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Dichterhain, Bände 1 bis 4

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Dichterhain, Bände 5 bis 8

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Donnerstag, 26. September 2013

Dichterhain: VERBLENDET. Prosa von Thomas Reich


VERBLENDET


Er fragte mich, wer ich sein wolle, wenn ich nicht ich selbst sein müsste. Ich erschauderte an den Möglichkeiten, die von Verrat bis heimtückischem Mord reichten. Ich erkannte die Matrizen der westlichen Welt, lernte meinen Ellenbogen das Denken beizubringen.

Manchmal sitze ich da, wische vertrocknete Fliegen von einem staubigen Fenstersims, und frage mich, wie es soweit kommen konnte. Im Mülleimer liegt der Putzplan der letzten Woche. Reliquien einer Zeit, als wir noch alle Entscheidungen in der großen Runde beschlossen. Das war, bevor er kam. Nun sitzt jeder auf seinem Zimmer und schweigt. Nachts höre ich das Schaben von Kugelschreiber auf Papier. Sie tun es heimlich, so wie ich. Und doch öffnet keiner seine Tür, um mit den nackten Füßen in den Flur zu treten. Das geheime Leben der Nacht. Klickende Feuerzeuge, gurgelnde Heizkörper, unterdrückte Schluchzer. So mag es in den Gefangenenlagern dieser Welt klingen, wenn die Wächter schlafen gehen. Blechtassen, die gegen Gitterstäbe aus schwerem Stahl schlagen. Eine eingängige Melodie, fast ein Lied. Ganz Deutschland singt die Internationale.

Wachzuliegen, im Strudel all dieser verzweifelten Geräusche. Wie kann ich ihre Hilferufe ignorieren? Ohne mich selbst schuldig machen? Ich frage mich, wie frei einer ohne Gewissen wäre. Unglaublicher Schub, nun spüre ich es auch. Er hat recht.

Nun der Spiegel. Ich wische mir die Zweifel aus dem Gesicht, wie ich mir die Brauen gerade ziehe. Meine Sorgen waren unbegründet. Mein blütenweißer Kragen ist gestärkt von den Wehklagen der Nacht. Wie konnte ich nur an ihm zweifeln? Oder den Lehren, die er mir zwischen Butterbrot und Schwarztee schmackhaft machte? Draußen zwitschern die Vögel. Der Flur hat alle Klagen vergessen. Man könnte eine Stecknadel fallen lassen, niemand würde sie hören. Meine Mitbewohner schweigen.

Er hat mir versprochen, die Wohnung heute zu verlassen. Noch zweifle ich, doch er versicherte mir, das Tageslicht sei gnädiger als die Nacht. Ich vertraue ihm, weil ich sonst niemandem mehr vertrauen kann. Auch daran ist er schuld, doch seine Worte zerstreuen jeden Zweifel.

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