Johanna)
(c) Barbara Aumüller
Die Nachbarinnen Dorn (reizende Mezzosopranistin Judita Nagyová) und Haushälterin Bach wollen ihn zu einer Unterschriftenaktion gegen Frau Greiner und ihre gehbehinderte taubstumme Tochter wegen Ruhestörung zwingen, aber er lehnt ab. Die Damen werden zu Furien und Georg verweist sie der Wohnung. Dennoch ist Frau Greiner (in bekannter Qualität Mezzosopranistin Claudia Mahnke) der Meinung, er habe sie angezeigt, Georg beteuert seine Unschuld. Er ist entsetzt über die Mieter und Verhältnisse in diesem Haus. Hin- und hergerissen zwischen Selbstbehauptung und Anpassung beginnt die äußere Verwandlung zu Johanna, die ihm nun auch "erscheint". Erst als er merkt, dass er schon Frauenkleider und -schuhe trägt, um nicht aufzufallen, und Nachbarn sowie Handwerker am Dach ihn deswegen verhöhnen, bemerkt er, was ihn da erfasst.

Der Chor dokumentiert die exogenen Kräfte mit

wir : haben : dich : und : packen : dich :
wir : küssen : dich : verwandeln : dich :
und : küssen : hassen : dich :



Vorne Alfred Reiter (Herr Zenk; stehend) und Björn Bürger
(Georg; liegend und in der Projektion) sowie im Hintergrund Philharmonia Chor Wien
(c) Barbara Aumüller


 















Eine Demonstration - im Grunde gegen ihn - betritt das Haus, umzingelt ihn als multipler Verfolgungswahn, es lärmt und schreit um ihn herum. In einer sehr einprägsamen Szene beginnt die letzte Phase des Ichaustauschs im dritten Akt "Verwandlung" (nach "Der neue Mieter" und "Die Nachbarn") zwischen Georg und Johanna. Von der Regie unter Johannes Erath und dem Bühnenbild von Kaspar Glarner sind auch diese Szenen packend, einprägsam und anspruchsvoll gestaltet. Das Eingangsvideo könnte einer Produktion aus dem Schauspiel nebenan entnommen sein. Ein riesiger Gregor Samsa/Georg Schwarz in einem viel zu kleinen Zimmer mit einem Miniaturtisch. Georg am oberen Ende einer Schräge zum Sprung bereit, Aug in Aug mit Johanna am unteren Ende. Die Absorption der weiblichen Persönlichkeit wird zu einem fast zu lange dauernden Prozess, der aus der Spiegelung und Synthese, dem Dialog der Persönlichkeiten lebt, und im Endeffekt als Plateau des zweifachen Selbstmordversuchs Georgs bis zum Erfolg dient. Der Chor/die Mieter / Nachbarn / Mitmenschen fordert sein Springen, und er tut es, durchschlägt das Glasdach, aber überlebt.

und an : und an : so : dass ich : sprang
und still : e : sang : bist du : bin ich
die zitternd : spricht : es : ist
die luft : schlug : auf : brach
sich : der schlag :
er : öffnet  :
mich :


Das feste Todesziel vor Augen schleppt er sich blutend mit Knochenbrüchen wieder hoch in seine Wohnung und springt erneut - mit Erfolg...

und du bist : und : ich : nehm : schweig : die hand :
wie du : und bin : ich : still :


Eine spannende zeitgenössische Oper, die Verbindungen zum literarischen Expressionismus zeigt, Großstadt und Sprache bei August Stramm beispielsweise, um nur einen zu nennen. Auch kennt sie Kafkas Welten - schon die Bezeichnung des dritten Aktes stellt deutliche Bezüge zu Kafka her. Als Romanvorlage diente der Roman LE LOCATAIRE CHIMÉRIQUE von Roland Topor (1964), der als DER MIETER von und mit Roman Polanski als Trelkovsky verfilmt wurde (Erscheinungsjahr 1976). Mit der Romanlektüre und dem Film hat man dann drei Varianten der gesammelten Wahnvorstellungen, Irrealität und des Grotesken in Form von Thriller und Horror.



Die Uraufführung wurde von Südwestrundfunk (SWR2) in Koproduktion mit dem Hessischen Rundfunk (HR2), Westdeutschen Rundfunk (WDR3) und Deutschlandfunk Kultur (DLF Kultur) aufgezeichnet.